Caritas – eine theologische Reflexion zwischen Konzil und Synode

Kirche verstehen

Drittes Beispiel ist die Frage: Was ist Kirche? Als bloße Institution wird sie dem Menschen von heute immer weniger verständlich und glaubhaft; andererseits drängt gerade ein „antiinstitutionelles“ Pathos der Freiheit und der Gleichheit aller nach institutioneller Sicherung. Eine weitere Spannung: Kirche wird nicht mehr als die umfassende Organisation monolithischer Einheitlichkeit begriffen, die in der einzelnen Gemeinde nur ihre zentral vorgenormte „Ortsgruppe“ hätte; man verlangt nach der intensiven Gemeinschaft im überschaubaren Miteinander. Kirche braucht die kleine Zelle, Kirche lebt in der Gemeinde. Wenn dies aber alles wäre, wenn Zelle und Gemeinde sich selbst genügten, dann geriete Kirche ins tausendfältige Getto, sie würde zur Sekte, zum introvertierten Club. Ihre Aufgabe des Zeugnisses in Welt und Gesellschaft und ihre übergreifende Einheit im selben Zeugnis für denselben Herrn und seine selbe Liebe wären gefährdet. Gewiß bedarf Kirche der lebendigen Gleichzeitigkeit ihrer Glieder miteinander in der einzelnen Gemeinde, aber sie bedarf eben- [136] so der Gleichzeitigkeit aller Gemeinden in der einen Sendung und im einen Zeugnis.

Die genannten Probleme heutiger Ekklesiologie, die sich praktisch und theoretisch in vielerlei Einzelfragen ausfalten, haben wiederum den Ansatz zu ihrer Lösung in der Liebe als dem hermeneutischen Prinzip für die Kirche.

Die Liebe Gottes ist ein für allemal in Jesus Christus erschienen, und dieses „Ein-für-allemal“ erfordert eine unumkehrbare geschichtliche Kontinuität, eine unverfügbare Tradition, in welcher der Anfang lebendig, maßgeblich und unverfälscht gegenwärtig bleibt. Die institutionell gesicherten, unverfügbaren Grundstrukturen des Amtes, des Sakramentes, der Lehre dürfen aber nicht als Selbstzweck, sie müssen als die Präsenz der unüberholbaren Liebe Gottes verstanden werden. Gerade darum aber kann Institution nicht mehr sein als Ansatz dazu, daß Liebe neu zum Ereignis, zum Leben hier und jetzt werde. Institution und Ereignis, unverfügbare Struktur und je neues Eingehen auf die Stunde müssen sich in der Kirche ergänzen; jede Einseitigkeit, jede Beschränkung auf nur einen Pol dieser Spannung verkännte die Grundstruktur der Gleichzeitigkeit Gottes mit der Menschheit, die in der Kirche geschehen soll.

Dasselbe gilt für das Verhältnis zwischen Einzelgemeinde und übergreifendem Zusammenhang kirchlichen Lebens. Das intensive Miteinander und das extensive Dasein für alle schließen einander nicht nur nicht aus, sie bedingen einander. Das Erleben und die Erfahrung der Gemeinschaft im überschaubaren Kreis und aus freiem Impuls hat das Kriterium seiner Glaubwürdigkeit gerade darin, daß Gruppe und Kreis sich und ihr Eigenes zu verschenken wissen ans Ganze und im Ganzen ihren Sinn und ihren Rückhalt finden. Dieses Ganze seinerseits muß sich freilich bewähren als der Raum, der Freiheit und Intensität, Ereignis und Gemeinschaft nicht verschließt, sondern eröffnet und umfängt. Nur jene Ekklesiologie wird die Identität mit dem Ursprung und der Geschichte wahren und den Weg der Kirche in die Gleichzeitigkeit mit der Welt von morgen eröffnen, die die ganze Spannung der Liebe in sich trägt, deren Sakrament Kirche ist.