Gerufen und verschenkt. Theologischer Versuch einer geistlichen Ortsbestimmung des Priesters
„Kehrt um - Nehmt Worte mit“
„Kehr um, Israel, zum Herrn, deinem Gott! Denn du bist zu Fall gekommen durch deine Schuld. Kehrt um zum Herrn, nehmt Worte (der Reue) mit euch, und sagt zu ihm: Nimm alle Schuld von uns, und laß uns Gutes erfahren! Wir danken es dir mit der Frucht unserer Lippen. Assur kann uns nicht retten. Wir wollen nicht mehr auf Pferden reiten, und zum Machwerk unserer Hände sagen wir nie mehr: Unser Gott. Denn nur bei dir findet der Verwaiste Erbarmen. Ich will ihre Untreue heilen und sie aus lauter Großmut wieder lieben. Denn mein Zorn hat sich von Israel abgewandt.“ (Hos 14,2–5)
[74] Zwischen Wortschwemme und Wortlosigkeit
Die Welt ist voller Worte, Signale, Kommunikationssysteme, Informationsvorgänge. Hemmschwellen, über Persönliches und Intimes zu sprechen, liegen weit tiefer als früher, werden rasch überfahren. Es gibt Methoden und Techniken, alles zu verbalisieren, Kommunikation zu erlernen und zu vervollkommnen. Auch die technische Entwicklung läuft allenthalben darauf hinaus, die Mittel und Möglichkeiten von Information und Kommunikation ins Ungeahnte zu verfeinern und zu steigern. Es wäre töricht, dies zu bedauern, die Chancen nicht zu sehen, die in einer solchen Entwicklung enthalten sind. Rückfragen liegen nichtdestoweniger nahe. Viele Worte gehen hin und her. Aber enthalten sie den, transportieren sie den, der sie spricht und der in ihnen sich selbst ausspricht, so daß er beim anderen „ankommt“, diesen nicht nur momentan betrifft, sondern in ihm Eingang findet, bei ihm „bleibt“? Oder blutet das perfektionierte, sachlich immer mehr Information und Hintergrund enthaltende Wort nicht an innerer Substanz aus? Wird es zur Schale, die vieles enthält, aber nicht mehr das eine: mich selbst? Kann ich mich selber weggeben von mir an dich und dabei „ankommen“ bei dir? Kann ich mich dir selber öffnen, indem ich mich deinem Wort öffne? Vielleicht will ich es, bemühe mich darum – aber es gelingt nicht. Leo der Große hat einmal daraufhingewiesen, daß genau das, was uns angesichts des Geheimnisses Gottes das Reden schier unmöglich macht, es uns auch verbietet zu schweigen (vgl. Leo d. Gr., Sermo XXIX: In Nativitate Domini IX, cap. I, PL 54, 226). Vielleicht müssen wir, auf unsere Situation gewendet, die Umkehrung dieses Wortes wagen: Was es uns so leicht macht, miteinander zu kommunizieren, macht auch die Worte, die wir gebrauchen, leichtgewichtig, raubt ihnen ihr spezifisches Eigengewicht. [75] Man klagt viel über das Gerede – und nicht weniger über die Wortlosigkeit, die Stummheit, die in den innersten Beziehungen trotz des Geredes oder gerade im Gerede herrscht. Im selben Zusammenhang fällt ein anderer Zug auf: Es gibt ein Ethos, ja ein Pathos der Ehrlichkeit. Aber diese Ehrlichkeit besteht darin, daß man um jeden Preis das augenblickliche Befinden und Empfinden zum Ausdruck bringen will. Eine Langzeitwirkung über dieses augenblickliche Befinden und Empfinden hinaus gesteht man dem Wort jedoch oftmals nicht mehr zu, es enträt einer die Situation übergreifenden, gar absoluten Verbindlichkeit. Treue kommt nahezu in den Verdacht der Unehrlichkeit, sofern sie nicht jeden Augenblick einem aktuellen Erfüllungsgefühl entspricht. Auch wenn das Wort nach meinem Willen mich ganz enthält, so bin ich selbst in ihm oft genug nur noch eine Momentaufnahme. Mein Wort bleibt nicht, weil ich nicht bleibe, weil ich als der bleibende und tragende Grund mich nicht durchhalte, sondern mich vielmehr in die Punktualität meiner Erlebnisse hinein aufzulösen drohe. Versuchen wir einen weiteren Blick auf die angerissene Situation des Wortes, der Sprache in unserer Welt. Wir entdecken zwei gegenläufige, dennoch miteinander zusammenhängende Tendenzen: Zum einen wird unsere Sprache viel „objektiver“ als früher, sie wird zunehmend formalisiert. Der Schatz alter Erfahrungen und Überlieferungen, die sich nicht in Handlichkeit für den Gebrauch, in funktionale Eindeutigkeit hinein auflösen lassen, fallt weg. Auf immer weniger Elemente und Bahnen wird das Sprachgeschehen reduziert. Hand aufs Herz, wäre es manchem nicht lieber, man könnte die leidige Sprache loswerden und statt dessen alles auflösen in Formeln und Zahlen? Alles, was für die möglichst eindeutige Übermittlung eines Gehalts nicht von Bedeutung ist, kann bei einer solchermaßen noch vorläufig in Kauf genommenen [76] Sprache dann freilich auch vernachlässigt werden. Formalisierung der Sprache entkleidet sie ihrer Form, dessen, was ihren Reichtum als Sprache ausmacht. Zum anderen aber wird Sprache immer „subjektiver“. Ich selbst, das heißt aber mein Befinden, das, wie es mir zumute ist, soll so unmittelbar wie möglich, so plastisch wie möglich, ohne Rücksicht auf ein vermittelndes und regelndes Sprachgefüge ausgedrückt werden. Ausdruck ist alles; mich selber vollbringen und mich zugleich „loswerden“ in einem Wort – darauf kommt es an. Die beiden Formen decken gewiß nicht das ganze Feld typischer Gestalten heutigen Sprechens ab. Aber ihr Gegensatz bezeichnet doch die Spannung und Spannweite, innerhalb deren diese anderen Gestalten des Sprechens angesiedelt sind. In beiden Extremen begegnet ein gemeinsamer Ursprung: Sprechen als Technik – einmal als Technik möglichst umfassender Effektivität; das andere Mal Sprechen als Technik der Selbstverwirklichung, Selbstdarstellung. Der voluntative Zug des Sprechens steht hier wie dort im Vordergrund. Sprechen ist nicht so sehr Mitspielen eines umfassenden Zusammenspiels, das aus vielerlei Registern und in vielerlei Register sich hinein ereignet, Sprechen ist vielmehr Selbstvollzug eines Subjekts. Im ersten Fall ist dieses Subjekt das Universale, Umfassende der sich organisierenden technischen Vernunft; zum anderen ist es das Subjekt des sich punktuell hier und jetzt erfahrenden und verwirklichenden Einzel-Ich. Aber kann die Sprache alles, wenn sie alles kann? Vermag ich mich in der Sprache, wenn ich nur mich selber in sie einbringe, in ihr mich selber darstelle und loswerde in einem? Wir setzten an bei der Leichtigkeit und Leere von Sprache zugleich, beim inneren Widerspruch zwischen der universalen Sagbarkeit von allem in der Sprache heute und dem Mangel an Sagekraft, der damit Hand in Hand geht. [77] Nicht umsonst können wir eine Anfälligkeit feststellen für eine schwebend vieldeutige, schier magische, mystisch anmutende Sprache; von denen her, die sie sprechen, bestätigt sie zwar den Grundcharakter des Voluntativen und Effektiven, den wir in heutiger Sprache feststellten; von seiten derer, die für solche Sprache anfällig sind, entdecken wir freilich etwas anderes: ungestillte Sehnsucht nach einer Sprache, die wahrhaft vollmächtig wäre. Von Jesus heißt es, er habe nicht gesprochen wie die Pharisäer und Schriftgelehrten, also wie jene, die über das Wort bescheidwissend verfügen, sondern wie einer, der Vollmacht hat (vgl. Mk 1,22 par). Wir wollen von Umkehr sprechen, von Buße. Und was hat das mit der skizzierten Krisenlage des Wortes, der Sprache zu tun? Für den Augenblick mag eine knappe Zwischenauskunft genügen: Gespräche, auch über Persönliches und Intimes, sozusagen Ersatz bedeckender Fassaden durch transparente Glaswände gehören zum Bild. Und auf der anderen Seite steht die Krise des Bußsakramentes – und hinter ihr die oft abgründige Schwierigkeit, Schuld als Schuld zu erkennen und zu bekennen, personales Verhalten mit einer objektiven Ordnung in Beziehung zu setzen, von meinem Befinden unabhängige Verbindlichkeit in einer auf Dauer angelegten Umkehr zu ergreifen, in einem vollmächtigen Wort zugesprochene Vergebung als gültigen und tragenden Neuanfang anzunehmen und zu bewähren. Ich kenne sehr viele Details von mir, Reaktionsweisen, Eigenschaften, Hintergründe, seelische Mechanismen, aber mich kenne ich nicht; nach dem, der ich bin, fahnde ich oft vergebens. Und nun soll ich das, was im Feld meines Lebens geschieht, in die Obhut dieses Ich nehmen, das ich nicht kenne, mich angesichts dessen als Sünder bekennen? Daß es nicht in Ordnung ist; daß es Neuorientierung braucht; daß wir uns selbst kritisch beobachten müssen, dies alles geben wir zu. Aber solche Eingeständnisse und Erkenntnisse im ein-[78]zelnen und konkreten zurückbinden im bekennenden und Vergebung erbittenden Wort – dagegen steht eine merkwürdige Hemmung, davor erfahren wir eine tiefgreifende Ohnmacht.
Vorgeschichte unserer Sprachsituation
Stoßen wir indessen nochmals zurück hinter diese Problematik. Fragen wir danach, was geschichtlich vorgegangen ist mit dem Wort; was diese Situation heraufgeführt hat. Es geht dabei nicht um die Suche nach Schuldigen, sondern um das Verstehen eines geschichtlichen Zusammenhangs. Grob zusammengefaßt, läßt sich sagen: Im frühen und hohen Mittelalter standen zwei Mächte hinter dem Wort: eine Tradition, die im Bewußtsein geschah, gültige Wahrheit zu empfangen und weiterzugeben, und eine Vernunft, die das Vertrauen hatte, die Wirklichkeit, wie sie von sich her aufgeht, angemessen und von ihr begründet, ja notwendig auf den Begriff zu bringen. Als in der Spätgotik die Rippen der Gewölbe sich vielfältig brachen und die Fialtürmchen der Kathedralen und Maßwerke der Fenster sich splitterten in eine vibrierende Nervosität, tauchte etwas auf wie eine tiefgreifende Unsicherheit und Angst: Können wir uns tatsächlich auf Traditionen verlassen? Müßten wir nicht vielmehr selber vom Ursprung her nachkonstruieren? Und: Was heißt „vom Ursprung her“? Sind unsere Begriffsnetze Strukturen der Wirklichkeit oder eben bloß Netzwerk, mit dem wir für unsre Zwecke, aus unserer jeweiligen Perspektive her, dessen, was ist, habhaft werden wollen? In der Renaissance und dem aufkeimenden Rationalismus – die bis tief in die äußerlich das Überkommene fortschreibenden Lehrgebäude der Spätscholastik hineinwirkten – verfestigte sich im Wechsel von Angst und Lust dieser neue Zugang zur Wirklichkeit: Sie soll mir nicht mehr durch die Hände angereicht werden, die sie [79] gestern zu betasten versuchten, sondern ich will selber meine Hand an sie legen. Worte sind nicht mehr von der Sache her mir zugemessene Vorgaben an mein eigenes Ich, sie sind Ausdruck meines eigenen Ich, das auf der Suche nach sich selbst in die Welt hinein aufgeht und sie mehr und mehr zum Ausdruck dieses meines sich suchenden Selbst werden läßt. Ich unterwerfe die Wirklichkeit den Beobachtungsbedingungen, die in mir selbst angelegt sind, ich gestalte Welt aus dem, was in mir selbst als Plan und Wille und Vorstellung entspringt. Ohne eine geistesgeschichtliche Entwicklung, die in vielfältigen Abwandlungen und Schattierungen und durch mannigfache Widersprüche und Gegensätze hindurch dieser Leitlinie gefolgt wäre, hätte die Technik der Neuzeit ihre grandiosen Leistungen nicht erbringen, Welt nicht so sehr zum Ausdruck des planerischen Wollens des Menschen werden lassen können. Das Werk, das hier vollbracht wird, ist natürlich Gemeinschaftswerk. Wie sollte es anders sein? Doch ist die es vollbringende Gemeinschaft selbst wie ein großes Subjekt, in welches der einzelne eingefügt ist. Die funktionale Abhängigkeit aller von allen drückt sich aus in jener Linie der Sprache, die alles formalisiert und neutralisiert, die sich am liebsten eben in technische Kürzel und Ziffern hinein auflöste. Daß es der Wille, daß es die sich selbst setzende und vollbringende Kraft des Subjektes ist, dies kommt zum Vorschein in jenem Drang nach Unmittelbarkeit, Subjektivität, Intensität der Sprache, die sich loslöst von der Systematik des Objektiven. Die Sprache selbst wird, so oder so, zum Handwerkszeug, zum Mittel des Sich-Wollens und des Sich-Vollbringens im Vollbringen der Welt oder in Absetzung gegen die Übermacht der vom Menschen her so gewordenen Welt. Dieser bloß funktionale oder bloß expressive Sinn von Sprache verschattet andere Tiefen, die ihr innewohnen: Sprache vermag nicht mehr Zuspruch eines zuvorkommenden Ursprungs, nicht mehr Ahnung einer das Jetzt übergreifenden Hoffnung, nicht mehr die je neue, je [80] überraschende und doch verläßliche Übereinkunft sich aufeinanderzu eröffnender Ursprünge zu sein. Sprache wird so effektiv, aber nicht fruchtbar; expressiv, aber nicht eröffnend; informativ, aber nicht mitteilend; exakt, aber nicht verbindlich im Sinn des Verbindens; modern (im Sinn von Anpassung an veränderte Bedingungen und Bedürfnisse), aber nicht neu (im Sinn von qualitativer Eröffnung von Neuem). Zurückgeschrieben auf unsere Thematik: Das Wort klebt einsam an dem, der es spricht – oder es verliert sich ins Gewirr der Wirkkräfte, in die Gänge der funktionalen Zusammenhänge, ohne uns selbst mitzunehmen, den anderen wahrzunehmen und ihn zu erreichen. Gibt es nicht so etwas wie einen Bruch zwischen mir und meinem Wort, der mich hemmt, über mich hinaus zu Gott, über mich hinaus in die Welt und über mich hinaus zum anderen zu kommen? Damit aber hätten wir wiederum jenen Punkt erreicht, auf den wir immer neu stoßen: auf den Punkt, in dem sich die Beziehung zu Gott, zur Welt und die wechselseitige Beziehung zwischen den Menschen kreuzen, auf den Punkt des „absoluten Zwischen“. Um nicht mißverstanden zu werden: die Veränderung der Sprachsituation in der Konsequenz neuzeitlicher Geistesgeschichte ist nicht eine „Schuld“, wohl aber markiert sie eine situationsbedingte Not, der Schuld zu begegnen, ihr das Wort zu finden und in ihr sich dem Wort zu öffnen, das Heilung verheißt.
Wort-Schuld-Vergebung: heilsgeschichtlicher Zusammenhang
Verlassen wir nochmals die Ebene und den erreichten Stand unseres bisherigen Nachdenkens. Sprache und Sprachlosigkeit haben mit Schuld und Vergebung nicht erst infolge der Entwicklung neuzeitlicher Kul-[81]tur zu tun. Der Zusammenhang reicht zurück bis in die Wurzel, unsere Kultur spitzt nur etwas zu, was im Grunde von Anfang an gegeben ist. Mit den nachfolgenden Bemerkungen ist keineswegs der Anspruch verbunden, die leitende Erzählabsicht der entsprechenden biblischen Szenen und Stücke oder ihrer Redaktoren wiederzugeben. Wohl aber ist es erlaubt, auf den faktisch je mitgegebenen Zusammenhang zu verweisen, der in Begebenheit oder Erzählung impliziert ist. Die drei ersten großen Schuldgeschichten der Menschheit haben es mit Störungen oder Verwirrungen der Sprache zu tun. Das Gespräch zwischen der Schlange und Eva und zwischen Eva und Adam ist etwas, was Gott nicht hören sollte. Indem der Mensch sich herausnimmt, was ihm von Gott her nicht zusteht, nimmt er sich aus der Situation des Gespräches mit ihm heraus. Er versteckt sich und verstummt, er muß durch die Frage Gottes aufgestöbert werden: „Adam, wo bist du?“ Und von Gott zur Rede gestellt, redet Adam sich heraus und schiebt die Schuld ab auf die Frau – Störung der mitmenschlichen Sprachsituation in der Störung des Dialogs zwischen dem Menschen und Gott (vgl. zum Ganzen Gen 3). Dasselbe begegnet verschärft beim Brudermord Kains an Abel. Der Neid läßt Kain den Abel töten, um ihn mundtot zu machen – aber nun schreit sein Blut. Wiederum wird der Schuldige von Gott zur Rede gestellt, gefragt – und er redet sich heraus: „Bin ich denn der Hüter meines Bruders?“ (Vgl. Gen 4,9.) Der Sturz des Turmes von Babel zieht als Bestrafung der sich gegen Gott zusammenrottenden Selbstherrlichkeit der Menschen die Verwirrung der Sprache nach sich (vgl. Gen 11). Der Schuld eignet dieser Wesenszug: Der Mensch bricht das Wort aus der Offenheit von Antwort und Anrede, die [81] zwischen Gott und ihm waltet, heraus und setzt sich selber, allein in diesem Wort. So aber bricht auch die Beziehung zum Partner, zum Nächsten; die Gesprächssituation zwischen dem sich selbstherrlich Behauptenden und dem davon betroffenen oder in Mittäterschaft verwickelten Nächsten verdirbt. Wir dürfen, wenigstens im Ansatz, auch etwas Drittes hinzufügen: Die Welt-Macht des Wortes verdirbt oder verkehrt sich, wo der Mensch sein Wort herauslöst aus dem hörenden und antwortenden Dialog mit dem Schöpfer. Es mag aufs erste anders erscheinen, der Mensch ist nicht selten sogar gerade dadurch „versucht“, sich dem Gespräch mit Gott zu entziehen, daß er so machtvoller mit der Welt umgehen und sie an sich reißen kann. Daß sich die dem Schöpfer entrissenen Mächte zerstörerisch gegen den Menschen zu kehren drohen, gehört indessen in das biblische Bild der Weit mit hinein. Es ist wichtig, noch zu bemerken, daß der Zusammenhang der Gesprächssituation zwischen Mensch und Gott und Mensch und Mensch auch in der umgekehrten Richtung gilt: Wer seinen Bruder verflucht und tötet; wer zum Wort der Vergebung dem Bruder gegenüber nicht durchstößt, der verstummt vor dem Gott seines Heils, dem verstummt der Gott seines Heils (vgl. Mt 5,43–48; 18,21f). Es wäre lohnend, die vielfältigen Stellungen und Konstellationen des Verstummens und Sprechens in biblischen Schuld- und Vergebungsgeschichten durchzumustern. Beschränken wir uns indessen auf zwei besonders eindrückliche Stellen. Im Psalm 32 lesen wir: „Solang’ ich es verschwieg, waren meine Glieder matt, den ganzen Tag mußte ich stöhnen. Denn deine Hand lag schwer auf mir bei Tag und Nacht; meine Lebenskraft war verdorrt wie durch die Glut des Sommers. Da bekannte ich dir meine Sünde und verbarg nicht länger meine Schuld vor dir. Ich sagte: Ich will dem Herrn meine Frevel bekennen. Und du hast mir die Schuld vergeben“ (V. 3–5). [83] Vom Menschen her kann gewiß das unterbrochene Gespräch mit Gott nicht einfachhin wieder eröffnet werden; zu solcher Eröffnung gehören zwei. Und es ist vom Wesen her Gott, dem die Eröffnung des vom Menschen aus unterbrochenen Gesprächs in freier Hoheit zusteht. Aber diese Eröffnung, dieses neuerliche Sprechen mit den Menschen setzt die Bereitschaft, den Aufbruch des Menschen voraus. Schweigen heißt bei sich bleiben; den eigenen Bruch zugestehen, ihn bekennen heißt über sich hinausgehen, sich Gott hinhalten, auf daß er neu anfangen kann. Die Zuständigkeit Gottes, den Bruch zu richten, wird in solchem Bekenntnis der eigenen Schuld eingestanden; doch in dieser Bereitschaft, sich dem Gericht zu stellen, wohnt zugleich das Zutrauen, gewinnt es die Oberhand. Das umkehrende, bekennende Wort des Menschen läßt ihn mit der Krisis, in die er geriet, Ernst machen, es eröffnet aber auch Gott die Möglichkeit, über die Krisis vergebend, neuen Anfang setzend hinauszuführen. Der verschlossene Mensch kann so zwar gerichtet werden, er kann aber nicht aufgerichtet werden. Der offene liefert sich selbst dem Gericht aus und gibt damit Gott die Chance, ihn in neue Partnerschaft hinein aufzurichten. In besonderer Dichte begegnet uns dies in dem Text Hosea 14,2–5, den wir unserer Besinnung vorangestellt haben. Dreimal kommt dort das Sprechen vor, und in der dreifachen Stellung des vom Menschen gesprochenen Wortes wird wie an wenigen anderen Stellen die Grundgeschichte menschlicher Schuld und Umkehr offenbar. Angefangen hat es mit der Schuld, der Israel im Vollzug der Umkehr abschwört: …und zum Machwerk unserer Hände sagen wir nie mehr: unser Gott“ (Hos 14,4b). Dies ist die Schuld: zu sich oder zu einem anderen als Gott in der Tat oder im Wort zu sagen: „unser Gott“. Solcher Götzendienst ließ Israel vor dem wahren Gott verstummen oder seinen Gottesdienst an Jahwe zum unaufrich-[84]tigen, lästerlichen Schein werden. Nun aber fordert Gott die Propheten und das Volk auf: „Kehr um, Israel, zum Herrn, deinem Gott! Denn du bist zu Fall gekommen durch deine Schuld“ (Hos 14,2). Und wie soll Umkehr geschehen? Hier kommt zum zweitenmal das Wort zum Zuge; die Antwort heißt nämlich: „Kehrt um zum Herrn, nehmt Worte mit euch, und sagt zu ihm: Nimm alle Schuld von uns, und laß uns Gutes erfahren!“ (Hos 14,3) In der Einheitsübersetzung ist der befremdliche Ausdruck „Nehmt Worte mit euch“ ergänzt durch einen Klammerzusatz, der erklärt, daß es sich um Worte der Reue handelt. Ist es nicht kennzeichnend, daß dieser Klammerzusatz gerade nicht zum Text gehört? Besteht nicht genau darin die Umkehr, die Reue, daß Israel das Wort wieder nimmt und sich zu seiner Schuld und damit zu dem bekennt, an dem es schuldig geworden ist? Worte mitnehmen, das bedeutet: sich selbst mitnehmen, sich ins Offene bringen, damit aber die verborgene Wurzel des Unheils ausreißen und offenlegen. Diese Wurzel kann nur absterben, wie es ein Gedanke des romantischen Philosophen Franz von Baader ausdrückt, wenn sie aus der Verborgenheit des Erdreiches herausgerissen und dem Licht ausgesetzt wird. Nicht die äußere, wohl aber die innere Symmetrie des Vorgangs verlangt indessen, daß nochmals das Wort ins Spiel kommt. Das erste Wort Israels war das Wort der Anbetung der falschen Götter. Das zweite Wort ist das Wort der Umkehr, das aus Schuld und Schweigen mitgebrachte Wort, das die eigene Schuld offenlegt und das Erbarmen des Herrn erfleht. Dem aber wird ein Wort des Versprechens hinzugefügt, das vorgreifen will in den erhofften Zustand der Versöhnung, des erneuerten Bundes: „Wir danken es dir mit der Frucht unserer Lippen“ (Hos 14,3b). Es ist gewiß gestattet, bei diesem semitischer Sprachweise entstammenden Bild zu verweilen: Lobpreis, Dank, Gebet als „Frucht unserer Lippen“. Geht es nicht um eine solche Heilung unseres [85] Sprechens? Wort nicht mehr nur als Signal und Formel; Wort nicht mehr nur als Eruption der Befindlichkeit; Wort als Frucht, die aus unserem Wesen wächst und uns dem Herrn – und auch unseren Nächsten – darbringt (vgl. Hebr 13,15f.). Dieser Dreischritt markiert das Geschehen der Umkehr: das offene oder das verborgene Wort des Abfalls, der Vergötzung aufdecken – dieses Aufdecken vollbringen, indem das Unwort gegen Gott Wort der Zukehr zu Gott wird, Wort an Gott, welches das Verschweigen der eigenen Tat, die stumme Zurückbeugung in sich selber bricht – neues Wort des Dankes, der Anbetung, der Liebe, das aus unserem Inneren emporwächst, „Frucht unserer Lippen“.
Versöhnung in Jesus Christus
Das Wort, das am Anfang bei Gott und Gott selber ist, es ist Ruf. Und dieser Ruf ist Gerufener, ist Antwort geworden. In diesem selben Geschehen, in welchem sich die Menschheitsgeschichte als Berufungsgeschichte verdichtet, vollendet sich auch die Umkehrgeschichte der Menschheit. In Jesus Christus ist das Verstummen der schuldigen Menschheit und der Schrei der von Gott entfernten Menschheit zugleich gegenwärtig, Wort geworden, ins Wort aufgenommen. Indem Jesus Christus den, der die Sünde nicht kannte, zur Sünde gemacht hat (vgl. 2 Kor 5,21), ist die Beichte der Menschheit geschehen. Er hat als der „Ecce Homo“ die ganze Schuld der Menschheitsgeschichte in seinem Fleisch Gestalt, in seinem Dasein, seiner Verlassenheit, seinem Hinscheiden Wort werden lassen. Wort, das sich in den Vater hineingibt. Erst indem das Wort Fleisch annimmt – und dies bedeutet: die Gestalt, die Existenzweise des Sünders, des verfallenen Menschen annimmt –, gelingt jenes Bekenntnis, das der Größe der Schuld und der Größe Gottes gerecht wird. [86] Es ist nicht das kleinliche Dringen eines empfindlichen Gottes auf gleichwertige Gegenleistung für erfahrene Beleidigung, was hinter dem Kreuzestod Jesu als stellvertretender Genugtuung für unsere Schuld steht. Nein, es ist gerade die Liebe Gottes, die uns in Wahrheit retten, in Wahrheit als wir selber vor ihm bestehen und leben lassen will. Dann aber muß einfach offenbar werden, wer wir sind und was wir getan haben; wer Gott ist und was er für uns tun will. Und so wäre eben ohne Jesu Christi Kommen, ohne seinen Tod am Kreuz die menschliche Umkehrgeschichte in all ihrer Schönheit und Größe Unterbietung, Scheitern am Maß des Ganzen. Gott will ganze Gemeinschaft mit uns, er will uns in sein eigenes Leben ohne Vorbehalt mit hineinnehmen. Dann aber müssen wir uns erfahren als Menschen, die sich selbst nicht ganz sagen und bringen können, sich selbst nicht zurückholen und wiedergeben können, wenn sie sich von Gott losgekettet haben. Nur der in die Gottverlassenheit am Kreuz und in das sterbende Verstummen hineingespannte Sohn sagt, zeigt, was der Mensch ohne Gott, getrennt von Gott ist. Nur indem das Wort, in welchem wir geschaffen sind, uns anzieht, sich uns leiht und schenkt, damit wir in ihm uns dem Vater sagen können, ist wahrhaft gesagt, was wir vor Gott zu sagen haben. Erst indem wir Jesus Christus als unser Wort mitbringen können, gelingt Umkehr bis in den Grund. Er, der in unsere Sündengestalt Entäußerte, ist das einzige Wort, das vollmächtig und vollgültig unsere Ohnmacht in den Vater hineinzusagen vermag. Er ist aber auch als dieses unser Wort, das der Vater uns leiht und gibt, sein Wort, das uns geschenkt ist: vollmächtiges Wort der Vergebung. Denn Gott will nicht mit einer Handbewegung unsere Schuld hinwegschieben – „Ist schon gut!“ –, nein, er will sich selber uns Zusagen als unser Leben, als unser Vater, als der im Fest ohne Ende und Bund ohne Ende mit uns verbundene und vereinte Gott. Dasselbe Wort, Gottes [87] menschgewordenes Wort, vollbringt das Bekenntnis der Menschheit und Gottes vollmächtiger Lossprechung. Sterbend gibt der Sohn dem Vater den Geist der Kindschaft dahin (vgl. Joh 19,30), auf daß der Auferstandene diesen Geist, der ihn vom Vater her zum Leben erweckt hat, weitergebe an seine Jünger: „Empfangt den Heiligen Geist! Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben; wem ihr die Vergebung verweigert, dem ist sie verweigert“ (Joh 20,22b–23). Der Gekreuzigte und der Auferstandene ist das Absolutionswort Gottes an die Menschheit, aus ihm geht der Geist über in die Kirche, auf daß in ihr das vergebende Tun Gottes in seinem Sohn durch seinen Geist weiterlebe und weitergehe. Die ein für allemal in Jesu Tod und Auferstehung vollendete Beichte und Absolution der Menschheit wird Schritt um Schritt dort Geschichte, wohin der Geist die Jünger treibt und wo Menschen mit der Last ihrer Schuld, zu ihnen kommend, zum Herrn kommen.
Umkehrgeschichte von Jesus Christus her
Die Beichte und Absolution des Schächers am Kreuz (vgl. Lk 23,40–43) ist wie ein Auftakt für die aus Jesu Kreuz und Herrlichkeit erfließende neue Buß- und Umkehrgeschichte, die durch den Geist Jesu seiner Kirche anvertraut ist. Hier ist natürlich an erster Stelle die konstitutive Umkehr des Menschseins in der Taufe zu nennen. In diesem Anfang christlicher Existenz ist die Umkehr in den Tod und in das Leben Jesu fundamental vollzogen. Das die Schuld bekennende Wort ist hier nicht ein Sagen der einzelnen Sünden, welche der Mensch beging, sondern sein elementares, seinshaftes Sich-hineingeben in das Bad der Reinigung und Wiedergeburt, das Jesu Tod und Auferstehung abbildet und gegenwärtigsetzt. Wo der Glaubende dieses in der Taufe ge-[88]schenkte Leben verliert, tut neue radikale Umkehr zu Gott, tut neue radikale Zukehr Gottes zum Sünder not. Ihr Weg ist das Sakrament der Wiederversöhnung: Hier ist das ausdrückliche bekennende Wort des zur Mündigkeit des Sohnes Getauften und das konkret Vergebung vom Herrn zusprechende Wort des vom Sohn Gesandten von der inneren Logik des Geschehens her gefordert. Doch die radikale, ein für allemal in der Taufe geschehene Umkehr und Umkehrung unseres Lebens bedarf für uns alle der beständigen Einholung. Auch wo der Getaufte sich nicht von Gottes Leben trennt, drohen die Ansprüche und Angebote des Alltags ihn so an sich zu fesseln, daß das eine Wort, welches der Getaufte von Jesus Christus her geworden ist, verschattet, entstellt, gebrochen wird. Die Verwundung des Lebens Gottes bedarf stets neuer Heilung. Und die Möglichkeit des Bruchs, die Möglichkeit, heimlich doch zu anderem als dem einen wahren Gott zu sagen: „Du bist mein Gott!“, sie ist beständig um uns. Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht uns selbst und unsere Erfahrung des Lebens und der Welt mit hineinzunehmen hätten in die Umkehr, in die dreifache Zuwendung, die in Jesu Tod und Auferstehung vollzogen ist. Immer neu mit Jesus umkehren zum Vater – immer neu mit Jesus sich hinkehren zur Welt – immer neu Versöhnung und Einheit suchen, auf daß der Herr zwischen uns lebe: so wird der Lebensrhythmus des Christen zum dreifachen Umkehrrhythmus. Die stets neue Umkehr zur „ersten Liebe“ (vgl. Offb 2,4) ist die beständig neue Umkehr zur Liebe dessen, der uns geliebt und sich für uns am Kreuz hingegeben hat. So wird unter den vielen Wegen täglicher Umkehr und Buße einen besonderen Platz die täglich erneuerte Begegnung mit dem gekreuzigten Herrn einnehmen. Für mich selbst gibt nichts anderes so sehr dem Leben immer wieder die Ausrichtung zu Gott, zu den Menschen, zur Gemeinschaft hin wie das liebende Entdecken [89] des am Kreuz verlassenen und hingegebenen Christus in den Brüchen, Rissen, Enttäuschungen und Verfehlungen eines jeden Tages. Die beständige Vereinigung mit seinem Hintragen unserer Sündenlast zum Vater und mit der in seiner Liebe geschehenden Zuwendung des Vaters bedeutet für mich freilich auch das Drängen danach, das Sakrament der Wiederversöhnung oftmals zu empfangen. Ich will mir im priesterlichen Mitbruder von ihm selbst sein sakramentales, aus seiner Kreuzeshingabe her wirksames Vergebungswort sagen lassen und ihm im Mitbruder mein Schuldigsein sagen. Dieser für den aus der Verbindung mit Gott herausgefallenen Getauften notwendige Weg sakramentaler Wiederversöhnung ist zugleich ein helfendes Angebot von unvergleichlichem Rang an alle, um die Umkehrhaltung in Gottes gnadenhafter Zukehr zu verankern und zu vollenden. Sowenig zwischen uns Menschen eine allgemeine Reflexion darüber, daß man immer wieder voreinander versagt, und sowenig ein generalisierendes „Verzeih mir, wenn ich gegen dich gefehlt habe!“ das aufarbeiten und neu werden lassen, was sich an Staub und Sand in unsere Beziehung zueinander mischt, so wichtig es ist, sich selbst dem anderen zu stellen und auszuliefem im konkreten Ansprechen und Anvertrauen der eigenen Schuld, so plausibel, ja dringlich ist es, die beständige, innerlich zu vollziehende Umkehr einmünden zu lassen in das sakramentale Geschehen, in das Wort von Bekenntnis und Lossprechung. Daß ich in dieses innerste Verhältnis zwischen ihm und mir den Bruder einlasse, den er mit seinem Geist ausgestattet hat, damit er Sünden nachlassen oder behalten kann, holt den Vorgang der Umkehr gerade ein in jenes Feld der Erfahrung, in dem ich mich als Versuchter, Versagender, Sünder finde: der andere als Ernstfall meines Gottesverhältnisses. Sicher, es wäre genauso problematisch, beständige Buße auf häufiges Empfangen des Bußsakramentes zu verkürzen [90] wie durch die vielen Wege beständiger Buße das Sakrament für den Normalfall als überflüssig zu betrachten. Den Alltag durchdringende Umkehrpraxis führt organisch zur Beichte, regelmäßige Beichtpraxis drängt zu einem fortwährenden und vielgestaltigen Vollzug von Umkehr.
Vollmächtiges Bekennen und vollmächtiges Vergeben angesichts der Ohnmacht des Wortes
Sind wir nicht unversehens bei einer Praxis von Umkehr und Buße, ja Beichte angekommen, die zwar theologisch von Jesus Christus her begründet, von der Situation der Sprache heute aber nicht eingeholt ist? Tiefer noch: Stehen nicht die anthropologische Not des Umkehrwortes und die theologische Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit des Umkehrwortes in einer unversöhnten Spannung? Daß wir, gerade aus der Situation der Sprache, das Umkehrwort und Vergebungswort in Vollmacht brauchen, steht außer Frage. Aber wie ist es zu vermitteln? Vielleicht dürfen wir den bereits angeführten Text Leos des Großen nochmals bemühen und variieren: Was uns das Umkehrwort so schwer macht, drängt uns auch, es zu wagen. Wir können die Situation der Sprache nicht einfachhin überspringen, wir können sie aber auch nicht auf sich beruhen lassen. Vielleicht ist indessen gerade der aufgezeigte theologische Ansatz ein Weg, die anthropologische Not zu wenden, zumindest sie leichter zu bestehen. Vergegenwärtigen wir uns nochmals, verschärfend, diese Not: Ich suche meine Schuld, und ich finde sie nicht, weil alles, was von mir ausgeht, verstaut ist in die vielfältig sich querenden, begründenden, neutralisierenden, verstärkenden, erklärenden und zugleich verwirrenden Gänge eines universalen und vielschichtigen Zusammenhangs. Ich stehe mit mir [91] allein da, die Tat meiner Freiheit ist wie weggesogen von mir selbst, ich finde sie nicht. Wie soll ich bekennen? Ich bin abgeschnitten als Subjekt von meiner mir davonlaufenden Objektivierung. Und umgekehrt: Ich weiß, daß dieses und jenes nicht gut ist. Ich fühle mich belastet, bedrängt, bin befremdet davon, daß solches durch mich geschah. Aber bin wirklich ich es? Wo bin ich überhaupt, wer bin ich überhaupt? Ich bin drinnen in Taten, Wirkungen, Konsequenzen, die von mir ausgegangen sind – aber dieses in seine Objektivierung davongelaufene Ich sucht vergebens sein Subjekt, mich selbst. Wiederum: Wie soll ich, wirklich ich, mich zu alldem stellen, der ich vieles von mir, aber eines eben nicht weiß: mich selbst? Wenn mich solche Zerrissenheit, solche Unsicherheit meiner selbst über mich selbst überfallt, dann darf ich aber, auf die Botschaft von Jesus Christus mich einlassend, dieses eine wissen: Er kennt mich; er schaut mich an; er sagt mir sein „Für dich“. Es gibt also einen Punkt, in dem ich mit mir Zusammenhänge; es gibt einen Ort, an dem ich stehen und mich finden kann: Ihn. Von ihm angenommen und übernommen, ihm mich lassend, mich als den vielleicht mir selbst Unbekannten in ihn hineinsagend, finde ich das Wort, das wahrhaft mich sagt und von dem her auch ich mich sagen kann. In der Perspektive seiner dreifachen Hingabe, seines dreifachen Daseins hin zum Vater, hin zur Welt, hin zur Gemeinschaft, entdecke ich meine Egoismen, meine Kleingläubigkeiten, meine Vorbehalte, die Unordnung in mir, den Mangel an wahrgenommener Verantwortung in meinem Leben. Ich weiß, was in Spannung steht zu seinem Maß, zu seiner Ordnung, zu seinem Geist. Und ich weiß auch, daß ich hinter dem Mehr seiner Liebe zurückgeblieben, an ihm schuldig geworden bin. Vielleicht durchschaue ich nicht genau, wie es richtig gewesen wäre, wie ich es hätte anders machen können; vielleicht entwirre ich nicht, ob ich selber [92] die ganze Verantwortung für dieses oder jenes zu tragen habe oder nicht – aber ich kann, auch ohne all dies klären und aufarbeiten zu können, mich von ihm her und auf ihn zu so sagen, daß meine Ohnmacht, mich zu sagen, in ihm selbst und durch ihn zur Vollmacht gerinnt. Weil er mich liebt, weil er mich annimmt, gewinne ich die Vollmacht, ihm meine Ohnmacht zu sagen und zu schenken. Auch noch meine Ohnmacht des Wortes wird so zum Wort. Und dann wird sein mir zugesprochenes Wort der Vergebung zum vollmächtigen Zuspruch und Anstoß neuen Anfangs. Ich breche, immer seines Haltes bedürftig und immer auf die Spitze meiner labilen Freiheit gestellt, zu ihm auf, meine Umkehr wird in ihm Zukehr zum Vater, Zukehr zur Welt, Zukehr zur Gemeinschaft. Die Verbindlichkeit seines Wortes gibt auch meinem brüchigen Wort neue Verbindlichkeit, sein Gehen für mich durch das Dunkel der äußersten Verlassenheit befähigt mich zum Wagnis der Treue über die Kurzatmigkeit meiner Erfahrungen und meiner Erlebnisse hinweg. Aus dem Vertrauen heraus, das er mir schenkt, damit ich es ihm wiederschenke, kommt in meine Worte ein anderer Ton, bescheiden, zuversichtlich, einfach, gelassen, so daß ich in meinen Worten seine Worte leise mitzunehmen und meine Worte, die Worte meiner Welt, zu „heilen“ vermag. Neue Sprache wächst allerdings nur unter einer Bedingung, und es ist dieselbe, die auch für die Wirksamkeit der Vergebung und die Redlichkeit meiner Umkehr die entscheidende ist: Versöhnung mit Gott beglaubigt sich nur in der Versöhnung miteinander, Zukehr zu Gott gilt nicht ohne die Zukehr zum Bruder. Als mit Gott Versöhnter kann ich nicht anders leben als im je ersten Schritt der Versöhnung auf den anderen zu. Die neue Sprache kann nur dort wachsen, wo ich unermüdlich den anderen anspreche, dem anderen zuhöre. Dieses Ansprechen und Zuhören sind Bedingung und Konsequenz des versöhnten Herzens, das in Gott verankert ist. Die Vergebungsbitte des Vaterunser ist gekoppelt mit der Zusage, daß wir einander vergeben. Es ist die einzige Stelle im Vaterunser, in welcher von einer Leistung, einer Haltung des Menschen die Rede ist. Das einzige, was wir in den Bereich unserer Anbetung zu Gott hin von uns selber einbringen können, ist Vergebung, Versöhnung. Unsere Umkehr zueinander ist der entscheidende Punkt, an welchem Gottes Zukehr zu uns und unsere Umkehr zu ihm wirksam werden. Nur wer den Weg der Umkehr immer wieder geht, kann es aushalten und erfüllen, Priester zu sein. Wenn er als Priester aber diesen Weg geht, dann wird er wie von selbst andere auf diesen Weg ziehen, und in die Hoffnungslosigkeit der Erstarrung oder des Weglaufens weht der Geist einen neuen Mut und eine neue Chance der Umkehr hinein. Ein Letztes: Wo in der Gemeinschaft mit dem Herrn, der im „absoluten Zwischen“ seiner Kreuzesverlassenheit mich einholt und übernimmt, mir neue Sprache zuwächst, da erschließt sich nicht nur das Wort des Bekenntnisses meiner Schuld, sondern auch der „confessio“ im anderen Wortsinn, des bekennenden, verdankenden Lobpreises seiner Liebe: die „Frucht meiner Lippen“ (vgl. Hebr 13,15).