Karlsfestpredigt 1976, 25. Januar
Kommentar zur Predigt
Von Josef Schreier
Als Klaus Hemmerle diese hier erstmals veröffentlichte Predigt hielt, war er noch nicht einmal ein Vierteljahr lang Bischof von Aachen. Erst am 30.10.1975 hatte er die bischöfliche Jurisdiktion über das Bistum übernommen, am 8.11.1975 war er im Aachener Dom feierlich zum Bischof geweiht worden. Mit Stadt und Bistum Aachen hatte ihn bis dahin keine intensivere Beziehung verbunden. Das erste Karlsfest, das er als Bischof mitfeierte, konfrontierte ihn nun aber schon nach wenigen Wochen mit dem genius loci seiner Bischofsstadt und stellte auch für seine homiletischen und hermeneutischen Fähigkeiten eine besondere Herausforderung dar.
Karl der Große war für Hemmerle als Theologen und Kirchenmann bis dahin sicher keine feste Größe gewesen. Würdigungen oder gar Wertungen im Feld der realen Geschichte (und entsprechend auch der Politik) waren Hemmerles Sache ohnehin nicht. Für ihn stand im Mittelpunkt seiner kritisch-besorgten Reflexion viel eher das Thema der „Geschichtlichkeit“ im Sinne seines Lehrers Welte und, dahinterstehend, Heideggers. Für den Theologen war dies genauerhin die Besinnung auf das „Geschick“ des christlichen Glaubens durch die verschiedenen geschichtlichen Erscheinungen des Christentums hindurch und darin gerade der Blick auf jene – wie es in der Predigt heißt – „erschreckende Erfahrung, daß das auseinander gebrochen ist, was einmal eins war“. Für das, „was einmal eins war“, steht der Name Karl der Große nach Art eines personalen Symbols ein – Symbol freilich einer Einheit, von der uns – aus einer fundamental anderen Erfahrung heraus – nicht einmal mehr ein Begriff oder eine Beschreibung zur Verfügung steht.
Denn: „Der Weg des großen Karl ist uns versagt.“ So sagt Bischof Hemmerle apodiktisch. Man könnte fragen: warum eigentlich ist das so? Oder: welches Geschick äußert sich darin, daß solches heute gesagt werden muß? Der Grund ist offenbar der, daß Christentumsgeschichte als Machtgeschichte gescheitert ist. Zwar hätte die feinfühlige Interpretationskunst Klaus Hemmerles vor einer so eindeutigen Diagnose jederzeit zurückgeschreckt, für ihn ist „das Licht der Einheit“, das uns heute noch anzieht und bewegt, „dasselbe geblieben“, hat also auch damals Menschen und Herrschern wie Karl dem Großen ebenso wie uns heute voran geleuchtet. Und doch muß unser Weg zur Einheit ein grundsätzlich anderer sein.
Nur wenige Zeit nach der Karlspredigt hat Bischof Hemmerle einen solchen Weg eigens beschrieben. Er geht dabei von einem anderen und doch analogen „Erschrecken“ aus, nämlich dem von Blaise Pascal beschworenen Erschaudern des Menschen „vor dem Schweigen der unendlichen Räume“. Pascals berühmte Notiz signalisiert in Hemmerles Deutung dieses scheinbar zunächst nur kosmologische Erschrecken als umgreifende Erfahrung und Befindlichkeit des neuzeitlichen Menschen, der „nur noch auf die Stimme dessen hört, was er aus eigener Kraft sprechen und errechnen kann“, aber eben dadurch in Einsamkeit, Isolation, Schweigen und Verlassenheit gestoßen wird, ja im Grunde sich selber stößt. Einem solchen Menschen ist dann aber nur so zu helfen, daß ihm ein Gott erfahrbar wird, der selbst in diese Isolation mitgeht und sie mit-leidet. Und weil tatsächlich „die höchste Offenbarung Gottes, der die Liebe ist“, in der Gestalt Jesu als des Verlassenen uns sichtbar wird, ist auch der Weg des Christen derjenige in die Verlassenheit, das Durchtragen und Mit-Leiden all der Verlassenheit, die das geschichtliche Schicksal des heutigen Menschen mit sich bringt. Erst in solcher Solidarität, die auch „dem Letzten und Ärmsten Bruder“ wird (vgl. Lesart nach V), leuchtet das „Licht der Einheit“ neu.
Wenn Klaus Hemmerle in einem ähnlichen Zusammenhang einmal von der „Spiritualität des Nullpunkts“ sprach, so wehrte er damit auch eine theologische und spirituelle Mentalität ab, die in mancher Hinsicht wohl selber „aus eigener Kraft sprechen und errechnen“ zu können vermeinte, – eine Theologie also, die auf (vielleicht ihr selber) verborgene Weise die erstrebte „Einheit“ unter dem Aspekt der „Macht“ erzwingen wollte. Dem steht aber wiederum „das große Erschrecken“ gegenüber angesichts der Diskrepanz zwischen beanspruchter Macht und tatsächlicher „Ohnmacht“, zwischen totalisierender Einheit und gleichzeitiger Sinnleere des Einzelnen. Hemmerles Beispiel ist im angesprochenen Kontext zwar das des Philosophen Hegel, aber – so fragt man sich unwillkürlich – gilt das dort Gesagte nicht doch auch im Hinblick auf eine bestimmte Art triumphalistischer Theologie und Kirchentum? Denn noch so festgefügte (Macht-) Strukturen erweisen sich doch zuletzt als ohnmächtig angesichts fundamentaler Sinn-Not. Zwar ist alles geregelt, alles durchgeplant: „alles ist gedacht – aber wo ist die Wirklichkeit?“ Eben die Wirklichkeit realer Not und die Not wirklichen Daseins stört die nur statuierte Einheit auf. Freilich: aus genau „diesem Erschrecken gebar sich die Wende zur Praxis“ – und damit ist nicht nur, wie im Kontext der Stelle, die Entstehung des Marxismus aus den Aporien der Hegelschen Totalphilosophie umschrieben, sondern es ist eben auch eine grundlegende Wende im Bereich spiritueller Erfahrung bezeichnet.
Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, daß Bischof Hemmerle auf dem gedanklichen Weg zu seiner ersten Karlspredigt, in der Reflexion auf die Ohnmacht der Macht, die in der distanzierten Vergegenwärtigung des „Vater(s) des Reiches“ sich bemerkbar machte, auf die Gestalt stieß, die die heutige Glaubens-Situation für ihn im Gegenbild symbolisierte: die „Mutter der Armen“, Franziska Schervier. Die Gründerin der Armen-Schwestern, war gerade knapp zwei Jahre zuvor, am 28. April 1974, von Papst Paul VI. seliggesprochen worden. Sie war eine herausragende Gestalt unter den vielen Gründerinnen sozial-karitativer Ordensgemeinschaften im 19. Jahrhundert gewesen; ihr Grab in der Kapelle des Mutterhauses ihrer Gemeinschaft an der Aachener Kleinmarschier Straße muß wohl für den neuen Aachener Bischof Hemmerle zu den ersten geistlichen Orientierungspunkten in seiner Bischofsstadt gehört haben. An ihrer Gestalt schien Hemmerles Intuition der kenotischen Einheit zwanglos und überzeugend ablesbar.
Diese Einheit aus der Solidarität mit den Verlassenen ist – mit der politischen Einheit des großen Karl verglichen – eine solche der Ohn-Macht, eine von unten allererst anfangende Einheit, eine, die ihre Parusie erst noch erwartet. Es fällt auf, daß Bischof Hemmerle gegen Ende seines Lebens immer wieder vom adventlichen Charakter des christlichen Glaubens und seiner Geschichtserfahrung sprach und diesen Gedanken oft mit dem Bild des Kaiserthrones im Aachener Münster verband. Von der Einheit, die dieser Thron symbolisiert, nahm der Bischof deutlich Abschied: „Der Thron des Kaisers Karl ist leer, vermutlich bleibt er leer bis zur Ankunft des Herrn.“ „Daß Sinn, daß Gemeinschaft, daß Zukunft sich schenken“, läßt sich inskünftig nicht mehr „aus eigener Kraft … errechnen“, sondern kann nur in liebender Ohn-Macht, „in jener Gesinnung der Armut, … die sich beschenken läßt“, entgegengenommen werden.