Wegmarken der Einheit

Jesus in unserer Mitte – Erfüllung menschlichen Daseins und menschlicher Gemeinschaft

[56] Im Jahre 1976 veröffentlichte Karol Kardinal Wojtyla einen Aufsatz „Person: Subjekt und Gemeinschaft“ (deutsch in: K. Kardinal Wojtyla, A. Szostek, T. Styczén, Der Streit um den Menschen, Kevelaer 1979, S. 13–68). Er verweist darin auf die Besonderheit der Wir-Beziehung im Unterschied zur Ich-Du-Beziehung. „Die Wir-Gemeinschaft ist jene Form des menschlichen Plurals, in der die Person sich in höchstem Maß als Subjekt verwirklicht“ (a.a.O., S. 54).

Geben wir seinen Gesamtgedanken in der Zuspitzung auf unsere Fragestellung wieder. Menschliche Person wird nicht erst durch das, was sie selber tut, zur Person, sondern sie ist sich selbst vorgegeben in einer ihr unverfügbaren Würde, in einem ihr unverfügbaren Rang des Seins. Nichtsdestoweniger besteht der Rang ihres Seins, besteht ihre Würde gerade darin, sich überschreiten (transzendieren) zu können, sich selber zu vollbringen, und zwar in Beziehung auf andere Personen. Nun reicht Gemeinschaft, reicht das „Wir“ über das gegenseitige Verhältnis eines Ich zu einem Du hinaus. Es geht mehreren menschlichen Personen darum, gemeinsam etwas zu verwirklichen, in dem sie mehr als nur sich selber finden und so gerade sich selber finden. Es geht ihnen um ein gemeinsames Gut, das so groß und so wichtig ist, daß sie um dieses Gutes willen ihre eigenen Wünsche und Ansprüche relativieren und in ein gemeinsames Handeln eintreten. Dieses gemeinsame Gut muß freilich so beschaffen sein, daß es die Personwürde des einzelnen nicht beeinträchtigt, daß es wirklich ein Gut für jeden innerhalb dieser Gemeinschaft ist. Es muß ihr ihnen gemeinsam Gutes sein, das, was ihnen miteinander und zugleich jedem einzelnen entspricht, jenes eben, in dem sie sich selber und das, was größer ist als sie selbst, finden können.

Im gemeinsamen Handeln innerhalb der Geschichte wird [57] der einzelne oft bewußt und gewollt oder unbewußt und wider Willen in den Zusammenhang eines Strebens nach Gütern gespannt, die nicht wahrhaft die seinen und nicht wahrhaft die des gemeinsamen Interesses sind. Hier erfährt er sich als sich selbst entfremdet. Vermassung und individuelle Vereinzelung sind Verfehlungen der wahren Gemeinschaft. Aber auch Streben nach einem Gut, das nicht zugleich in Einklang zwischen dem Interesse aller und dem Interesse des einzelnen liegt, führt zur Entfremdung des Menschen. Die entscheidende Frage ist jeweils: Worin liegt das wahre gemeinsame Gut einer Gemeinschaft? Wie kann es so angestrebt werden, daß alle und jeder einzelne sich in dem Streben nach diesem Gut, im Erreichen dieses Gutes realisieren können?

Lesen wir diesen Gedanken des Papstes nun im Licht seiner Enzyklika Redemptor hominis. Wir können nicht die Fülle der anthropologischen Aussagen dieses Lehrschreibens entfalten, die immer wieder dieses eine umkreisen: Der Mensch muß Jesus Christus finden, um in ihm sich selber zu finden (vgl. z. B. Nr. 10). Jeder einzelne kann sich in Jesus Christus wiederbegegnen, zugleich aber können wir alle in ihm einander begegnen; denn – immer wieder spielt der Papst in seinen Äußerungen auf diesen Text aus Gaudium et spes 22 an – der Sohn Gottes hat sich durch seine Menschwerdung gleichsam mit jedem Menschen verbunden (vgl. Redemptor hominis 8; 13). Es gibt einen Menschen, der jeden Menschen in sich trägt, so daß jeder Mensch sich in ihm selber finden kann.

Heißt dies in letzter Konsequenz nicht: Das „gemeinsame Gut“ aller Menschen ist Jesus Christus selber? Er ist ihr Erlöser, er ihr Heil. Wer sich selber verläßt, um ihm zu folgen, der findet sich allererst, der findet aber auch über sich selbst hinaus zu seinem anderen, weil in Jesus Christus das innerste Geheimnis eines jeden Menschen geborgen und seine äußerste Not angenommen, verwandelt, geheilt ist. Wahre Gemeinschaft besteht also darin, jene Gemeinsamkeit zu leben, die [58] uns in Jesus Christus bereits geschenkt ist, jenes Zusammengehören zu verwirklichen, das Jesus in seiner Menschwerdung gestiftet hat. Jesus Christus das gemeinsame Gut, in dem alle Menschen und alle Arten menschlicher Gemeinschaft zu ihrer Erfüllung kommen! Dieses Gut ist aber nicht nur eine Idee, nicht nur ein „gemeinsamer Nenner“ für unterschiedliche Interessen, Aktionen, Vorstellungen, sondern er, eine lebendige Person, ist jemand, der lebt. Wenn wir mit ihm in allem übereinstimmen, so daß darin zugleich innerhalb unseres konkreten geschichtlichen Lebens Übereinstimmung zwischen uns erreicht wird, dann verwirklichen wir die Wahrheit, daß er unser gemeinsames Gut ist. Indem wir diese Wahrheit aber verwirklichen, tritt er – so entspricht es der Logik seiner Menschwerdung, seines Seinwollens und Bleibenwollens bei uns – als der Lebendige in unsere Mitte. Die Verheißung Mt 18,20 enthüllt sich als der Weg, wie unser menschliches gemeinsames Handeln und Leben sein Ziel, seine Erfüllung erreicht. Unser menschliches Wirken tritt in eine innere „Symphonie“, in einen inneren Einklang mit dem Plan und Willen Gottes, wir verstehen aufs neue, wieso Gott dort, wo wir einmütig ihn um etwas bitten im Namen Jesu, es uns zu schenken vermag. Das Leben mit dem lebendigen Herrn in unserer Mitte ist in der Tat Kriterium dafür, ob wir – in der Familie, am Arbeitsplatz, in der Freizeit, in der Freundschaft, zumal aber in unserem Leben und Wirken als Kirche – so zusammen sind, daß wir in der „Entfremdung“ bleiben, oder aber, daß wir zur Erfüllung kommen. Die konkrete Erfüllung ist dies: Der lebendige Herr ist in unserer Mitte und kann für uns und durch uns das wirken, was er hier und jetzt wirken will. – Geschichte als Weg des Menschen zu seiner Erfüllung, als Weg des einzelnen und der Gemeinschaft zielt so hin auf Jesus Christus, der in der Mitte der Gemeinschaft lebt.