Wegmarken der Einheit

Jesus in unserer Mitte – Frucht und Erfüllung der gegenseitigen Liebe

[52] Die Verheißung des Herrn: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,20) hat von Anfang an in der Fokolar-Bewegung eine entscheidende Rolle gespielt. Chiara Lubich bezeichnet sie für jedes Mitglied der Bewegung als „die Norm aller Normen“ (vgl. Chiara Lubich, Dove due o tre …, S. 17; Mitten unter ihnen, S. 9). Bei ihrer Zusammenschau der für das Fokolar kennzeichnenden Spiritualität bildet die Gegenwart Jesu in unserer Mitte den alles zur Synthese bringenden Schlußstein. In ihm vollendet sich der Weg der Liebe (vgl. Chiara Lubich, Tutti siano uno, S. 107-125; Einheit als Lebensstil, S. 75-87). Handelt es sich hier nur um eine Eigentümlichkeit der Fokolar-Bewegung? Handelt es sich nicht vielmehr um eine grundlegende Erkenntnis für eine kirchliche Spiritualität, Pastoral und Reform überhaupt? Kein Zweifel, die gegenseitige Liebe, wie Jesus uns geliebt hat, ist das Gebot Jesu, welches er das seine (vgl. Joh 15,12), das neue (vgl. Joh 13,34f) nennt. Gegenseitige Liebe, das ist die Forderung, die wir „vor allem“ und beständig zu erfüllen haben (vgl. 1 Petr 4,8), Summe und Zusammenfassung unserer Treue zum Willen Gottes (vgl. Röm 13,8ff; Gal 5,14). Wenn aber die Frucht und die Konsequenz der gegenseitigen Liebe darin besteht, daß Jesus selbst in der Mitte der sich Liebenden wohnt, dann kommt alles darauf an, daß immer und überall, wo Christen einander begegnen, der Herr seine Verheißung wahrmachen und selbst in ihrer Mitte zugegen sein kann.

An dieser Stelle liegt eine Rückfrage nahe. Beschränkt sich die Gegenwart Jesu in seiner Kirche, die er ihr für alle Tage bis [53] ans Ende der Zeiten verheißen hat (vgl. Mt 28,20), auf das Versammeltsein in seinem Namen, das – und diese These muß noch ausgewiesen werden – an die gegenseitige Liebe geknüpft ist? Gewiß nicht. Gerade in der Spiritualität des Fokolar spielt die Gegenwart Jesu in seinem Wort, in seinem Sakrament, in denen, die in seinem Namen und Auftrag Kirche leiten, eine elementare Rolle (vgl. z. B. Chiara Lubich, Dove due o tre …, S. 42f, besonders auch ihre Bücher Parola di vita, L'Eucaristia, Uomini al servizio di tutti; Leben aus dem Wort, In Brot und Wein, Im Dienst an allen).

Alle Gegenwart Jesu bei der Kirche ist zutiefst verankert im Geheimnis der Liebe. Weil er uns bis zum äußersten liebt (vgl. Joh 13,1), gibt er sich uns nicht nur über alles Maß unserer Liebe hinaus, sondern bleibt er auch bei uns über das Maß unserer Antwort und unserer Mitwirkung hinaus. Sicher, diese bleibt erforderlich, in der Verkündigung seines Wortes, in seinem sakramentalen Wirken, in seinem Beistand und seinem vollmächtigen Handeln bei der Lenkung der Kirche. Aber Wort, Sakrament und Amt sind Zeichen des Überschusses und der Vorgabe der Liebe Gottes zu uns über unsere Liebe hinaus. Doch es gehört auch zur „Auslieferung“ Jesu an uns, zum letzten Sich-Einlassen Jesu auf unsere Liebe, daß er unserem Versammeltsein in seiner Liebe die Vollmacht schenkt, seine Gegenwart herbeizurufen. Gott liebt uns unabhängig von unserer Antwort, und er macht sich zugleich abhängig von ihr – zwei Momente seiner einen Liebe. Der Herr ist bei seiner Kirche gegenwärtig durch sein eigenes Handeln in unserem Handeln, eben in der Bezeugung seines Wortes, im sakramentalen Wirken und im vollmächtigen Leitungsdienst; er ist aber auch gegenwärtig unter uns, wo wir um seinetwillen zusammenkommen, um seinetwillen mit ihm und miteinander übereinstimmen, seine Liebe in unserer Liebe spiegeln und beantworten.

Daß es gerade auf diese unsere Liebe bei der Gegenwart [54] Jesu gemäß der Verheißung in Mt 18,20 ankommt, dazu gibt der Textzusammenhang einen wichtigen Hinweis. Der Satz, daß Jesus mitten unter denen ist, die in seinem Namen versammelt sind, wird als Begründung einer anderen Verheißung angefügt: Einmütiges Bitten von auch nur zweien auf Erden in irgendeinem Anliegen wird sicher erhört werden (vgl. Mt 18,19). Die Initiative geht hier also einfach von den Menschen aus, die ein Anliegen haben. Sie haben es so, daß der Wille des einen mit dem anderen in voller Übereinstimmung steht (das griechische Wort heißt symphonein). Diese Übereinstimmung bringen sie ein in ihre Hinwendung zum Vater, und sie begründen sie in dem Vertrauen auf Jesus. Jesu Wort „stimmt“ sie zusammen, so daß sie eins sind miteinander und eins mit ihm, der sich in ihrer Mitte an den Vater wendet. Er aber empfängt immer, um was er bittet, weil sein Wille und der des Vaters schlechterdings übereinstimmen. Die Bittenden schwingen sich ein in diese Übereinstimmung des Willens des Sohnes mit dem des Vaters, und sie schwingen sich darin ein in ihre Einheit miteinander. Sie ist Vollendung der gegenseitigen Liebe. Diese Liebe selber ist es, die, zur Einheit vollendet, den Herrn in die Mitte der Liebenden ruft.

Der Unterschied der beiden Grundweisen von Gegenwart Jesu bei der Kirche, aber auch ihre wechselseitige Bezogenheit kann uns an folgendem Sachverhalt deutlich werden: Auch wenn der Verkündiger des Wortes diesem Wort nicht in Liebe voll entspricht, auch wenn der Spender eines Sakramentes nicht „würdig“ ist, auch wenn der Träger kirchlichen Amtes in seinem persönlichen Leben das nicht einlöst, was dieses Amt von ihm fordert, nimmt Jesus seine an das jeweilige Handeln gebundene Gegenwart nicht zurück. Wo aber zwei oder drei ihre Übereinstimmung mit dem Willen Gottes und miteinander, wo sie den Vollzug ihrer Liebe in ihrem Versammeltsein aufgäben, da käme die spezifische Gegenwart Jesu in ihrer Mitte nicht zustande. Worauf aber zielt Jesu Handeln im Wort, [55] im Sakrament und im Leitungsdienst der Kirche? Sicher auf das Heil des einzelnen, darin aber gerade auf das Wachstum der Liebe im einzelnen und zugleich auf die Auferbauung von Kirche zum Leben in der Liebe. Und wo können Wort, Sakrament und kirchlicher Leitungsdienst zu ihrer vollen Wirksamkeit, zu ihrer vollen Entfaltung gelangen? Dort, wo die gegenseitige Liebe herrscht. Man könnte also sagen: Jesus im Wort, im Sakrament und im Amt hat das Ziel, Jesus in der Mitte der in seinem Namen Versammelten zu nähren, zu stärken, zu erhalten. Und umgekehrt ist die Gegenwart Jesu in der Mitte der in seinem Namen Versammelten die beste Gewähr, daß die Gegenwart Jesu in seinem Wort, in seinem Sakrament, im Amt der Kirche alles das zu wirken und zu schenken vermag, woraufhin sie angelegt ist. So bestätigt sich in einem anfänglichen Hinblick: Jesus in der Mitte der in seinem Namen Versammelten ist Frucht und Konsequenz gelebter gegenseitiger Liebe, Zielpunkt und Aufgabe christlicher Spiritualität, Pastoral und Reform.

Wir wollen diese grundsätzliche Erkenntnis nun in dreifacher Weise entfalten. Zunächst möchten wir, an einige grundsätzliche Gedanken von Papst Johannes Paul II. anschließend, die Gegenwart Jesu in der Mitte als Erfüllung der Dynamik menschlichen Lebens und menschlicher Gemeinschaft anschauen, sie von einem spezifisch „anthropologischen“ Ansatz her einholen. Wir wollen sodann die Perspektive umkehren und sie als Zielpunkt des Paschamysteriums von der Liebe Jesu bis zum äußersten her betrachten. Wir wollen schließlich diese Gegenwart als Vollzug und Fortsetzung des Geheimnisses der incarnatio verbi, der Menschwerdung des Wortes, verstehen. Gerade so werden wir die tiefe Entsprechung zwischen der Logik des Menschseins und der Logik der göttlichen Liebe entdecken. Wir werden dabei von selbst auf weittragende Konsequenzen gestoßen.