Wegmarken der Einheit

Jesus in unserer Mitte – Frucht des Paschamysteriums

[59] Es ist zunächst eine Wahrheit auf der Ebene des Seins, daß die Erfüllung eines jeden einzelnen und die Erfüllung aller Menschen gemeinsam das unbedingte Gute, Gott selber ist. Und wenn wir in Anschlag bringen, daß im göttlichen Logos alles erschaffen ist, daß in ihm alle Menschen und alle Dinge ihre wahre Identität, ihre ursprüngliche Idee finden, dann versteht sich von selbst: Er ist der Konvergenzpunkt alles individuellen und sozialen Strebens der Menschen. Aber diese „Wahrheit an sich“ ist konkret, ist geschichtlich geworden in der Menschwerdung des Logos. Er hat die unendliche Distanz zwischen Gott und dem Menschen überwunden, indem er sich auf unsere Ebene stellte, unser Menschsein annahm. Und – gerade darauf weist im Rückgriff auf das Konzil Johannes Paul II. hin – im einen, einzelnen Menschenschicksal, das Jesus annahm, hat er unser aller Schicksal in sich hinein genommen.

Es gibt nun für jeden einzelnen Menschen und auch für uns gemeinsam einen Weg, um zu dieser Identität, zu dieser Erfüllung zu kommen. Es kann kein anderer Weg sein als eben der Weg Jesu selbst. Wir müssen uns fragen: Wohin hat ihn die Liebe geführt, die ihn, gehorsam dem Willen des Vaters, dazu trieb, unser konkretes, erreichbares, uns nahes „gemeinsames Gut“ zu werden? Wir kennen die Antwort. In der Menschwerdung des Sohnes Gottes hat sich nicht nur die Idee eines jeden einzelnen Menschen, der göttliche Schöpfungsentwurf, der dem Menschsein eines jeden einzelnen der Milliarden Menschen zugrunde liegt, in unsere Lebenswelt hineinbegeben; Jesus Christus hat die Last aller Menschen, das Schicksal eines jeden Menschen, die Schuld eines jeden Menschen auf sich genommen, hat auch meine Endlichkeit, mein Scheitern und Versagen bis hin zur Gottverlassenheit auf sich geladen und durchlitten. Weil Jesus mich bis in meine Schuld und in [60] meinen Tod hinein lieben wollte, hat er sich für mich zur „Sünde“ gemacht (vgl. 2 Kor 5,21), ist er für mich gestorben. Die Liebe Gottes hat nicht nur das, was als Möglichkeit, als Idee in Gottes eigenem Leben seit Ewigkeit innesteht, wirklich werden lassen in der Schöpfung, ich bin nicht nur aus Liebe geschaffen nach Gottes Bild und Gleichnis, sondern diese Liebe geht bis zum Äußersten. Diese Liebe führt Jesus dazu, Mensch zu werden wie ich, mehr noch: zu sterben wie ich, meinen Tod zu sterben.

Und doch ist diese Liebe das einzig wahre Leben. Sie ist stärker als der Tod, sie allein vermag die Schuld und den Tod von innen her zu verwandeln. Daher ist das Geheimnis der Liebe bis zum letzten nicht nur Geheimnis der Liebe bis zum Tod, sondern der Liebe bis zum Leben, zum neuen, österlichen Leben. Dieselbe Liebe, die den Herrn in den Karfreitag führt, führt ihn in den Ostermorgen. Der für uns Gestorbene ist der Auferweckte, der nun für immer lebt: beim Vater und bei uns. So geht aus dem Tod Jesu nicht nur eine Heilsfrucht hervor, die er uns verdient hat, nicht nur ein Leben, das er uns erschlossen hat, sondern er selbst als der Lebendige.

Der Weg, um mit ihm als dem Lebendigen zu leben, ist das Mitgehen mit seiner Liebe bis zum Tod. Jesu symphonein, sein Übereinstimmen mit dem Vater und mit uns, geschieht in der radikalen Auslieferung bis ans Kreuz, es bedeutet ganze Schicksalsgemeinschaft mit uns bis in Tod und Verlassenheit. Dann aber gewinnt für unseren Weg zu Jesus in unserer Mitte jenes „Wie“ des Neuen Gebotes zentrale Bedeutung: Liebt einander, wie ich euch geliebt habe. Gegenwart Jesu in der Mitte ist Gegenwart durch den Tod Jesu hindurch. Sein Sterben will die Kraft, aber auch das Maß unserer Liebe zueinander und unserer Übereinstimmung mit dem Willen Gottes werden.

Was heißt das konkret? Es heißt: Wer danach strebt, Jesus in der Mitte mit anderen zu halten, der muß real damit rech- [61] nen, daß diese Gegenwart dort nicht gelingt, wo er seinen eigenen Willen nicht „tot sein läßt“ gegenüber dem Willen Gottes. Das alte Wort der Heiligen: „lieber sterben als sündigen“ gewinnt neue Aktualität. Es will nicht nur mein eigenes Vollkommenheitsstreben regeln, sondern es erhält eine „soziale“ Bedeutung, eine Bedeutung für das gelebte Miteinander von dir und mir. Ich habe in der gegenseitigen Liebe zwar immer den ersten Schritt zu tun; aber dieser erste Schritt besteht gerade darin, die Vorfahrt dir zu lassen, nicht dir mit meinem eigenen Willen und meiner eigenen Meinung hineinzureden, sondern bereit zu sein, mich und meine bloß eigenen Wünsche aufzugeben, um in die volle Einheit mit dir zu gelangen. Dabei entsteht eine eigentümliche Wehrlosigkeit. Ich selber vermag nämlich nicht derjenige zu sein, der es auf irgendeine Weise erzwingt, daß du diesen selben Schritt tust. Ich kann ihn nur selber tun in liebender Geduld, im nimmermüden Zugehen auf dich, in immer neuem Vergeben und immer neuer Bereitschaft, mir vergeben zu lassen. Gerade wenn dieses Maß Jesu mir als mein eigenes Maß deutlich vor Augen steht, werde ich mein Kleinsein erfahren. Aber auch diese Erfahrung, daß Jesu Liebe immer weiter drängt, daß ich sie nie ganz mit meiner Liebe eingeholt habe, wird ein Weg, um eben zu „sterben“, um nicht mehr selber in der Mitte zu stehen, sondern den Herrn in die Mitte, zwischen dich und mich zu lassen.

Lesen wir also das österliche Geheimnis, lesen wir die Todeshingabe Jesu, die ihn zur Auferweckung führt, als das, was sie sind: als Geheimnis und Vollzug der größten Liebe, über die hinaus es keine größere gibt. Das erste in dieser Liebe ist der Gehorsam gegen den Vater, der Gehorsam bis zum Tod. Weil der Vater es will, weil der Sohn den Vater unendlich liebt, weil er sich aus dieser Liebe eins macht mit des Vaters Liebe zu allen, deswegen nimmt Jesus den Tod für uns auf sich. Der Gehorsam gegen den Willen des Vaters, die scheinbare „Passi- [62] vität“ aber ist die höchste Aktivität, die äußerste Freiheit, jene eben, das eigene Leben zu geben, wie es hernach wieder zu nehmen (vgl. Joh 10,17). Voluntarie tradebatur, freiwillig wurde er ausgeliefert, wie uns im zweiten Hochgebet der Messe gesagt wird. Gehorsam gegen den Vater ist die Liebe jener Freiheit, die immer den ersten Schritt tut. Er hat sein Leben für uns hingegeben, hat uns darin zuerst geliebt (vgl. 1 Joh 4,11).

Diese Liebe ist Liebe bis zur letzten Konsequenz (vgl. Joh 13,1), eben Liebe bis zur Erniedrigung, zur Verlassenheit, zum Tod. Es ist Liebe der unbedingten Vergebungsbereitschaft (vgl. Lk 23,34). Aber Liebe bis zur letzten Konsequenz will nicht nur eine Aussage sein über die Intensität dieser Liebe, sondern auch über ihre Extensität. Jeder einzelne Mensch auf Erden kann sagen: Der Sohn Gottes hat mich geliebt und sich für mich hingegeben (vgl. Gal 2,20). Jesu Tod ist Tod für alle. Und schließlich ist diese Liebe nicht mehr nur eine Eigenschaft oder ein einzelner Zug an dem, der solche Liebe übt, sondern – so sehr Gottsein und Menschsein ungetrennt und unvermischt (indivise et inconfuse) in Jesus eins sind – die eine Formel für Jesu Gottsein und für Jesu Menschsein, wie sie sich in Jesu Todeshingabe erschließen, heißt: Liebe sein. Jesus ist ganz Liebe, indem er die Liebe bis zum äußersten uns erweist.

Das also ist die Botschaft des als Liebe gelesenen Paschamysteriums, die Kontur des gelebten Neuen Gebotes: Gehorsam gegen den Willen des Vaters, der bereit ist, ganz sein gelebtes Wort zu sein – Liebe als Freiheit zum je neuen ersten Schritt, Liebe bis zum Tod, Liebe, die immer vergibt – Liebe zu allen, ohne Grenze und Ausnahme – Liebe, die nicht mehr nur einzelne Eigenschaft ist, sondern Lebensform (nicht Liebe haben, sondern Liebe sein), Liebe also, die bereit ist, sich ganz eins zu machen mit dem Nächsten, und in der die Liebenden dennoch nicht ausgelöscht werden, sondern sich erfüllen. Wo zwei oder drei oder mehr Menschen in diese Lebensform der [63] Liebe eintreten, wo sie die in ihnen wirkende Liebe Gottes beantworten in ihrer gegenseitigen Beziehung, bis daß diese Merkmale an ihr ablesbar werden, dort vollziehen sie gemeinsam Jesu Liebe bis zum letzten, dort setzen sie in ihrem Miteinander den Tod Jesu gegenwärtig. Dies aber ist das Eigentümliche an Jesu Tod: Dieser Tod kann seit Ostern nicht mehr gegenwärtig werden, ohne daß auch sein Leben gegenwärtig wird. Wo zwei oder drei oder mehr eins werden in Jesu Liebe, dort ist er selber als der Lebendige gegenwärtig.

Es geht an dieser Stelle nicht darum, den Unterschied dieser Gegenwart Jesu zur eucharistischen Gegenwart auszufalten; daß die letztere ex opere operato erfolgt, also unabhängig von unserer Disposition, die Gegenwart Jesu in der Mitte hingegen vom Vollzug der sich in seinem Namen Versammelnden abhängt, haben wir bereits betont. Daß in der Eucharistie die Ordnung der Auferstehung unser Leben und unsere Leibhaftigkeit hineinwirkt, bleibt hinzuzufügen (vgl. Chiara Lubich, L'Eucaristia, S. 76–79; In Brot und Wein, S. 52–54); daß die Gegenwart Jesu in der Mitte sich aus der Eucharistie nährt und Eucharistie vorbereitet, Bedingung für die volle Entfaltung von Eucharistie ist, wurde ebenfalls bereits angedeutet. Hier aber schenkt sich uns die Erkenntnis: Die Gegenwart Jesu in der Eucharistie und die Gegenwart Jesu in der Mitte sind Frucht des vergegenwärtigten Todes Jesu, das Sterben Jesu aus Liebe für uns und seine lebendige Gegenwart lassen sich nicht voneinander trennen, weder im Sakrament noch im liebenden Vollzug von Gemeinschaft.

Eine weitere Erkenntnis: Beide Weisen der Gegenwart Jesu haben eine besondere Bedeutung für den Kosmos und die Geschichte. In der Eucharistie erschließt sich uns das kosmische Vergehen als der Weg jener Liebe, die in die österliche Herrlichkeit führt (vgl. ebd. S. 80–82 bzw. S. 50–56) – der uns diesen Weg vorausgegangen ist, der für uns gestorbene und auferstandene Herr, ist selbst leibhaftig gegenwärtig. In Jesu [64] Gegenwart in unserer Mitte wird ein Stück dieser Geschichte und dieser Welt, ein Stück menschlicher Gemeinschaft zum Raum, in dessen Mitte der Herr lebt. Geschichtlicher Lebensraum ist Zwischenraum zwischen den Menschen. Geschichte ist das, was zwischen Menschen geschieht. Wo Jesus aufgrund der gegenseitigen Liebe in der Mitte von Menschen gegenwärtig wird, da ist er selbst in der Geschichte anwesend, da macht er selbst, sozusagen von innen her, von der Geschichte selbst her, Geschichte.