Geistlich heißt weltlich
Konkret mit dem Wort leben
Die geistlich-weltliche Spiritualität des Wortes bleibt nur dann kein leeres Postulat, wenn wir die konkreten Schritte setzen, in welchen wir dieses Wort in uns aufnehmen, in uns Fleisch werden und in uns Frucht tragen lassen.
Es sind zumal fünf Schritte notwendig. Es fängt damit an – dies also der erste Schritt –, daß wir hören lernen.
Hören ist schwieriger als reden, doch nur wer hören kann, vermag auch wahrhaft zu sprechen. Hören erfordert zumal, daß ich leer bin von mir selbst. Ich muß mich, mein Interesse an mir selbst, mein Angefülltsein von mir selbst verlieren können, ich muß still werden können, damit ich nicht nur reagiere, sondern damit das Wort mich, wahrhaft mich berührt und in mich eingeht. Hören geschieht dort, wo das Wort, das auf mich zukommt, in jenes Wort hineintrifft und sich mit ihm verbindet, das in mir ist. Zutiefst heißt hören, daß das Wort, das in mich kommt und das Wort, das in mir ist, ein und dasselbe Wort werden. Zu dem Wort, das in mir lebt, komme ich aber nur, indem ich mich wegwende von mir selbst, herausgehe aus mir selbst. Ich muß wahrhaft durchstoßen zu meinem Wort, zu dem Wort, in dem ich geschaffen und bis zum äußersten geliebt bin. Ich bin aber geschaffen aus dem Nichts, ich bin geliebt ohne Grund. Und eben darum muß ich selber jenes Nichts werden, jene grundlose Leere, die sich nicht von sich, sondern vom Wort erfüllen läßt. Nur wenn ich diese Leere bin, kann auch das Wort des anderen in seiner Fülle, in seiner unverkürzten Wahrheit in mich eintreten, nur dann geht es nicht verloren, sondern trifft auf jenen Grund, [317] der es birgt, der ihm Boden ist, in welchem es Frucht bringt.
Damit hat Hören aber zwei Richtungen. Einmal ist es Hören des Wortes, das mein Nächster mir sagt. Ich suche Gottes Wort nicht nur, wenn ich Bibel lese oder Predigt höre, ich höre Gottes Wort dann, wenn der andere sein Wort, wenn der andere sich selbst mir sagen kann. Du, mein Nächster, der mir jetzt begegnet, bist das Wort, das in diesem Augenblick Gott zu mir sagt. Und wenn ich dich übersehe und an dir vorbeihöre, dann stehe ich nicht in jener lebendigen Verbindung mit Gott, die mich seines Wortes wahrhaft fähig macht. Doch nicht weniger scharf gilt das Umgekehrte: Nur wenn ich andauernd über die Umstände und Eindrücke hinaushöre auf das, was Gott im „Klartext“ seines Wortes mir zu sagen hat, nur dann, wenn ich mich in sein geoffenbartes Wort hineinwende, stoße ich in jene Tiefe durch, in welcher ich des Wortes Gottes in mir und dir fähig bin. Gottes Wort in der Schrift ist die Exegese meines Nächsten und meiner Welterfahrung, mein Nächster und meine Welterfahrung sind die Exegese des Wortes Gottes in der Schrift. Zu beiden hin ausgespannt, höre ich aber auch allererst das Wort in mir, das Wort, das ich vom mich schaffenden und erlösenden Gott her selber bin.
Ein zweiter Schritt heißt: das Wort kennen.
Das meint ein bißchen mehr als bibelfest sein. Es meint vertraut sein mit dem, was Gott mir zu sagen hat – und dieses Vertrautsein hat wiederum zwei Richtungen, Vertrautheit mit dem Wort Gottes in der Schrift und Vertrautheit mit dem Wort Gottes im Nächsten, im Leben, in der Erfahrung. Wenn ich etwa auf der Straße recht rasch die Leute erkenne, dann habe ich ein geübtes Auge. Ich kenne sie nicht nur so, wie man sie von einem Foto her kennt, sondern ich habe beobachtet, wie sie sich bewegen, wie sie auftreten – und darum kann ich auch auf eine Entfernung, in der ihre Gesichtszüge noch nicht deutlich sind, bereits wissen: hier kommt der oder jener auf mich zu.
Eine solche Aufmerksamkeit auf das Wort Gottes ist auch die Voraussetzung dafür, daß ich dieses Wort wahrhaft kenne. Ich weiß, wie es daherkommt, ich weiß, wie es auf mich zugeht, mich anspricht. Nur dann, wenn ich mich so vertraut mit ihm mache, hat es zugleich die Macht, mich je neu zu treffen, mich je neu zu überraschen. Nur wer einen anderen schon gut kennt, kann die Veränderung, kann das Neue, kann das Unerwartete aus seinen Zügen ablesen. Nur er weiß, was mit dem anderen los ist.
Doch das heißt: Gottes Wort nicht nur von mir her, sondern es von sich her in meiner Aufmerksamkeit begleiten. Ich höre auf das, was von sich her Gottes Wort mir sagen will. Ich lerne, nicht mehr nur von mir auszugehen, sondern von ihm: Was schenkt von sich aus dieses Wort mir, was fordert von sich aus dieses Wort von mir?
Gegenwärtig fürs Geschenk und für die Anforderung des Wortes Gottes – dieselbe Haltung ist auch Bedingung dafür, daß ich das Wort Gottes, das im anderen ist und das der andere ist, das in den Dingen und Situationen ist und das sie selber sind, erkenne. Es geht also darum, nicht mehr von mir aus, von meinen Erwartungen, Bedürfnissen und Gewohnheiten aus den anderen zu beurteilen, sondern ihn von sich aus auf mich zukommen zu lassen. So werde ich hellhörig für das, was der andere mir schenken will; ich entdecke in dem, wie er ist und was er ist, ein verborgenes Geschenk für mich – und gerade so geht er mir erst auf. Zugleich aber werde ich hellhörig für das, was der andere von mir erwartet, und was er von mir braucht, was ich – ob er es weiß und will oder nicht weiß und nicht will – ihm schuldig bin.
Nun freilich setzt der entscheidende dritte Schritt ein: das Wort leben.
Ein solches Hören und Kennen des Wortes Gottes in der Schrift und im Nächsten kann nicht dabei stehenbleiben, daß ich mich intellektuell oder mit der Askese des bloßen Willens auf dieses Wort einlasse. Nein, ich muß mich, mein ganzes Dasein in dieses Wort „investieren“. Ich weiß es doch: das Wort, das Gott mir in der Schrift sagt, das Wort, das er mir im Nächsten und in den Umständen sagt, das Wort Gottes, das mich sagt, das mich zu dem macht, der ich bin, ist ein und dasselbe Wort. Die scheinbar verschiedenen Worte sollen sich in meinem Hören, in meinem Erkennen und Kennen miteinander verbinden. Diese Verbindung selbst aber muß eine lebendige, eine Verbindung des Lebens und im Leben sein. Ich habe Programme zu erfüllen, Terminkalender abzuarbeiten, Stundenpläne zu persolvieren. Meine gute Zeit geht mir damit verloren, [318] und ich bin heilfroh, wenn ich endlich wieder einmal ein bißchen Zeit habe für mich. Aber in dieser „Zeit für mich“ kommt irgendein zufälliges Angebot auf mich zu, also doch wieder ein Programm, und wenn es nur das Fernsehprogramm wäre. Diesen entfremdenden Programmen kann ich nur entkommen, will sagen, ich kann sie nur dann bestehen und ihnen ihren positiven Sinn abgewinnen, wenn ich ein anderes „Programm“ zu meinem wahren Programm mache: eben das Wort, das mich mich und alles sein läßt. Mein Terminkalender ist Gottes Wort. Meine Speise ist es, sagt Jesus, den Willen – also das Wort – dessen zu tun, der mich gesandt hat (vgl. Joh 4,34).
Auch für uns kann das nicht anders sein. Und es hat wiederum ein doppeltes Gesicht: einmal eben das Gesicht meines Nächsten, das Gesicht meiner jeweiligen Situation. Du, dieser Nächste, der mir begegnet, das, was mir der Augenblick zuweist, ist meine Speise, mehr noch, ist mein Leben. Dich übernehme ich, dich lebe ich – und darin lebe ich Gottes Leben selbst. Ich habe keinen Grund, nervös und ungeduldig zu werden, weil mir andauernd etwas, was ich nicht will, dazwischenkommt. Alles was mir dazwischenkommt, kommt „wie gerufen“, es kommt als Wort auf mich zu, als das Wort, das zu leben der einzig wahre Inhalt meines Lebens ist. Dies macht mich frei von mir und frei für die Welt. Dies macht mich leicht und locker und macht mich zugleich je ernst, je einsatzbereit. Das heißt keineswegs Planlosigkeit, Zufälligkeit, aber die Kraft, eigene Pläne zu relativieren, Zufälle nicht als sinnlose Widerstände, sondern als wahrhafte Augenblicke zu verstehen. Solche Einstellung wird mir aber nur gelingen aus der andauernden, je neu augenblicklichen Orientierung am unmittelbar in der Offenbarung mir zugesprochenen Wort Gottes. Dieses Wort ist mir – wir betonten es schon – die Lesehilfe für mein Leben, für alle seine Anforderungen und Begegnungen. Dieses Wort wird mich davor bewahren, daß ich nicht nur die Lieblingsideen meiner selbst hineinlese in mein Leben, sondern mich in allem, was mir widerfährt, umdrehen, ins Lot bringen lasse von Gott her. Nur dieses Wort wird mich also aus dem Gefängnis meiner eigenen Horizonte und Erwartungen herausführen.
Aber wie soll ich dieses Wort leben? Am ehesten wohl so, daß ich es wirklich zum „Rollenbuch“ meines Lebens werden lasse, daß ich mein Leben als ein Schauspiel verstehe, in welchem ich das Wort aufführen soll, das mir in Jesus Christus gesagt ist, daß ich Wort für Wort hineinnehme in meinen Alltag, um es im Stoff dieser Alltäglichkeit zu bewähren.
Das scheint ein bißchen naiv und nicht so leicht verträglich mit einer modernen Exegese. Aber ist es nicht diese moderne Exegese, die mir sagt, daß die Worte der Schrift aus dem Kontext gelebten Lebens, aus dem Kontext des glaubenden Umgangs der Gemeinde mit dem Worte Gottes erwachsen sind? Ist es nicht diese moderne Exegese, die es uns deutlich macht, wie wenig wir in der Schrift bloße Informationen vorliegen haben, wie sehr sie Zeugnis ist, Zeugnis aus dem Leben und fürs Leben?
Der dritte setzt wie von selbst den vierten Schritt: Das Wort leben wir nur dann ganz, wenn wir es nicht nur privat und als einzelne, sondern wenn wir das Wort miteinander leben. In der gemeinsamen Nachfolge ist das Wort der Offenbarung zu jener Gestalt gekommen, in welcher es uns überliefert ist. Gottes Wort ist Ja-Wort, als solches Jawort ist es „Für-wort“. Gott ist für uns, wir sind für ihn, wir sind füreinander. Nur dann gewinnt sein Wort in uns Gestalt, wenn dieses „für“ Gestalt gewinnt. Und dieses „Für“ vollendet sich im „Mit“. Wir sollen – um zum vorhin gebrauchten Bild zurückzukehren – nicht nur als „Einmann-Theater“ Gottes Wort aufführen, sondern als unsere gemeinsame Sache im gemeinsamen Spiel. Nur wenn wir einander dieses Wort zuspielen, es einander schenken, es voneinander lernen, entfaltet es sich, zeigt es seine Mächtigkeit und Tiefe. Der Austausch der Erfahrungen mit dem Wort, die gegenseitige Ermutigung durch das Wort, das gemeinsame Suchen des Weges, wie wir dieses Wort leben können: das ist die Schwelle, über welche das Wort Gottes treten muß, wenn es das Fleisch dieser Welt annehmen will.
Miteinander das Wort Gottes leben heißt aber miteinander das Wort weitergehen. Dies ist die fünfte Stufe der inneren Gemeinschaft mit dem fleischgewordenen Wort.
Daran, daß wir die Liebe haben zueinander, die Jesus zu uns hat, soll die Welt erkennen, daß wir seine Jünger sind; an unserer Einheit miteinan- [319] der, wie der Vater und der Sohn eins sind, erschließt sich der Welt die Möglichkeit, an die Sendung Jesu zu glauben. Das Wort ist Ja-Wort, es ist Wort der Liebe, dort wo die Liebe geschieht, ist gegenseitige Zuwendung, aber sie ist, davon unlöslich, Offenheit; die Offenheit zueinander, die das grenzenlose Ja Gottes zu uns bezeugt, ist zugleich Offenheit über den engen Kreis hinaus. Offenheit, welche das Ja-Wort Gottes als Wort für das Leben der Welt vollbringt und sichtbar macht.
Gemeinschaft schlägt so notwendigerweise um in Dienst, in Dienst an der Welt und der Gesellschaft im ganzen. Hier wird aus dem Geist das Wort ganz Welt, hier wirkt es hinein in die Welt, hier ist es fähig, aus dem Geist eine neue Welt zu schaffen – und gerade darauf kommt es an.