Berufung

Jesu Geschichte ist Rufgeschichte

Alle Linien menschlicher Rufgeschichte laufen zusammen in einem Punkt: in jenem absoluten Zwischen, das uns als der Ort des Gekreuzigten und Auferstandenen, als der Ort des Paschageheimnisses begegnete. Nach dem Hebräerbrief spricht Jesus bei seinem Eintritt in die Welt: „Schlacht- und Speiseopfer hast du nicht gefordert, doch einen Leib hast du mir geschaffen; an Brand- und Sündopfern hast du kein Gefallen. Da sagte ich: Ja, ich komme – so steht es über mich in der Schriftrolle –, um deinen Willen, Gott, zu tun“ (Hebr 10,5–7; vgl. Ps 40,7–9). Jesu Existenz ist vom innersten Anfang bis zur äußersten Vollendung verdichtete, in ihre Radikalität hinein erhobene Rufgeschichte. In der Buchstäblichkeit seines Lebens wie in der theologischen Deutung, welche es im Neuen Testament selbst gewinnt, ist er, der Gesalbte und Gesandte, der vom Vater Gerufene und ihn Rufende, schlechterdings der Arme. Er läßt seine Gottesherrlichkeit und entäußert sich (Phil 2,6f); er, der reich war, ist unseretwillen arm geworden (2 Kor 8,9). Er ertastet sein Leben Augenblick für Augenblick aus dem Willen des Vaters, er ist der „Gehorsame bis zum Tod“ (vgl. Phil 2,8) schlechthin. In ihm ist der göttliche Bräutigam da, der seinem [33] Volk Hochzeit hält und mit seinem Blut am Kreuz sich seine Braut erwirbt und Vater der Vielen wird (Joh 1,36; 2,19–21; Eph 5,2; 2 Kor 11,2). Er ist als Auferweckter der Erstgeborene von vielen Brüdern (Rom 8,29).

Doch diese Lebens- und Wirkgeschichte Jesu und ihre elementare Deutung in der neutestamentlichen Theologie stellen nicht nur eine Steigerung, einen Komparativ zu allen anderen Rufgeschichten dar. In Jesu Rufgeschichte geschieht Erfüllung und Umkehrung, Umkehrung als Erfüllung aller anderen Rufgeschichten. Denn der da den Ruf Gottes bis ins Innerste und Äußerste hinein lebt und erfüllt, er ist nicht nur der Gerufene, nicht nur der Antwortende, sondern er ist der Ruf, er ist das Wort selbst. In ihm ist alles geschaffen (vgl. Joh 1,3). In ihm ist der Mensch gemeint und gerufen. Er ist es, der Plan und Urbild der Schöpfung, des Menschen, der Geschichte ist.

Er ist nicht nur der Logos, das Wort Gottes im Sinn der ewig in sich ruhenden Vollkommenheit des sich in ihm beschauenden und besitzenden Gottes, er ist zugleich die Öffnung nach außen, er ist Wort als Antwort in Gott und Ruf Gottes über Gott hinaus, Ruf, der uns sein läßt und unser Sein trägt, bemißt, vollendet.

Das Wort ist Fleisch geworden, das heißt: der Ruf ist Fleisch geworden, der Ruf ist Antwort, menschliche Antwort geworden. Ja, Jesu Leben und Sterben ist ganz unsere Geschichte. Er hat uns übernommen, trägt uns, er gibt von uns her, aus einem menschlichen Herzen, die Antwort, die wir nicht gegeben haben. Aber er kann sie nur wahrhaft an unserer Stelle geben, weil in ihm diese unsere Freiheit geschaffen und getragen ist. Keiner kann unsere Freiheit von innen her verwandeln als nur der, der sie ins Dasein, in die Freiheit gerufen hat. In seinem Kreuz erstrahlt der Ruf in seiner dreifältigen Richtung: Ruf nach außen, in die Welt; Ruf empor, zum Vater; Ruf in die Mitte, zur Gemeinschaft.