Wegmarken der Einheit

Jesus in unserer Mitte – Vollzug des Geheimnisses der Inkarnation

Wir haben die Gegenwart Jesu in unserer Mitte als höchste Weise verstanden, wie er, der Gottmensch, der Gott selbst und uns alle in sich birgt, unser „gemeinsames“ Gut zu werden vermag und somit das Streben der menschlichen Gemeinschaft nach Erfüllung oder, anders gewendet, die Sehnsucht des Menschen nach gemeinschaftlicher Erfüllung stillt. Wir haben sodann gesehen, welches der Weg dieser Erfüllung ist: Liebe, wie Jesus geliebt hat, als die ebenso persönliche wie gemeinsame Lebensform derer, die sich in seinem Namen versammeln. Sich in seinem Namen versammeln, das heißt in ganzer Konsequenz: seinen österlichen Weg durch den Tod in das Leben, in seine Gegenwart als Lebendiger gehen. Wir können diesen selben Weg nochmals in einer neuen Perspektive sehen und gehen: in der Perspektive der Menschwerdung. Hier wird Jesus in der Mitte sichtbar als Erfüllung der Geschichte Gottes mit dem Menschen innerhalb der Geschichte.

Die Vielzahl der Perspektiven auf dasselbe Geschehen zeigt, wie dicht sich das Ganze göttlichen Heilsplanes und menschlicher Geschichte dort spiegelt und verflicht, wo Jesus seine [65] Verheißung wahrmachen kann, in unserer Mitte gegenwärtig zu sein. Zugleich findet unser Leben als Christen einen mehrfachen Ansatz, im Mitleben mit Christus als „anderer Christus“ diese seine Gegenwart vorzubereiten, die überall geschehen soll, wo wir als Christen miteinander zu tun haben.

Wir können vier Sätze formulieren, die den Rahmen für unsere Reflexion abstecken.

  1. Es ist das Neue und Unerhörte am christlichen Gottesbild: Gott ist der von Ewigkeit her in sich Vollendete und in sich Ruhende, nicht ein „werdender“ Gott, nicht causa sui, Ursache seiner selbst – und doch geht Gott in Gott aus Gott hervor, er ist der Dreifaltige, der Vater, der von niemand kommt, der Sohn, der aus dem Vater kommt, der Geist, der aus beiden hervorgeht.

  2. Es ist das Neue und Unerhörte am christlichen Welt- und Menschenbild: Welt und Mensch sind Geschöpfe, ihr Unterschied zu Gott, ihr Gegenübersein zu Gott bleiben gewahrt – und doch ist das Höchste, der innere Zielpunkt von Welt und Menschheit der welthafte, menschliche Hervorgang Gottes aus dieser Welt, aus dem Menschen.

  3. Das Göttlichste in dieser Welt und das Menschlichste in dieser Welt, Tat Gottes und Mittat (coactio) des Menschen ist dieser Hervorgang Gottes in der Welt.

  4. Das zugleich Göttlichste und Menschlichste, jenes, woraus Gott im Menschen und in der Welt hervorgeht, ist die Liebe.

Gott hat die Welt nicht nur aus Liebe so, wie sie in ihrem Urbild, dem ewigen Logos in der ewigen Selbstbetrachtung Gottes als möglich erschaut ist, auch wirklich sein lassen, frei erschaffen; er hat diese Welt zugleich aufs innigste mit sich selber einen wollen, indem er seinen Logos, seinen ewigen Sohn, in diese Welt sandte und in ihr Mensch werden ließ. Dabei hat er das Kommen dieses seines Sohnes als Mensch in unsere Welt nicht allein als Sendung von oben, sondern auch [66] als Kommen von unten, aus der Linie der Menschheitsgeschichte heraus, bewirkt. Er hat einen Menschen erwählt, daß er durch sein freies Ja zum Willen Gottes an der Menschwerdung Gottes mitwirke, Mutter Gottes werde. Der Titel Mariens als der theotokos, der Gottesgebärerin, deutet auf die höchste Würde, die Gott einem Menschen geschenkt hat: Aus ihm, aus seinem Leben, aus seinem Leibe, aus seinem Glauben soll Gott selbst als Mensch geboren werden.

Sicherlich ist Maria in dieser Würde der Gottesgebärerin die eine und einmalige Spitze menschheitlicher Geschichte, die sich mit der Geschichte Gottes vermählt, die von Gott in seine Geschichte mit den Menschen konstitutiv aufgenommen wird. Und doch ist Maria nicht nur Vollendung, sondern auch Typus, Modell, Anfang. Im Leben von Kirche geschieht, was an ihr und durch sie geschah. Auch in der Kirche lebt die Mutterschaft des Herrn, lebt Gottes Wirken, das durch menschliches Mitwirken den Herrn selber hervorgehen läßt in die Geschichte hinein. Durch Verkündigung und Zeugnis wird das Wort Menschen weitergegeben, damit es in ihnen Leben gewinne und die Menschen so lebendiges Wort, „anderer Christus“ werden. In der Eucharistie wird aus dem – getreu dem Auftrag des Herrn und in der Vollmacht seiner Sendung vollzogenen – Wort eines Menschen er selber mit Fleisch und Blut gegenwärtig. Im Dienst an der Kirche und in der Kirche wird Leib des Herrn auferbaut. Und in dieser Linie liegt auch die Gegenwart Jesu in unserer Mitte, wo wir uns in seinem Namen versammeln und in seiner Liebe vereinen. Papst Paul VI. hat es in einer denkwürdigen Predigt bei seinem Besuch einer römischen Pfarrei so ausgedrückt: „Erinnert euch an das feierliche Wort Christi: Sie werden euch als meine Jünger erkennen, wenn ihr einander liebt.` Wenn diese Wärme des Mitfühlens, der Liebe da ist; wenn die mehr gewollte als empfundene, die mehr bewußt aufgebaute als spontane Sympathie unter euch verbunden ist mit der Weite [67] des Herzens und der Fähigkeit, Jesus in unserer Mitte zu zeugen (weil wir uns wahrhaft eins fühlen in ihm und durch ihn) – erst dann werdet ihr wirklich als seine Jünger erkannt, als echte Gefolgsleute und Gläubige“ (vgl. Chiara Lubich, Dove due o tre, S. 98–100; Mitten unter ihnen, S. 57f.).

Diesen Gedanken des Papstes Paul VI. aufgreifend, dürfen wir sagen: Das Leben von Kirche, ja menschliche Geschichte überhaupt hat den Sinn, daß Jesus Christus, der menschgewordene Sohn Gottes, überall dort „geboren werden“, hervorgehen und gegenwärtig werden kann, wo Menschen zusammenwirken und leben. Kirche – und Kirche ist hier im Blick als Modell und Anfang der durch die Erlösung erneuerten Menschheit – soll die soziale Wiederholung und Verwirklichung des Geheimnisses Mariens, der Gottesgebärerin, sein. Und eben dies geschieht dort, wo Menschen sich so begegnen, daß Jesus Christus in ihrer Mitte geboren werden, gegenwärtig werden kann.

Fragen wir uns, wie uns das Geheimnis Mariens einen vertiefenden Hinweis zu geben vermag auf dieses Zustandekommen der Gegenwart Jesu in unserer Mitte. Gott ist es, der an ihr handelt, bei Gott allein ist die Initiative. Gott kann nur aus Gott hervorgehen. Aber Gott wendet sich zu diesem Hervorgang Gottes aus Gott in die Welt hinein an den Menschen. Die Bereitschaft des Menschen, ja die Einförmigkeit des Menschen mit dem Willen Gottes ist die Voraussetzung, damit der Mensch Gott empfängt. Und nur jener, der Gott empfängt, kann Gott geben, Gott „bewirken“. Es ist die höchste Aktivität des Menschen, Gott, Gottes Dasein bei uns, selber mitzubewirken mit Gott – und solche marianische „Aktivität“ ist zugleich die radikale Zurücknahme des Menschen, sie läßt Gott allein wirken.

Wo aber begegnen wir einem spezifischen menschlichen Vollzug, der Ausdruck seiner höchsten Freiheit und zugleich Handeln Gottes ist? Die drei göttlichen Tugenden und zumal [68] deren höchste, die Liebe, welche die beiden anderen in sich schließt, sind freier, ja freiester Vollzug des Menschen – und doch sind sie zugleich Geschenk, sind sie eingegossen, sind sie Wirken Gottes in uns. In der Liebe tun Gott und der Mensch dasselbe. In der gegenseitigen Liebe, dort also, wo Liebe auf Liebe stößt, verbindet sich Gottes Wirken mit Gottes Wirken und zugleich Wirken des Menschen mit dem Wirken des Menschen. Gottes Sich-Schenken wird als solches angenommen und erkannt und erfährt als solches eine gottgewirkte Antwort, ein gottgewirktes Sich-Wiederschenken. Die Menschwerdung des Sohnes Gottes geschah, indem Gott sich selbst, sein eigenes Leben in der „gratia plena“, in dem ganz und gar begnadeten Menschen, wiederfand. Nur Gott konnte Gott empfangen im Menschen. Wo Liebe, die Gott wirkt, auf Liebe, die Gott wirkt, trifft, und dies unter Menschen, da kann unter Menschen, da kann in ihrer Mitte der Sohn Gottes empfangen und geboren werden. Und eben darauf läuft menschliche Geschichte hinaus: Gott will sich ganz schenken, und er kann sich ganz schenken, er kann als Gott dort „ankommen“, Advent halten, wo er selbst im Menschen sich erwartet. Und wo Menschen gegenseitig sich so erwarten, so annehmen und empfangen, daß sie darin Gott schenken und annehmen, dort ist eben jener Raum innerhalb der Geschichte eröffnet, in welchem Gott sich geschichtlich bekunden, in welchem der Herr in der Geschichte anwesend sein und wirken kann.

So wird plausibel, warum in der Spiritualität des Fokolar und in einer Spiritualität des Kirche-Seins, die sich hier manifestiert und bereitet, das Einssein, wie Vater und Sohn eins sind, also die vollendete gegenseitige, sich empfangende und schenkende Liebe, und die Gegenwart Jesu in der Mitte aufs innigste zusammenhängen. Wo Menschen so ineinander sind, daß sie in Gott sind, daß die dreifaltige Beziehung Maßstab und Urbild ihrer eigenen Beziehung wird; wo sie sich so frei machen von sich selbst, daß Gott in ihnen durch die Gabe der [69] Liebe rückhaltlos zu wirken vermag: genau dort ist die Bedingung erfüllt, daß Jesus selbst, der menschgewordene Gottessohn, gegenwärtig werden kann. „Einssein wie Vater und Sohn“ (vgl. Joh 17,21) und „Gott hervorgehen lassen“ sind die beiden Formulierungen des Zieles der Geschichte Gottes mit dem Menschen, der göttlichen in der menschlichen Geschichte: Beide konvergieren, werden eins, wo Jesus in unserer Mitte gegenwärtig ist. Wo er unter uns ist, da wird die Erfüllung der Geschichte bereits im Jetzt vorweggenommen.