Die Kirche in der ersten Collatio des „Hexaemeron“ von Bonaventura und in „Lumen Gentium“

Kirche: trinitarisch geeintes Volk – gegenseitige Liebe

Die Formel des heiligen Cyprian von Karthago, die in LG 4, an einer Schlüsselstelle des Dokuments, nicht nur zitiert, sondern gewissermaßen in definitorischen Rang erhoben wird und die hier die grundlegenden Perspektiven des ersten und zweiten Kapitels der Kirchenkonstitution in ihrer inneren Bezogenheit verdeutlicht, stammt nicht, wie sich zunächst vermuten ließe, aus einem theologischen Traktat über die Kirche, sondern [5] aus einem eher paränetischen, nichtsdestoweniger fundamentalen Zusammenhang. In Cyprians Auslegung des Herrengebetes, einem der reichsten geistlichen Schätze im Acker der alten Kirche, führt die Reflexion über die Bitte „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“ zu dieser Formel. Cyprian rückt die einzige „aktive“, menschliches Tun zur Sprache bringende Bemerkung des Vaterunsers („wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“, vgl. Mt 6, 12) in den Kontext des anderen Wortes aus der Bergpredigt, daß jener, der seine Gabe zum Altar bringt, diese, wenn sein Bruder etwas gegen ihn hat, dort lassen und sich zuerst mit seinem Bruder versöhnen solle (vgl. Mt 5, 23).

Warum „gehen“ Kult, Anbetung Gottes nicht, wenn ihnen nicht die Versöhnung mit dem Bruder voraufgeht? Sie gehen deshalb nicht, weil das „Subjekt“ des Kultes das aus der Einheit des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes geeinte Volk ist. Und dieses Volk in seiner Einheit muß auch im Einzelnen, der den Herrn anbetet, „da“ sein. Das Subjekt aber ist deshalb nicht da, wo nicht Versöhnung waltet, weil es dem Objekt, dem Zielpunkt von Opfer und Anbetung, nicht entspricht. Dieses Objekt, dieses Ziel strahlt nicht auf, rückt nicht in den Blick, wo nicht Gott widerscheint im Antlitz, das der Mensch zu ihm erhebt. Dieser Gott aber ist der Dreifaltige, der in der Dreizahl der Personen Eine. Wir berühren hier den Grund, der uns verstehen läßt, weshalb in johanneischer Perspektive die Welt gerade dadurch zum Glauben kommen soll, daß sie der Herrlichkeit Gottes und Wirklichkeit Gottes in jener Einheit der Jünger Jesu begegnet, die nach dem Maß und aus dem Grund des Vaters und des Sohnes im Geist eins sind (vgl. Joh 17, 21-23).

Sicher ist diese bei Cyprian nur knapp benannte, aber eindeutig führende Sicht, die er eben in der Verdichtung zur Formel vom trinitarisch geeinten Volk wiedergibt, nicht einfachhin mit exegetischen Mitteln aus dem Bezugstext in der Bergpredigt herauszulesen. Dennoch gibt – wie so oft –die „integrale Exegese“ der Väter, wie wir sie vielleicht nennen dürfen, mehr wieder auch von exegetischen Einsichten unserer Zeit, als dies in einer legitimen und zum Teil notwendigen Beschränkung ihrer Methode allein geschehen kann. Die Bergpredigt (Mt 5-7) wie die anderen Reden im Matthäusevangelium stehen in einer ekklesialen Perspektive. Die neue Einheit der Menschen, die Neukonstitution des Volkes Gottes in Jesus, der uns in sein Verhältnis zum Vater hineinnimmt, ist führend. Texte wie Mt 18,19f. über die Einmütigkeit als Voraussetzung für das wirksame Gebet und die Gegenwart Jesu unter den in seinem Namen Geeinten mit der anschließenden Perikope über das Vergeben, aber auch Texte wie Mt 23,8-12 über die Gemeinde der Geschwister um den einen Herrn und Meister zeigen dies deutlich und werfen ihren Reflex in der Leidenschaft- [6] lichkeit, mit welcher die Bergpredigt Versöhnung miteinander als Bedingung des Kultes formuliert. Jesus bewährt sich darin als die Koinzidenz des neuen Mose mit jenem „Ich-bin-da“ (vgl. Ex 3,14) selbst, der diesem den Bund und das Bundesgesetz für das Volk aushändigt. Denn dies ist die Mitte des Bundes und seines Gesetzes: der Bund mit Gott kann nur bestehen und glaubwürdig sein im Bund miteinander, das Verhalten zu Gott trägt das Verhalten zueinander. Dies eben wird zur Vollendung geführt, indem der „Ich-bin-da“ selber da ist in Jesus, indem in ihm das Volk Gottes hineinreicht in das göttliche Verhältnis zwischen Sohn und Vater, Vater und Sohn.

In „Lumen Gentium“ zeichnen die Nummern 2-4 das Verhältnis der Kirche zu Vater, Sohn und Heiligem Geist. Die Kirche als ganze steht in diesem Bezug zu jeder der drei göttlichen Personen, und sie holt zugleich die „Innenverhältnisse“ der Kirche in das Verhältnis der drei Personen zueinander, so daß Kirche Keimzelle seiner Einheit der Menschheit, die Gott will, Spiegelbild des dreifaltigen Lebens für die Menschheit wird.

Demgegenüber treten die ansonsten bei Bonaventura so reichen und fruchtbaren trinitarischen Reflexionen in der Kirchensicht von „Hexaemeron“ I in den Hintergrund. Und doch ist die soeben in LG 2-4 aufgespürte und in Mt 5,23f. und Mt 6,12 von Cyprian erhobene Dynamik in „Hexaemeron“ I, 2–5 in frappierender Parallelität gegeben.

In der Mitte stehen die Formeln in 1,4 von der Kirche als der „geeinten Verständigen durch das einträchtige und einförmige Band des göttlichen Friedens“ („Item loquendum est Ecclesiae rationalium unitorum per concordem et uniformen cohaerentiam divinae pacis“) und von der Kirche als gegenseitiger Liebe („Ecclesia enim mutuo se diligens est“). Kirche ist geeint durch den göttlichen Frieden, der in ihr lebendig ist in gegenseitiger Liebe, so sehr, daß sie, in harter Wörtlichkeit übersetzt, „das gegenseitig Sich-Liebende“ ist. Die gegenseitige Liebe, welche ihre Glieder verbindet, konstituiert in und aus ihnen Kirche als eine solche, läßt Kirche als eine solche sichtbar und glaubwürdig in ihnen werden.

Dies ist aber kein in sich abgeschlossener, Kirche auf Horizontalität verkürzender, Moral mit Dogmatik verwechselnder Appell, sondern ist in einem umgreifenden Zusammenhang zu sehen. Die pax, der Friede in Gott, der in der gegenseitigen Liebe mächtig wird, hat seine eigene Wurzel, die ihn fordernde und tragende Kraft nicht in der – nichtsdestoweniger eingeforderten und erforderlichen – Leistung der Glieder der Kirche, sondern in dem die Kirche konstituierenden Wort Gottes. Es ergeht von Gott her als das Kirche allererst versammelnde und leitende Gesetz (dies ist der Inhalt von „Hexaemeron“ I, 3). Das Verhältnis zu Gott wird bei den vielen, aus denen die Kirche besteht, als das eine und selbe Verhältnis [7] durch das eine und selbe Wort, das an alle gerichtet ist, bestimmt und geformt. Daraus aber erfließt eine „concors et uniformis cohaerentia“, eine einträchtige und einförmige Kohärenz. Sie läßt aus der Gleichheit des Verhältnisses zu Gott eine innere Entsprechung im Sein zwischen den einzelnen wachsen, die sich bewährt und auswirkt in ihrem gegenseitigen Verhalten. Die pax wirkt gegenseitige Liebe, bestätigt sich in ihr, erreicht in ihr Gestalt und Fülle. Das Verhältnis zu Gott, das Sich-Öffnen für sein Wort, das Herausgehen aus sich, um in ihm zu sein, das Sich-Leer-Machen von sich, damit es in uns sei, werden zum Maß und zur Kraft, wie gegenseitiges Verhalten geschieht.

Hier aber ist nicht die Endstation des Weges erreicht, den das Wort, an uns ergehend, zu uns und in uns macht. Sein Weg mit uns wirkt sich aus im Lobpreis, in der Verherrlichung Gottes, sozusagen in der Rückkehr des Wortes aus uns und in uns in Gott hinein – davon handelt „Hexaemeron“ I, 5. Der Kultbezug, der in der Bergpredigt zunächst negativ formuliert ist: Kein Kult ohne Versöhnung!, ist hier positiv formuliert: Versöhnung, Friede, gegenseitige Liebe konstituieren das Subjekt des Lobes und der Verherrlichung Gottes.

Wenn auch in LG 4 diese letzte Dimension nicht ausgefaltet wird,1 so ist sie doch in der inneren Logik enthalten. Dies gewinnt Gestalt im Abschluß des zweiten Kapitels über das Volk Gottes, das sowohl den Charakter des Volkes wie seiner trinitarischen Beziehung bewußt wieder aufgreift und in diese Formel eine doppelte Zielrichtung einträgt: Eingliederung der ganzen Menschheit in das Volk Gottes und Verherrlichung Gottes mit Christus im Geist. „So aber betet und arbeitet die Kirche zugleich, daß die Fülle der ganzen Welt in das Volk Gottes eingehe, in den Leib des Herrn und den Tempel des Heiligen Geistes, und daß in Christus, dem Haupte aller, jegliche Ehre und Herrlichkeit dem Schöpfer und Vater des Alls gegeben werde.“ (LG 17)


  1. Es wäre zu weitgehend, auf diesen Kontext hin die der Formel vom trinitarisch geeinten Volk voraufgehende Bemerkung auszulegen: „Denn der Geist und die Braut sagen zum Herrn Jesus: »Komm«“ (Offb22, 17). ↩︎