Volk Gottes auf dem Weg
Keine bleibende Stätte
Die Kirche ist unterwegs. Das wird sie bleiben, solange sie in dieser Welt ist, und das heißt: solange diese Welt selbst besteht. Es trifft das Wesen der Kirche selbst, was der Hebräerbrief im Blick auf das Schicksal der jungen Kirche sagt: „Wir haben hier keine bleibende Stätte, sondern streben der künftigen zu“ (Hebr 13,14). Kirche ist nie „fertig“. Der sie vollendet, ist der kommende Herr. Was an ihr bleibt, ist also gerade dies, daß sie wandelbar bleibt. Wandelbar bleibt alles Lebendige, das nur so lange mit sich identisch bleibt, solange es sich entwickelt, wächst, nicht erstarrt. Doch nur deswegen entwickelt sich und wächst das Lebendige, weil eben dasselbe Leben, dasselbe Prinzip des Lebens in ihm bleibt. Dieses Prinzip kann man nicht neben den Wandel und neben das Wachstum des Lebendigen hinstellen, um es „in sich“ zu betrachten; es ist vielmehr in dem wachsenden und sich wandelnden Leben selbst allein zu fassen. Doch auch der Wandel der Gestalten, die Entwicklung als solche zerfiele ins bloße Nebeneinander und Nacheinander beziehungsloser Momente, wenn diese Gestalten und Stadien der Entwicklung nicht auf das eine, sich entfaltende, alles bewirkende Prinzip hin verstanden, im Zusammenhang mit ihm gesehen würden.
Entsprechendes gilt von der Kirche. Freilich ist das Bild organischen Lebens nicht ausreichend, um das Geheimnis der Kirche, ihres Bleibens und ihres Sich-Wandelns zu ergründen. Denn wir können ihren bleibenden Grund, ihr sie bestimmendes Ziel zwar nicht von ihr getrennt, ohne sie anschauen, aber dieser Grund und dieses Ziel sind gleichwohl nicht bloß ein im Leben der Kirche verborgen waltendes Prinzip. Grund und Ziel der Kirche ist vielmehr der erhöhte Herr selbst, er, der bereits zur Rechten des Vaters thront und der wiederkommen wird in Macht und Herrlichkeit. Doch es gibt keinen Zugang zu ihm außer durch seinen Geist; und diesem Geist muß man sich öffnen, ihn muß man in sich wirken lassen, ihn muß man zum inneren Prinzip seines eigenen Lebens werden lassen, damit man den erhöhten Herrn „sieht“. Der Christus des Johannesevangeliums sagt es uns folgendermaßen: „Noch eine kleine Weile und die Welt sieht mich nicht mehr, ihr aber seht mich; denn ich lebe, und auch ihr werdet leben“ (Joh 14,19).
Der erste Unterschied zwischen Bleiben und Wandel in einem Organismus und in der Kirche liegt also darin, daß das Prinzip der Kirche [7] nicht dergestalt in ihr aufgeht und sich erschöpft wie das Prinzip des Organismus in diesem. Das Prinzip der Kirche ist vielmehr Jesu lebendiges, durch seinen Geist offenbares und wirksames „Du“. Daraus folgt aber ein weiterer Unterschied: So sehr alles Leben in der Kirche allein vom Geist Jesu gewirkt werden kann, so sehr ist es doch zugleich auch immer menschliche Antwort, Tat unserer Freiheit, abhängig von unserem lebendigen, verantwortlichen und so gerade geistgewirkten Du-Sagen zum Herrn und im Namen des Herrn zueinander. Der Weg der Kirche ist nicht bloß Entwicklung, er ist Geschichte; Geschichte aber des „neuen und ewigen Bundes“, Geschichte, die nie mehr rückgängig zu machen ist, auch nicht durch unser Verfehlen und Versagen. Der Bund, den Gottes Erbarmen mit der Menschheit geschlossen hat, bleibt, und also bleibt die Kirche trotz aller Abhängigkeit ihrer konkreten Gestalt von uns, vom Menschen. Das Ewig-Endgültige und das Geschichtliche, das sich nicht vorausberechnen und absehen läßt, sind in der Kirche wie nirgendwo in der Welt miteinander verwachsen.