Wegmarken der Einheit
Jesus im kirchlichen Amt – Ärgernis und Geschenk
Es ist gewiß ein besonderes Licht und ein besonderer Antrieb des Geistes für unsere Zeit, daß so viele Menschen, gerade auch junge Menschen, wieder die Gestalt Jesu lieben lernen. Das Evangelium, die Weise Jesu, vom Vater zu sprechen und sich über den niedrigen und kleinen Menschen mit ganzer Liebe zu beugen, wirkt für den Menschen von heute, der sich so oft vaterlos, ungeliebt, entfremdet, versklavt und abgeschrieben fühlt, ungemein anziehend. Daß dieser Jesus uns in jedem Nächsten begegnet und daß wir durch sein Wort lebendigen Kontakt mit ihm haben können, daß er tiefer inwendig als unser Innerstes in uns leben will und auch daß er dort zugegen sein will, wo wir uns in seinem Namen versammeln, dies spricht die Menschen an, das erscheint wie die unmittelbare Nähe seines Geheimnisses zu uns. Bereits ein ganzes Stück schwieriger wird es manchen, Jesus in der heiligsten Eucharistie anzunehmen. Das Ärgernis des Wortes Jesu bleibt: „… mein Fleisch essen und mein Blut trinken“ (vgl. Joh 6,53). Freilich, wer mit diesem Jesus zu leben anfängt, der fängt auch an zu verstehen, warum er sich bis zu Brot und Wein, bis zu Speise und Trank entäußert, um sich ganz mitzuteilen und uns ganz zu durchdringen.
Doch ein anderes Ärgernis ist noch größer als jenes von Brot [97] und Wein, in denen der Herr sich gibt: das Ärgernis des Menschen, der beansprucht, im Namen des Herrn zu den anderen Menschen zu kommen, ihnen verbindlich seine Wahrheit und seinen Willen auszulegen, sein Heilshandeln in seinem Wirken gegenwärtig zu setzen. Unter den Quellen, aus denen wir die Gegenwart Jesu hier und jetzt empfangen – Jesus im Wort, im Sakrament, im Bruder, in mir selbst, in unserer Mitte, in der Eucharistie, im Amt der Kirche, ist die letztgenannte jene, zu der gerade die Menschen von heute am schwersten Zugang finden.
Wir kennen die Einwände, die immer wieder erhoben werden: Mit der Berufung auf göttliche Vollmacht werde menschlicher Machtwille verbrämt; der Geist Gottes werde in eine institutionelle Vollmacht gebannt, die zur Herrschaft des Menschen über den Menschen führe; die Gleichheit aller werde verletzt, indem nicht das ganze Volk Gottes als apostolisch in der Nachfolge der Apostel gesehen wird, sondern einzelne als Nachfolger der Apostel gelten; man berufe sich auf spätere Schichten der Schrift, in denen bereits die ursprüngliche Botschaft Jesu von kirchlichen Machtinteressen überfremdet sei. Die Bedenken, die gegen die konstitutive Bedeutung der Hierarchie für die Kirche, gegen eine göttliche Vollmacht in ihren Amtsträgern erhoben werden, verdichten sich zu der einen Frage: Wenn Menschen durch ihre besondere Sendung und Vollmacht Jesus Christus an die anderen vermitteln, schieben sie sich dann nicht zwischen Jesus und die anderen, bleibt dann Jesus noch der einzige Mittler?
Ich habe bei Chiara Lubich einen Satz gefunden, der die Antwort knapp zusammenfaßt: „Jesus ist der einzige Mittler zwischen Gott und Mensch. Die Hierarchie ist nicht Mittlerin, sondern ist Sakrament, sichtbares Zeichen der einzigen Mittlerschaft Jesu. Die Bischöfe manifestieren Jesus, den Mittler“ (Chiara Lubich, Uomini al servizio di tutti, S. 135; vgl. Im Dienst an allen, S. 103).
[98] Sinn der Sendung von Menschen durch Jesus, damit sie seine Sendung weitertragen zu den Menschen, ist es also, daß sie gerade den sichtbar machen, welcher der einzige Mittler ist. Er, der einzige, bedient sich der Menschen, um den Menschen nur um so näher zu sein. Die Konsequenz heißt freilich: Nur dann, wenn wir durchsichtig sind für Jesus als den einzigen Mittler, wird er von den anderen als dieser einzige Mittler gesehen und verstanden. Es hängt also von unserer Weise, wie wir die Mittlerschaft Jesu repräsentieren, entscheidend ab, ob und wie diese Mittlerschaft bei den Menschen „ankommt“. Freilich ist diese Abhängigkeit von unserem Verhalten nur die eine Seite. Entscheidender ist noch die andere. Er selber will uns nahe sein, und gerade weil er der einzige Mittler ist, vollbringt er diese Nähe unabhängig von uns, über unsere Kräfte und unser Wollen hinaus. Er, sein Geist, den er im Weihesakrament uns verleiht, konstituiert die Gültigkeit des Zeichens, das wir sind. Er ist stärker in uns als wir. Gerade so ist er der einzige Mittler – wäre er ausschließlich abhängig von uns, von unserer Weise, die uns anvertraute Aufgabe gut oder schlecht zu erfüllen, dann wären eben doch wir die Mittler. Aber sein Geist löscht unsere Freiheit und ihre Wirkung nicht aus, sondern bedient sich ihrer, und so hängt es auch von unserer Antwort auf die uns gegebene Gabe und Gnade des Geistes ab, in welchem Maße das Sakrament, das er uns schenkt und das wir „sind“, seine Wirkmacht entfaltet.
Es bleibt freilich die Frage, weshalb sich Gott gerade auf ein so gebrechliches und gefährdetes Zeichen wie die menschliche Existenz eingelassen hat, um sein Mittlersein den Menschen zu bekunden. Sicherlich hätte Gott ungezählter Weisen sich bedienen können, um das Heil des Menschen zu wirken. Er hat die eine Weise, die der größten Liebe gewählt: Sein Sohn wurde für uns Mensch. Und so ist es im Heilsplan Gottes eben der Mensch, durch den Gottes Heil zum Menschen kommt. Gott sendet seinen Sohn als Mensch in die Welt, und dies ist [99] schon im Auftreten Jesu das Ärgernis schlechthin: Was soll der uns zu sagen haben, dessen Familie wir kennen, der unter uns gelebt hat, der doch einer ist wie wir? Was gibt ihm das Recht, in der Vollmacht Gottes zu uns zu sprechen? (vgl. Mk 6,1–6). Aber gerade in diesem Ärgernis zeigt doch Gott, wie nahe er uns sein will, wie ganz er sich uns geben will; was uns am menschgewordenen Sohn Gottes erschreckt, ist das Übermaß der Liebe und Nähe des sich entäußernden Gottes.
Und so ist es im Grunde „logisch“, logisch in der Ordnung der Liebe, daß diese Selbsthingabe, diese schockierende Nähe Gottes in der Gestalt von zwei Sakramenten sich fortsetzt und mitteilt in die Geschichte hinein. Einmal in der Gestalt des Brotes und Weines, zum andern im Weihesakrament. Auf die eine Weise sind Brot und Wein das äußerste Zeichen der Selbsthingabe, der Selbstentäußerung Gottes: Gott wird zur Speise und zum Trank, zur „Sache“. Auf die andere Weise ist es das äußerste Zeichen dieser Hingabe und Entäußerung, daß Gott sich in Wort und Wirken von Menschen den anderen Menschen eröffnet und mitteilt, daß er Menschen die Sendung seines Sohnes für die Kirche anvertraut. Denn Brot und Wein sind gefügige Zeichen, das Sakrament ist vollständig, wenn Brot und Wein verwandelt und dem Menschen zum Empfang angeboten werden. Daß Gott sich aber der gefährdeten Freiheit des Menschen ausliefert, um durch ihn in die Welt hineingetragen und in ihr repräsentiert zu werden, dies ist äußerste Auslieferung und Erniedrigung Gottes. Wir müssen also Eucharistie und Weihesakrament zusammensehen, um die ganze Liebe und die ganze Selbstlosigkeit dessen zu ermessen, der sich wirklich bis zum letzten für uns dahingegeben hat. Hier erklärt sich auch, weshalb das Weihesakrament und das Sakrament der Eucharistie unabdingbar aufeinander bezogen sind. Jesus gibt uns, daß er der für uns Hingegebene ist: Sakrament der Eucharistie. Jesus gibt uns aber auch, daß er als Gebender in uns wirkt: Weihesakrament.
[100] Der Zusammenhang zwischen Eucharistie und Weihesakrament reicht über den Dienst des Bischofs hinaus, bezieht das Weihepriestertum insgesamt mit ein. Doch auch das Spezifische bischöflichen Dienstes tritt an der Eucharistie ins Licht. In ihr wird Ursprung und höchste Vollendung jener Einheit gegenwärtig, welche die Kirche zum Leib des Herrn, zur „Eucharistie für die Welt“ macht. So darf Eucharistie nur in Einheit mit dem Bischof gefeiert werden, der kraft der apostolischen Sukzession – von ihr wird noch zu handeln sein – „her kommt“ aus der schenkenden Gebärde des Herrn im Abendmahlssaal: „Nehmet hin …“ Und der Dienst des Bischofs insgesamt muß zutiefst eucharistisch gedeutet werden: Er bringt den sich hingebenden Herrn ins Leben der Kirche ein, damit sie aus vielen Gliedern mit ihren vielen Gaben und Diensten zum einen Leib des Herrn wachse, eins in sich und so Zeugnis, ja Brot für die Welt.
Das also ist unser Geheimnis, das Geheimnis Jesu in uns: Es ist das Geheimnis seiner je größeren Liebe, das Geheimnis seines Ratschlusses, sich bis zum äußersten uns zu schenken und sich darin uns anzuvertrauen, um durch uns zu wirken und gegenwärtig zu werden.