Die Kirche in der ersten Collatio des „Hexaemeron“ von Bonaventura und in „Lumen Gentium“

Kirche als „Weg“

Wir konnten die prägenden Formeln in LG 4 (mit Sicht auf 17) und „Hexaemeron“ I, 4 nicht aufeinanderzu ins Wort bringen, ohne das Motiv „Weg“ zu nennen. In sich kennzeichnet Kirche als aus der Einheit des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes geeintes Volk in „Lumen Gentium“ einen Weg: der Vater und der Sohn und der Heilige Geist kon- [8] stituieren je als sie selbst, wenn freilich, wie bei allen Wirkungen ad extra, in ihrem Verbund, in ihrer Gemeinsamkeit, die Kirche, so daß sie nicht nur in Christus hineingenommen ist in das trinitarische Verhältnis zwischen Sohn und Vater im Geist, sondern auch in ihren Innenverhältnissen dieses trinitarische Verhältnis zu wiederholen, einzuholen, zu spiegeln gerufen und befähigt ist. Auch in ihrem Urtext bei Cyprian hat diese Formel ihren Ort auf einem Weg: Das Vaterunser, das Gebet der Christen und der Kirche, schließt als seine immanente Bedingung die Versöhnung und somit den Frieden in sich. Erst in diesem Frieden, erst aus dieser Versöhnung wird Gotteslob möglich, Kult ist bestätigender Schlußpunkt des Versöhnungsweges. Dies hat in LG 17 wiederum zur Folge, daß das aus der Einheit des Vaters und des Sohnes und des Geistes geeinte Volk seinen Weg macht, in einem Weg seine Bestimmung erfüllt: Einholung der Welt und der Menschheit in diese Einheit und zugleich Eintritt in die trinitarische Einheit durch Teilhabe an der Verherrlichung des Vaters durch den Sohn im Geist.

Dem entspricht aber der Wegcharakter, den die Kirche in „Hexaemeron“ I gewinnt, ja der hier das führende Motiv ist: „Wir müssen zu der Kirche sprechen, zu der Einigung der einträchtig Verständigen und einförmig Lebenden durch die einträchtige und einförmige Bewahrung des göttlichen Gesetzes, durch das einträchtige und einförmige Band des göttlichen Friedens, durch den einträchtigen und einförmigen Einklang des göttlichen Lobes. Diese gehören zusammen: Lob kann nicht ohne Frieden sein, noch göttlicher Friede ohne die Bewahrung des göttlichen Gesetzes.“1 Zunächst scheint die Einheit und der Einklang das einzige Motiv zu sein. Es wird konjugiert durch drei die Einheit und den Frieden fordernde Grundfunktionen: Bewahrung des göttlichen Gesetzes, Liebe im Band des göttlichen Friedens, Einklang des göttlichen Lobes. In diesen drei „Funktionen“ oder Qualitäten erweisen sich Einheit und Friede aber keineswegs allein als Handlungsmaximen oder Modalitäten der Erfüllung des göttlichen Auftrags an die Kirche, sondern sie qualifizieren das Sein der Kirche. Sie ist die „convocatio rationalium“2, wobei „Rationalität“ hier bedeutet, Sinn zu haben für das sich im Gesetz, im Band des Friedens, im Lob Gottes auswirkende Wort, und Kirche wird weiter betrachtet als die „unio rationalium concorditer et uniformiter viventium“3.

Nachdem aber in kaum überbietbarer, durch die Repetition noch gesteigerter Eindringlichkeit diese Einheit sich als alles, als das Ganze in Sein und Tun und in allen Funktionen dargestellt hat, tritt zutage, daß zwischen den drei Funktionen oder Qualitäten der Kirche ein Begründungszusammenhang, ein Verwiesensein aufeinander in bestimmter Richtung [9] walten: Lob kann nicht sein ohne den Frieden, Friede kann nicht sein ohne das Gesetz. Und so wird die Schlußformel von I, 2 zur Exposition der nächsten Ziffern (I, 3, 4 und 5), und dies heißt konkret: zur Exposition eines Weges, in welchem das Wort als maßgebend, als leitend, als den Weg des Volkes bestimmendes Gesetz zugleich Weg zum Frieden innerhalb des Volkes, zu seiner gegenseitigen Eintracht wird. In ihr erweist sich wiederum dieses Volk Gottes als würdig und fähig, das Wort an seinen Ursprung, den Vater, durch Jesus Christus im Geist zurückzugeben, im Lob Gottes und als Lob Gottes. Das Volk selbst geht unter dem Gesetz seinen Weg, aber dieser Weg ist nicht nur der geschichtliche Weg des Volkes, sondern zugleich jener innere Weg, der vom Gesetz zum Frieden, vom Frieden zum Lob führt, somit aber Weg des Wortes, das im Gesetz Wort über uns und für uns, im Frieden Wort zwischen uns und in uns, im Lob Wort aus uns, Wort hin und heim zum Vater wird.

Bei aller Verschiedenheit: Die Wege entsprechen sich, und die Aussagerichtung und Aussagefülle wird nur sichtbar, wenn wir die „Inhalte“ lesen auf die in ihnen waltenden Beziehungen, auf ein umfassendes Weggeschehen hin.

Dies festzustellen bedeutet allerdings mehr als eine formalistische oder ästhetische Spielerei. Es ist in der frühfranziskanischen und insgesamt durch die geschichtlichen Kontexte des 13. Jahrhunderts geprägten Welt, in welche Bonaventura im „Hexaemeron“ hineinspricht, angemessen, sich um den geschichtlichen Weg der Kirche zu kümmern. Das macht hellsichtig dafür, daß Kirche selbst ein geschichtlicher Weg ist. Kirche als Weg – das weist uns nicht in die Verfügbarkeit eines äußeren Änderns, sondern ins Aufdecken jenes „Weges“, der gerade das Bleibende, Haltende, Wesenhafte der Kirche ausmacht. Geschichtlichkeit und Wesensverankerung, Bleiben und Aufbruch durchdringen und tragen, ja treffen sich im selben.

Ist die Situation und Anlage von „Lumen Gentium“, die hier waltende und führende Sicht von Kirche grundsätzlich anders? Ist die Entdeckung der Kirche als wanderndes Gottesvolk nicht der Weg des Konzils, um so gerade Aggiornamento und Treue, Dynamik und Bleiben zugleich zu fassen und zum Ausdruck zu bringen?

Wundert es von daher, daß ebenso bei „Lumen Gentium“ wie in „Hexaemeron“ I ein Denken sich entfaltet, das in sich selbst weghafte Züge trägt und solche in dem zu Bedenkenden, in der Kirche, fundamental entdeckt?

Wir haben bislang auf Weg geachtet, sofern er konstitutiv für Kirche ist, Weg, in welchem das Bleibende, Gottes Wort und die in ihm implizierten trinitarischen Beziehungen sichtbar und geschichtlich wirksam werden.

[10] In LG 17 ist uns dabei aufgefallen, daß dieser immanente Weg von Kirche zugleich ein Weg in doppelter Richtung über sich hinaus ist: Weg in die Welt bzw. Weg der Welt in die Kirche und somit in die Wirklichkeit des Wortes hinein, zugleich aber Weg über sich selbst und die Welt hinaus zum Vater.

Reißen wir nun, wenigstens knapp, andere Perspektiven auf, die in „Lumen Gentium“ und im „Hexaemeron“ den Wegcharakter des Denkens und des zu Bedenkenden insgesamt deutlich machen.

„Lumen Gentium“ hat in seiner Entstehungsgeschichte einen Weg zurückgelegt, den man, zugespitzt gesagt, „Weg zum Wege“ nennen kann. An die Stelle der ursprünglich vorgesehenen, an den hierarchischen Stufen des Gefüges der Kirche orientierten Gliederung trat eine andere, deren innere Konsequenz weghaft zu nennen ist und die uns in einen Vollzugszusammenhang hineinnimmt, in welchem allein die Botschaft des Dokumentes ganz und im ganzen zu erfassen ist.4 Im Ausgang vom Mysterium, in welchem sich durch Jesus Christus und seine Sendung die Öffnung des trinitarischen Gottes in die Welt hinein vollzieht,5 tritt die Kirche in ihrer vielfältigen Gestalt, leitend aber als Volk Gottes zutage, das als Ganzes die Sendung Christi in die Welt trägt und vollbringt.6 Auf diesem Weg ihrer Sendung und Bestimmung wird sodann das hierarchische Amt in seiner konstitutiven Bedeutung für dieses Gottesvolk geortet.7 Es kann aber nicht zur Sprache kommen, ohne daß auch – in Eigenständigkeit und Bezogenheit – die Laien bedacht werden.8 Der Weg beider miteinander ist jedoch nicht nur funktional einer und derselbe, sondern er hat für alle innerhalb ihrer je eigenen Berufung die eine und selbe Mitte, das eine und selbe Ziel: die gemeinsame und einzige Berufung zur Heiligkeit.9 Was die gemeinsame Berufung aller ist, wird zeichenhaft verdichtet im Ordensstand.10 Der so von der Kirche, von allen Berufungen in ihr in der einen und gemeinsamen Berufung zur Heiligkeit zurückzulegende Weg ist Weg durch die Zeit und somit Weg zur eschatologischen Vollendung hin, die in der umfassenden Communio Sanctorum schon jetzt Wesen und Leben der Kirche bestimmt.11 Dieser Glaubensweg der Kirche, der, recht verstanden, Kirche „ist“, findet sein Zeichen, sein Maß, aber auch sein fortwährendes personales Geleit in Maria.12

Wiederum begegnet hier nicht ein abstrakt gefundenes Ordnungsprinzip, in welches verschiedenartige Materialien „eingefüllt“ würden; solche Gliederung ist vielmehr in sich selber ein Verstehensweg, auf welchem der [11] Weg der Kirche und die Kirche als Weg Gottes mit den Menschen und der Menschen mit Gott sich erschließen.

Dem entspricht, identisch und doch davon abzuheben, eine nochmals andere Schicht in der Aussageführung von „Lumen Gentium“. Das Dokument beginnt nicht mit der Kirche, sondern mit Jesus Christus, er ist das Lumen gentium. Indem er der Anfang ist und indem es in diesem Anfang um das Ganze der Menschheit geht, wird der Ort der Kirche deutlich als das Zwischen. Sie ist nicht aus sich selbst zu verstehen, sondern nur von Jesus Christus her und auf den in ihm inkarnierten Willen Gottes zum Heil aller hin. Dieses Zwischen konstituiert sie als jene, die ihren Ausgang nicht in sich, sondern in Jesus Christus, ihr Ziel wiederum nicht in sich, sondern in der Welt und ihrem Kommen zu Jesus Christus hin hat. Diese gerade in LG I entfaltete Sicht bestimmt einerseits den Ort von Kirche: sie ist Gottes Weg zu den Menschen,13 sie ist Weg der Menschen zu Gott, sie ist, in solcher Verankerung, zugleich Weg der Menschen zueinander. Darin aber werden zugleich wesenhafte Züge eines neuen theologischen Denkens sichtbar, das im Konzil, in den nachfolgenden Bischofssynoden und in den großen Lehrschreiben des gegenwärtigen Papstes Gestalt gewinnt: es wächst eine Theologie, die sich in das Wesen und Geheimnis der Liebe Gottes einschließt und sozusagen von ihr aus den Weg aufschließt, den sie in ihrer Selbstentfaltung hin zum Menschen und zur Welt geht. Die alten Aussagen des Glaubens werden, unversehrt bewahrt, in einer neuen Weise sprechend, die, eigentlich überall und in allem, jenen Wegcharakter nachzeichnet, der sich in nachkonziliaren Dokumenten durch die Stichworte Mysterium, Communio und Missio entfaltet. Es versteht sich von selbst, daß es zuwenig wäre, diese Stichworte als Ordnungsprinzipien zu verwenden; ihre innere Bezogenheit aufeinander ergibt erst jenen Wegcharakter, der alles wahrt und es zugleich neu und somit Neues zu sehen gibt.

Die Denkweise, die sich hier entfaltet, wird bei verhältnismäßig wenigen Gestalten der scholastischen Tradition so viele Entsprechungen finden wie gerade bei Bonaventura. Natürlich ist seine Beziehung zu Pseudo-Dionysius und seinem Abstiegs- und Aufstiegsdenken nicht zu verkennen und sind die Wirkungen von Pseudo-Dionysius auf andere Autoren nicht zu übersehen. Sosehr die Spuren dieser Ausprägung von weghaftem Denken in Bonaventura ernst zu nehmen sind, so achtsam gilt es doch auf das Eigene der Weise zu blicken, wie Bonaventura den Weg des Denkens anlegt und im Bedachten Wegstrukturen freilegt. Er erschöpft sich gerade nicht im Abstiegs- und Aufstiegsschema, sondern beschreibt das, was im gläubigen Hörer „passiert“, wenn er sich auf den Weg Gottes einläßt, den dieser von sich aus zu ihm und mit ihm geht. Weggemeinschaft, Nachfolge- [12] gemeinschaft geben auch dem Abstiegs- und Aufstiegsmodell im Bonaventuranischen Denken einen existentiellen, heilsgeschichtlichen Ton, der in einem Systemdenken allein nicht heimisch zu machen wäre.

Versuchen wir, zunächst ganz ohne Bezug zu dem an „Lumen Gentium“ Abgelesenen, weghaftes Denken in „Hexaemeron“ I zu reflektieren.

Wir setzen wiederum an bei der bereits geläufigen Sequenz: lex, pax, laus14. Die diese drei Größen verbindende, in ihnen seine eigene Geschichte vollbringende Kraft ist Gottes ergehendes Wort. Indem das Wort ergeht, geschieht es in Vollmacht, vollbringt es die Hoheit dessen, der es sagt und in ihm sich sagt. So aber wirkt es Leben spendend und Leben ordnend. Es spendet Leben, indem es dem, der es aufnimmt, Leben gibt, ihn zum Subjekt konstituiert. Dies geschieht sowohl im individuellen wie im kollektiven Sinne, vom Kollektiven her ins Individuelle hinein. Indem das Wort ergeht, bringt es in Gang, entfaltet darin das Gehen in seine Schritte und zeigt so, wie zu gehen ist.15 Bonaventura stützt sich auf 1 Tim 3,15 (Vulgata): Paulus weist hier Timotheus an, wie er zu wandeln, also sich zu bewegen, zu gehen habe im Hause Gottes, das Kirche des lebendigen Gottes, Säule und Firmament der Wahrheit ist. Die Kirche ist Feuersäule und Firmament, d.h. Erleuchtung des intellektuellen und Stärkung des voluntativen Vermögens, die zum rechten „Wandel“ nötig sind, aus dem Wort Gottes her. Dieses wirkt hier als Gesetz, als die Kirche konstituierende und einende Kraft. Das Wort als Gesetz setzt Bonaventura in eins mit der Feuersäule Israels, die beim Exodus Gehen und Ruhen aller bestimmt. Das Wort als Gehen und Ruhen entbindende und regelnde Kraft ist Gesetz, das jeden „in Gang“ bringt, zugleich aber die Einheit des Ganzen als wanderndes Gottesvolk bestimmt und so schließlich dieses Ganze (Israel, die Kirche) zur „Feuersäule“ der leitenden Präsenz Gottes in der Welt macht. Kirche „wird“ das, dem sie sich verdankt. An Gottes Wort liest das Volk (und der einzelne in ihm) ab, wie es gehen und wandeln soll, das Leben aus dem Wort ist ebenso ein ganz und gar aufs Wort allein ausgerichtetes, von ihm allein bestimmtes Leben wie eben Leben, welches selber Gehen und Ruhen ist, Leben also dessen, der aus diesem Wort lebt.

Das Wort ergeht und bringt in Gang, es bestimmt den Gang aller und damit den Gang des einzelnen im Ganzen. Sein Charakter des Bestimmens hat es aber an sich, daß jener, der sich bestimmen läßt, selber geht, selber seine Freiheit, sein Leben vollbringt.

In „Hexaemeron“ I, 4 bindet, im Rückgriff auf Sir 3,1 (nach Vulgatazählung und -fassung), Bonaventura Gehorsam und Liebe zusammen und erklärt sie als die Lebensweise der „natio“, des Volkes („natio illorum obedientia et dilectio“). Er zeigt auf, wie der Sinn des Wortes als Gesetz [13] Liebe ist. So bleibt das Wort als Gesetz bei sich, es bleibt im selben, indem es zugleich einen neuen Schritt, eine neue Qualität aus sich entbirgt: gegenseitige Verbundenheit, wechselseitige Liebe, Erfüllung des Neuen Gebotes. An dieser Stelle klingt auch die in „Lumen Gentium“ sehr viel stärkere „Außenrichtung“ der Liebe an; Bonaventura zitiert in 1,4 Joh 13,35: Die gegenseitige Liebe, die gelebte Einheit des von den Glaubenden einander gegenseitig geschenkten und so in seiner Einheit und Selbigkeit aufstrahlenden Wortes ist das Zeugnis, an welchem die Jünger als solche erkannt werden.

In I, 5 erfolgt nun eine höchst bedeutsame Weiterführung der pax hin zur laus. Wie aus dem Inneren des Gesetzes seine Tendenz zur Liebe, seine Erfüllung in der Liebe ermittelt wird, so wird aus dem inneren Wesen der Liebe und des Friedens das Lob Gottes erschlossen. Die Stimmen derer, aus denen gemeinsam das Wort Gottes, das ihnen Gesetz ist, als ihr Leben und somit als Liebe verlautet, lassen darin jene „proportio“ und auch „harmonia“ verlauten, die dem im Zusammenklang vollzogenen Wort den Überschuß, das Faszinierende (dulcedo) des Gesangs verleihen. Die Einheit, die aus dem maßgeblich alle verbindenden Wort erwächst und sie gegenseitig in Beziehung (proportio und harmonia) versetzt, steigert sich in sich selbst, macht den qualitativen Sprung über sich hinaus und wird so zum Lob Gottes. Von dem „Subjekt“ Kirche her gesagt: Die aus dem Wort Geeinten sind nicht mehr Summe, sondern Einheit, pax, Friede, der aus gegenseitiger Liebe erwächst. Solche Einheit aber läßt sie mehr sein als nur die Ablesbarkeit des einen Wortes an ihrer versöhnten und vereinten Vielfalt; vielmehr transzendieren sie sich selbst und bringen das Wort über sich hinaus, hin zum Herrn, der es gesprochen hat, es wird sein Lobpreis.

Wir dürfen hier an den „Weg“ erinnern, der im Anfang von „Lumen Gentium“ sich erschließt. Die in LG 1 leitende Richtung des Wegprozesses geht nicht hin auf die Rückkehr des Wortes, das die Menschen angeht und an sie ergeht, zu sich selbst und in sich zu dem, der es spricht, im Lobpreis, sondern hin auf das Heil und die Einheit der Menschheit. Doch auch hier ist Jesus Christus als das Licht der Völker jenes Wort, das über sich hinauswirkt und aus den Völkern das Volk Gottes als Keimzelle der Einheit beruft. Kirche wird so vom Wort als Zeichen und Instrument erbildet, die dieses Wort zu allen kommen, Leben aller werden lassen. In anderer Richtung, welche die in „Hexaemeron“ I führende, wie gesehen, nicht ausschließt,16 tritt der „Wegcharakter“ von Kirche selbst auch hier in entsprechender Weise zutage: Sie ist die Geschichte des zum Heil aller werdenden, seine Missio in der Communio von Kirche vollbringenden Christus.

Wir müssen an dieser Stelle indessen noch einen weiteren Blick auf [14] „Hexaemeron“ I werfen. Diese Collatio muß zusammengesehen werden mit den beiden folgenden: „Hexaemeron“ I—III sind die großangelegte Einleitung zur hernach entfalteten Schau des Sechstagewerkes. Diese Einleitung hat den Sinn, die Disposition für die folgenden Denkschritte zu gewährleisten. Solche „Disposition“ beschränkt sich freilich keineswegs auf die hier behandelte Thematik, sondern sie disponiert für das Hören und Erkennen des Wortes Gottes überhaupt.

Jede der drei ersten Collationes beginnt mit demselben Vers Sir 15,5 (Vulgata): „Inmitten der Kirche wird er seinen Mund auftun, und erfüllen wird ihn der Herr mit dem Geiste der Weisheit und der Einsicht, und in das Kleid der Glorie wird er ihn kleiden.“ Nach Auskunft von „Hexaemeron“ I, 1 sind in diesem Wort die drei entscheidenden Schritte gekennzeichnet, die den Menschen zum verständigen Hörer und Partner des Wortes machen: Er muß kirchlich, ja „Kirche“ sein – nur so ist er Adressat, der dem Wort entspricht. In der Kirche aber muß er sich an die Mitte halten, bei ihr ist anzufangen, und diese Mitte ist Jesus Christus selbst. Wenn der Angesprochene, als Kirche, auf den, der Mitte der Kirche ist, hört, muß er sich von ihm hineinnehmen lassen in den Geist der Weisheit und Einsicht. Ihn zu besitzen, in ihm die Dinge zu sehen ist das Ende und Ziel des Prozesses. Der Voranfang sind wir, indem wir Kirche leben, der Qualität von Kirche entsprechen. Der Anfang ist Jesus Christus, das Ziel und Ende ist der Geist der Weisheit und Einsicht. Das Wort maßstäblich (lex) sein lassen, im Wort eins werden mit allen (pax), aus dem Wort und mit ihm Gott lobpreisen (laus), das sind die Bedingungen, um Hörer des Wortes zu sein. Sein Denken im Anfang Jesus Christus verankern, alles Denken von ihm beginnen, das ist der Einstieg, um im Wort es selbst, Gott, sich selbst und die Welt zu verstehen. Auf diesem Weg sich erfüllen lassen mit dem Geist der Weisheit und Einsicht, dies ist das Ende.

Wir sahen: Nur im Mitgehen des Weges, welchen das Wort selber mit uns geht, vom Wort als lex durch die pax hin zur laus Dei, können wir – scheinbar paradox – die Disposition für den Anfang erhalten. Dieser Anfang selber, der Christus ist, wird nun in „Hexaemeron“ I, 10–38 ausgelegt. Hierbei begibt sich wiederum eine eigentümliche Weggeschichte. Jesus Christus ist er selbst in den Mysterien seines Weges von der Zeugung aus dem Vater über die Menschwerdung bis hin zur Wiederkunft in Herrlichkeit. In diesen Mysterien, in der christologisch buchstabierten Heilsgeschichte, entfaltet Bonaventura nun Christus als die Mitte aller Wissenschaften, und das heißt aller Bereiche des sich selber durchsichtig werdenden und die Welt durchsichtig machenden Daseins. Das Ende dieser Geschichte, die eschatologische Vollendung und damit das Ende von Collatio I17 erblickt Bonaventura nun in der Theologie als jener [15] Wissenschaft, die Christus als die Mitte der Eintracht und Versöhnung in der ewigen Vollendung zum Gegenstand hat. Sie liest alles auf diese Vollendung und Vereinung hin.18 Was zuerst als die Geschichte des Wortes in der Kirche gedeutet wurde, das wird hier, gerade in der Durchführung von I,38, sichtbar als die Geschichte der Kirche, ja der Menschheit in Christus, im ganzen, endgültigen, verherrlichten Christus. Die Disposition zum Anfang und der Anfang entsprechen sich: der springende Punkt ist jeweils die Gemeinschaft stiftende, in Gemeinschaft sich selber vollendende Kraft des Wortes, das in letzter Tiefe und Ursprünglichkeit derjenige ist, welchen wir als das Wort erkennen, das in Gott und Gott selber ist und in dem Gott alles vermag und wirkt.19 Kirchengeschichte als Christusgeschichte und Geschichte des All, des Ganzen von Christus her und auf ihn hin: Dies aber ist, wenn auch anders angelegt, das Grundmuster der Ekklesiologie von „Lumen Gentium“, das sich bereits in der Gliederung des Dokumentes spiegelt.


  1. Hexaemeron I,2. ↩︎

  2. Ebd. ↩︎

  3. Ebd. ↩︎

  4. Vgl. Philips, Gerard, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl., Bd. 12 (1966) 139-152. ↩︎

  5. Vgl. Lumen Gentium, Kapitel 1. ↩︎

  6. Vgl. Lumen Gentium, Kapitel 2. ↩︎

  7. Vgl. Lumen Gentium, Kapitel 3. ↩︎

  8. Vgl. Lumen Gentium, Kapitel 4. ↩︎

  9. Vgl. Lumen Gentium, Kapitel 5 als „geistliche Herzmitte“ von „Lumen Gentium“. ↩︎

  10. Vgl. Lumen Gentium, Kapitel 6. ↩︎

  11. Vgl. Lumen Gentium, Kapitel 7. ↩︎

  12. Vgl. Lumen Gentium, Kapitel 8. ↩︎

  13. Vgl. Johannes Paul II., Redemptor hominis. ↩︎

  14. Hexaemeron 1,2-5. ↩︎

  15. Vgl. Hexaemeron 1,3. ↩︎

  16. Vgl. Lumen Gentium, Kapitel 17, Ende. ↩︎

  17. Vgl. Hexaemeron I, 38 und 39. ↩︎

  18. Vgl. Hexaemeron I, 37. ↩︎

  19. vgl. hierzu Hexaemeron I, 10. ↩︎