Wegmarken der Einheit
Jesu Botschaft: Botschaft der Einheit
Jesus tritt auf und predigt: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15). Knapper läßt sich Jesu Botschaft nicht zusammenfassen als in diesem Vers des Markusevangeliums. Der Inhalt seiner Predigt ist die Herrschaft Gottes, das Reich Gottes. Was heißt das? Gott wendet sich dem Menschen zu, Gott tritt aus seiner Distanz, Gott greift hinein in die Geschichte der Menschheit, die sich von ihm entfernt hat. Der Weg ist ganz gewiß die Glaubensentscheidung des einzelnen, seine ganz persönliche Zukehr zur rettenden Botschaft Jesu. Aber diese Botschaft ergeht an alle, und was Jesus ansagt, ist nicht nur eine individuelle Heilserfahrung und Heilsverheißung, die dann auch mit Auflagen für das gegenseitige Verhalten verbunden wäre. Nein, Geschichte, Welt, Zeit, Gemeinschaft werden anders, weil Gott „öffentlich“ in Jesus diese seine neue [22] Nähe ansagt. Ein Reich, das ist immer etwas, das den bloß individualen Bezirk übersteigt; es ist etwas Allgemeines, Reich lebt nur in der Gemeinschaft. So ist die Bekehrungsbotschaft Jesu zunächst dem Volk Israel angeboten; doch indem das Volk Israel unmittelbar und als Ganzes dieses Angebot nicht annimmt, wächst der Bund über das Volk hinaus, wird das neue Gottesvolk aus allen Völkern gesammelt. Die ersten Geschichten, die uns nach der Bergpredigt Jesu bei Matthäus erzählt werden und die sozusagen einen für Jesu Auftreten programmatischen Stellenwert haben, weisen in die Richtung der neuen Einheit: Der Aussätzige, der bislang ausgeschlossen war, wird durch die Heilung wieder einbezogen in die Gemeinschaft des Volkes (Mt 8,1–4); der Glaube des heidnischen Hauptmanns ist Fanal dafür, daß Gott Menschen aus anderen Völkern, Menschen von den Enden der Erde in sein Reich hineinruft (Mt 8,5–13).
Auch der Nachfolgeruf selbst hat von allem Anfang an untrennbar zwei Seiten zugleich: Einmal ist jeder zu einer unvertretbaren, persönlichen Entscheidung für Jesus herausgefordert – aber diese Nachfolge führt ihn hinein in die Jüngergemeinschaft. Alles verlassen, alles zur Disposition stellen für Jesus um des Gottesreiches willen, dies ist gewiß die Vorbedingung. Aber ihre unausweichliche Konsequenz ist zum anderen: gegenseitiges Dienen, Zurückstellen der eigenen Ansprüche und Erwartungen, bevorzugt zu werden (bes. Mk 9,33–37; 10,35–45).
Schließlich erwählt Jesus aus der Zahl der Jünger die Zwölf. Sie sind die Stammväter des neuen, umfassenden Gottesvolkes. Dem Reich entspricht das Volk, die Gemeinschaft in derselben Sendung (Mk 3,13–19). Die Aussendung der Zwölf (Lk 9,1–6) wird aufgegriffen in der Aussendung 72 anderer Jünger (Lk 10,1–16), die je zu zweit, je in Gemeinschaft hinausziehen.
Einheit ist also nicht in erster Linie ein Einzelinhalt der [23] Predigt Jesu neben anderen, sondern das Grundthema selber: Reich Gottes. Und daß es hier um die Einheit geht, wird sichtbar in der Konstitution des Apostelkollegiums als Anfang des neuen Gottesvolkes und in dem, was Jesus gerade den Jüngern als Jüngern, den Aposteln als Aposteln aufträgt: Gemeinschaft sein, Gemeinschaft stiften. Wenn dann Johannes uns Jesus als den Gotteshirten vorstellt, in welchem Jahwe als der Hirt seines Volkes am Werk ist und sein zersprengtes Volk sammelt (Joh 10, bes. 10,16; auch 11,52), und wenn weiter Johannes als die Magna Charta der Jüngerschaft das Neue Gebot der gegenseitigen Liebe überliefert (Joh 13,31–35), so ist darin nur verdichtet und zusammengefaßt, was uns auch die synoptischen Evangelisten bezeugen.