Was fängt die Jugend mit der Kirche an? Was fängt die Kirche mit der Jugend an?
Kirche und Jugend: das „Neue“der gegenwärtigen Situation
Während der letzten zwölfhundert, weithin sogar während der letzten fünfzehnhundert Jahre des Glaubens bedeutete im Abendland die Weitergabe des Glaubens an eine je neue Generation einen Vorgang im eigenen Haus. Trotz aller Verwandlungen und Brüche waren die Grundlinien christlicher Überzeugung tief eingezeichnet in das Bild des Menschen und der Welt, mit welchem von Anfang an die je kommende Generation vertraut war.
Vermutlich war der tiefste Einbruch in diesen Zusammenhang die neuzeitliche Idee einer autonomen Freiheit, die nicht nur sich aus sich selber konstituiert, sondern aus ihrem eigenen Vermögen auch Welt und Gesellschaft konstruiert. Auch wo christliche Überlieferung Überzeugungen und Haltungen der Menschen noch prägte, wurden immer mehr Bereiche des Lebens und der Welt von ihrer Voraussetzung abgekoppelt, das funktionale Geflecht des Lebens rückte immer mehr unter die methodische Voraussetzung neuzeitlicher Wissenschaft und Technik, welche die Dinge sehen und konstruieren wollen, wie sie wären, auch wenn es Gott nicht gäbe. Der Boden, in welchen menschliche Existenz von klein auf eingepflanzt ist und in welchen sie ihre Wurzeln treibt, ist immer weniger durchsetzt mit spezifisch christlichen und kirchlichen Vorgaben. Der Funktionsverlust der Familie und deren weitgehende Säkularisierung sind ein folgenschwerer Beitrag hierzu. Nicht mehr die Antithesen zu überkommenen christlichen Thesen bestimmen Welt- und Menschenbild, Ethos und Pathos der heute Heranwachsenden, sondern in vielen Bereichen bereits einfachhin die Abwesenheit christlicher Gewohnheiten und Maßstäbe. Dies läßt jedoch nicht einfachhin eine neue „Unschuld“ sozusagen des Heidnischen gegenüber dem Christlichen wachsen, wie wir es in [311] einem gewissen Sinne in der Epoche der Antike oder in der Situation der Missionierung antreffen. Auseinandersetzung mit dem Christlichen und Abwendung von ihm sind Vorgeschichte eines – man ist versucht zu sagen: – geschichtlichen Karsamstags, einer Abwesenheit des Christlichen von der Tagesordnung des Lebens. Auf einem solchen Hintergrund aber bekommt die Begegnung der jungen Generation mit der Kirche einen erheblich anderen Stellenwert als dort, wo Jungsein bedeutet: den unzerrissenen Kontext einer Überlieferung aufnehmen und in ihm den Text des eigenen Lebens neu formulieren.
Sicherlich, der Bruch mit der christlichen Überlieferung ist nicht durchgängig, immer wieder stößt man hinein in verschüttete Untergründe des Christlichen. Doch die Spolien machen eben keinen antiken Tempel, der Orientteppich kein arabisches und die holzgeschnitzte Heiligenfigur kein christliches Haus. Es bleibt dabei: Die Begegnung von Kirche und Jugend findet, auf die Breite der Gesellschaft hin gelesen, für beide Teile nicht mehr im eigenen Haus statt. Und auch die Jugend, die in der Kirche ist, die sozusagen in ihr auf sie zukommt, bringt solche Fremde in sich mit und muß mit der Fremde der Kirche fertigwerden.
Diese Entwicklung hat sich von langer Hand her vorbereitet, zweifellos. Sie tritt heute aber verschärft zutage und zeigt zugleich eine neue Wendung, von der noch keineswegs ausgemacht ist, in welche Richtung sie führt.
So bedenklich es wäre, tiefgreifende geschichtliche Entwicklungen auf nur eine Ursache oder nur ein Ursachenfeld zu konzentrieren, so zulässig ist es doch, einen Grundzug neuzeitlicher Geschichte eigens hervorzuheben: Die Emanzipation des Subjekts aus ihm vorgegebenen, es ins Ganze zurückbindenden Ordnungen ließ die Idee und in der Folge den realen Versuch wachsen, vom Subjekt her, von seiner Kraft der Selbstobjektivierung her, Gesellschaft und Welt in den Griff zu bekommen, Schritt um Schritt experimentell zu beherrschen und konstruktiv zu planen. Mit den wachsenden Möglichkeiten des Subjekts wuchs auch des einzelnen Abhängigkeit von dem durch ihn selbst mitinszenierten Werk. Freiheit wurde immer inhaltsleerer und zugleich immer angestrengter, sich selbst für die eigenen Entwürfe zu instrumentalisieren. Der Ekel am Leerlauf des Produzierens und Konsumierens, die Fragwürdigkeit einer Freiheit, die in der Welt nur noch ihren eigenen Entwürfen und Gemächten begegnet, die Ermüdung, die der Zugzwang zum „Je-Mehr“ des Fortschritts mit sich bringt, die Einsamkeit, wo Kommunikation quantitativ ins Massenhafte wächst, qualitativ aber verarmt, bloß funktional wird: Dies läßt spätestens seit Ende der sechziger Jahre Jugend je skeptisch werden gegen die technisch-wissenschaftliche Zivilisation, deren Stil sich doch tief in ihre eigenen Lebensgewohnheiten eingeschliffen hat. Der Anspruch der Freiheit, aus dem diese Zivilisation erwuchs, stellt sie nun in Frage. Und zugleich stellt diese Zivilisation zunehmend sich selbst in Frage, da sie an die Grenzen ihres [312] Wachstums stößt und mannigfache elementare Gefährdungen für sich, ja für den Menschen und die Menschheit gebiert.
Wie alles weitergehen soll, wenn es so weitergeht wie bisher, wie alles weitergehen soll, wenn dieses Weitergehen wie bisher sich selbst unterminiert und zerstört: zwei gleichermaßen bedrängende Fragen, zwischen denen die junge Generation steht. Es ist beinahe banal, die Konsequenzen zu nennen: Versuchung zur Resignation, zum bloßen Protest, aber auch Ausschau nach Alternativen, Ausflucht in Traum und Fremde, Suche nach unverbrauchten Ursprüngen, Sprachlosigkeit, aber auch neue Sensibilität, sich selbst anders zu sagen als in bislang üblichen konformistischen und nonkonformistischen Schablonen.
Fragen und Erwartungen an Christentum und Kirche, die stumm geworden waren, werden wieder wach. Aber sie begnügen sich nicht mit den hergebrachten Antworten, sie sind begleitet von Unsicherheit und Furcht, mißverstanden, vereinnahmt, vertröstet zu werden. Die Fremde bleibt, aber ins fremde Gesicht der Kirche fällt ein suchender Blick.