Berufungspastoral um die Jahrtausendwende

Jahrhundert der Kirche – Jahrhundert der Trinität

Rücken wir scheinbar nochmals von diesem Grundthema, aber auch von einer Diagnose des allgemeinen Zeitbewußtseins ab und fragen wir hinein in das, was sich in der Kirche dieses Jahrhunderts begibt. Sollte ich einen einzigen Satz nennen, der mir kennzeichnend erscheint für den Kairos, für die Zeit der Kirche heute, dann wäre es der Schlußsatz der Nr. 4 der Dogmatischen Konstitution über die Kirche: „So erscheint die ganze Kirche als ‚das von der Einheit des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes her geeinte Volk’.“ Ein Satz, der zurückgreift ins dritte Jahrhundert – er ist der Vaterunser-Auslegung des heiligen Cyprian, genauer genommen seiner Erläuterung der Vergebungsbitte des Vaterunsers im Blick auf die Notwendigkeit gegenseitigen Vergebens entnommen.1 Dieser ursprüngliche Kontext ist bedeutsam auch für heute: Ist Kirche nicht gefordert als Raum einer neuen menschheitlichen Versöhnungsgeschichte? Können nicht ihre Weltaufgaben angesichts der gezeichneten großräumigen Situation zutiefst gerade in dieser Vaterunserbitte und ihrem Anspruch an uns verwurzelt werden?

Warum indessen setze ich dieses Wort so zentral an? Man spricht davon, daß unser Jahrhundert ein Jahrhundert der Kirche sei, das Wort Guardinis vom Erwachen der Kirche in den Seelen wird durch das Ereignis des Zweiten Vatikanischen Konzils mit seinem Schwerpunkt in der neuen Sicht der Kirche gerechtfertigt, und auch die trotz aller Mühen und Nöte den Atem des Geistes verratende ökumenische Bewegung unseres Jahrhunderts weist in dieselbe Richtung. Kirche hat noch nie soviel Bedrängnis, soviel Widerspruch, Auszug, Gleichgültigkeit wie heute erlebt. Und doch rückt sie zugleich immer neu in die Mitte der Erwartungen, des Interesses, des Kampfes der Geister. Warum? Zuletzt wohl deshalb, weil in ihr eine alternative Einheit gegenüber jenen oben gezeichneten Formen subjektiver und systematischer Einheit der Neuzeit aufscheint.

Dies bestätigt sich für mich durch eine andere Beobachtung. In der Theologie und in der Pastoral war es und ist es zum Teil noch gang und gäbe, vom anthropologischen Ansatz zu sprechen, die Situation und Befindlichkeit des Menschen zum Ausgangspunkt zu nehmen, um die Botschaft verstehbar und vollziehbar werden zu lassen. Es ist eine späte, in manchen Gestalten verspätete Einholung dessen im Gang, was sozusagen durch die geistesgeschichtliche Umorientierung der Neuzeit von der Tradition zum Subjekt fällig war. Doch es ist interessant, daß solche Umorientierung auf einen „anthropologischen Ansatz“ Widerspruch nicht nur seitens derer herausfordert, die auf frühere Denkmuster der Tradition zurückgreifen. Es gibt, der Tradition durchaus entsprechend, aber keineswegs aus ihr allein geboren, zunehmend einen anderen korrektiven Zug gegenüber dem anthropologischen Ansatz in der Theologie. Ein vergessenes Dogma, ein als lebensfern abgetanes Dogma erregt die Gemüter: die Trinität. Daß Gottes Einheit anders ist als jene, die nur vom allmächtigen Ich oder Es ausgeht, daß Gott Liebe ist, Sich-Schenken, das sich nicht in einer einzigen Person schließt, sondern in der dreifalti- [10] gen Beziehung, erweckt vielfältig neue Nachdenklichkeit. Zwischen von Balthasar und Moltmann wären da recht verschiedenartige Ansätze und Spielarten zu nennen.

Was bedeutet dies in unserem Zusammenhang? Daß Ichsagen Dusagen, daß Dusagen Wirsagen heißt, daß die höchste Einheit in der sich mitteilenden Hingabe und deren verdankender Rückgabe geschieht – ist diese nie geleugnete und oft auch in großen Gedanken angerührte Grundbotschaft von dem so anderen Gott Jesu Christi wirklich schon angekommen in unserem gängigen Bewußtsein? Hat sie unser Denken, Sehen und Verhalten geprägt? Steht hier nicht etwas an, was hineinwirken könnte in unsere Weise, uns zu uns selbst, zu den anderen, zur Welt zu verhalten? Die neue Aufmerksamkeit, die das dreifaltige Geheimnis Gottes im Denken erweckt, die der Gott erweckt, der sich als Liebe offenbart, ist kein bloß binnentheologisches Interesse, sondern auch Aufmerksamkeit auf die Grundverfassung und die Grundproblematik unserer Epoche. Wie noch kaum einmal kann aus der Mitte christlicher Botschaft Wegweisung für die geistige Grundsituation der Welt erwartet werden. Ob die Gedanken, die den Gang der Welt prägen, sich solcher Botschaft öffnen, das läßt sich nicht im vorhinein sagen. Aber ich bin überzeugt, der Auftrag für uns zeichnet sich ab: In die Situation auf die Jahrtausendwende zu haben wir diese Botschaft vom dreifaltigen Gott einzubringen, nicht nur indem wir sie in sich verkündigen, sondern indem wir von ihr aus eine neue Sicht des Seins und Menschseins gewinnen und diese Sicht leben. Kirche ist nicht interessant als diese Institution – die sie unabdingbar sein muß –, sondern als die Communio, die eins ist und so Einheit bezeugt, wie Vater und Sohn eins sind (vgl. Joh 17,21–23): „aus der Einheit des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes geeintes Volk“.


  1. Cyprian: De oratione Dominica, 23. ↩︎