Theologie als Nachfolge
Itinerarium: Dynamik eines Weges
Das Itinerarium, die vielleicht am meisten gelesene Schrift Bonaventuras, zeigt einen Aufbau, der als solcher bereits Theologie der Welt im Sinne Bonaventuras ist. Dieser Aufbau, aufs erste schematisch wirkend, ist in jedem Glied und im Verhältnis der Glieder zueinander jedoch Weg, Steigerung, Geschehen. Ein „klassischer“ Dreischritt steht im Hintergrund: Die Welt ist Spur (vestigium), Bild (imago) und Ebenbild (similitudo) Gottes.1 Spur in allen, auch den materiellen Geschöpfen, Bild in den geistigen, Abbild in den gottförmigen, will sagen: von der Gnade durchformten Geschöpfen. Bonaventura greift diesen Dreischritt auf, verwandelt und steigert ihn aber im Itinerarium. Anknüpfungspunkt bietet ihm hier der von Augustinus am Schöpfungsbericht abgelesene Dreischritt: fiat (es werde), fecit (er ließ werden), factum est (es ward).2 Mit Augustinus interpretiert Bonaventura ihn auf das der Schöpfung vorgängige Eingeborgensein der Welt im Logos, im Wort, das in Gott und das Gott selber und das zugleich Urbild der Welt ist (fiat); auf das Gelichtet- und Mitvollzogenwerden der Schöpfung in der geistbegabten Kreatur, die sozusagen wahrnehmend, verdankend das Schöpfungswort nachzusprechen vermag (fecit); schließlich auf die in ihrem Bestand das Schöpfungswort fassende und wiedergebende Kreatur überhaupt, also auch auf das bloß Vorhandene, das nicht für sich, aber für den Menschen das Schöpfungswort nachspricht (factum est). Der Weg des Aufstiegs, den das Itinerarium durchmißt, setzt nun bei diesem bloß Gegebenen, dem materiellen Seienden an (vestigium, Spur), erhebt sich über das geistig Seiende, in dem Gott als solcher bewußt und offenbar wird und das sich in der gnadenhaften Teilnahme an Gott vollendet (imago, Bild), hin zu Gott selbst, [104] wie er von sich her, in seinem Licht sich uns erschließt als der Eine und Dreifaltige (lumen, Licht). Von den verschiedenen Positionen zu uns selbst her betrachtet: der Weg führt vom extra nos (außer uns) über das intra nos (in uns) zum supra nos (über uns).
Diese drei Stufen werden in jeweils zwei Kapiteln entfaltet, weil jede Stufe sowohl eine Stufe des Durchgangs als eine Stufe des Verweilens darstellt: des Durchgangs, weil durch diese Stufe Gott sich erschließt, des Verweilens, weil auf dieser Stufe, in ihr Gott sich finden läßt. Im 1. Kapitel geht es um die Erkenntnis Gottes durch seine Spur, also durch die Eigenschaften der Sinnendinge; das 2. Kapitel deckt Gott auf in dieser seiner Spur – merkwürdigerweise heißt das aber gerade: Das Verhältnis der Sinnendinge zu unserer Sinnlichkeit wird thematisiert, und in diesem Verhältnis wird die Anwesenheit Gottes aufgeschlossen. Das 3. Kapitel findet durch die Eigenschaften des Bildes, das wir selber sind, durch die Grundstruktur geistigen Seins hin zu Gott; das 4. Kapitel findet Gott vor in uns, in dem Bild Gottes, das wir sind, d. h. für Bonaventura aber: in der gnadenhaften Anwesenheit Gottes in unserem Innern, in seinem Eindringen durch die inneren Sinne in unser durch den Glauben erleuchtetes Herz. Das 5. Kapitel dringt durch das Licht über uns, in dem wir alles sehen, durch das Licht des Seins, vor zu seinem darin uns je schon einleuchtenden Grund, Gott dem Einen; das 6. Kapitel schließlich eröffnet in dem Licht, das Gott uns einsenkt, die innere Stimmigkeit der Botschaft vom dreifaltigen Gott, Trinität als das alles in sich befassende und zugleich entspringenlassende Urgeheimnis, auf das alle Erkenntnisse, die das Geschaffene vermittelt, hintendieren. Freilich wird Trinität nicht erst hier berührt; in jeder Phase des Weges ist das Letzte jeweils bereits das Hinlangen zum dreifaltigen Gott. Auf dem Niveau des 6. Kapitels gewährt dieser sich jedoch nicht mehr von außen, sondern von innen, von sich selbst her dem Denken. So bezeichnen nicht nur die drei anfangs genannten Stufen, sondern auch die Steigerung auf jeder Stufe einen Weg, und dieser Weg führt auf jeder Stufe bereits dorthin, wohin der Weg des [105] Ganzen am Ende führt. Dennoch ist der Weg des Ganzen eine Steigerung gegenüber dem Weg auf jeder Stufe. Das Eigentümlichste an solcher Dynamik bonaventuranischen Denkens: Nach dem 6. Kapitel folgt noch ein 7., das nicht Zusammenfassung, nicht geradlinige Weiterführung, sondern Abbruch, Umschwung bedeutet. Die letzte, alles andere integrierende Einung mit Gott, das Anlangen am Ziel ist nicht der höchste Schritt, den der Mensch von sich aus, wenn auch im Licht der göttlichen Gnade tun kann, sondern ein Schritt Gottes, der gerade im reinen Widerfahren, im reinen Sterben, in der Gleichgestaltung mit dem Gekreuzigten erreicht wird. Der Zusammenhang des Ganzen und die Steigerung, die diesen Zusammenhang beherrscht, müssen indessen nochmals abgehoben werden von der mehr bestandhaften Inhaltsangabe und der schematischen Gliederung. Im ersten Gang ist der unterschiedliche Charakter des „Durch“ und des „In“ auf jeder der drei Stufen kennzeichnend. Wenn Gott durch die Dinge, durch die Momente unseres Selbstbewußtseins, durch die Analyse des Seinslichtes auf den in ihm anwesenden Grund angegangen wird, so hat die Betrachtung hier jeweils eine erschließende Funktion: es zeigt sich etwas an den Dingen, am Selbstbewußtsein, am Seinslicht, das in sich steht und zugleich auf Gott verweist, wobei solcher Verweis im Sinne Bonaventuras zunehmend jedoch Evidenz, Notwendigkeit beansprucht. Wenn Gott in den Dingen, in unserem eigenen Innen, in seinem eigenen Licht aufgespürt und ausgelegt wird, so hat dies einen grundsätzlich anderen Charakter: es handelt sich hier jeweils um eine Weise von Teilhabe, von Partizipation. Zunächst wird, im 2. Kapitel, die Beziehentlichkeit zwischen Sinnending und menschlichem Erkennen aufgedeckt, die Partizipation von Gegenstand und Erkennen aneinander, und sodann wird dieses Partizipationsgefüge selbst als Partizipation an Gott ausgelegt. Im 4. Kapitel wird eine unmittelbare Partizipation an Gott durch seine gnadenhafte Anwesenheit in der Seele und ihren inneren Sinnen entfaltet. Schließlich wird im 6. Kapitel Gottes Innerstes selbst als Partizipation, als Sich-Teilgeben in sich selbst, als dreifaltiges Leben erhoben. [106] In einem zweiten Gang zeigt sich, wie nicht nur von Stufe zu Stufe und von einem Schritt zum anderen innerhalb einer jeden Stufe die Ebene der Betrachtung sich hebt, sondern wie alle sieben Kapitel eine einzige Spannung ständigen und konsequenten Anstiegs durchzieht. Im 1. Kapitel geht es um die Dinge in sich, im 2. um die Dinge in uns und somit bereits um uns selbst im Außer-uns, im 3. um uns in uns selbst, im 4. um Gott in uns, im 5. um Gott in sich – aber von außen, im 6. um Gott in sich – nunmehr von innen, im 7. um das vollendende, gegenseitige Innesein von Gott in uns und von uns in Gott.