Christliche Spiritualität in einer pluralistischen Gesellschaft

Konkurrenzsituation des Pluralismus

Doch nicht nur in ihren Außendimensionen, nicht nur durch ihren Kontakt mit allen Epochen und Kulturen der Menschheitsgeschichte, sondern auch von ihren Innendimensionen her wird unsere Gesellschaft zu einer kritischen Anfrage ans Christliche. Der Stellenwert, den das Christliche im Leben unserer Gesellschaft einnimmt, entspricht nicht mehr jenem, den es im Leben des Christen hat: Mitte, die alles auf sich konzentriert. Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft, und das heißt in einer Gesellschaft, die nicht mehr zuerst durch gemeinsame Überzeugungen und Werte zusammengehalten [89] wird. Ihre Klammer ist vielmehr das Funktionierenmüssen. Der Zusammenhang von Produktion und Konsum schafft eine Abhängigkeit aller von allen, er bestimmt das ganze Leben. Die Gesellschaft kann nur noch das tolerieren, was das Funktionieren nicht stört. Es gibt einen unausweichlichen Zwang zum Mitspielen. Wer sich ihm entzieht, kommt nicht nur für sich selbst zu kurz, er gefährdet das Ganze.

So aber wird die Konformität des Funktionierens zur geheimen Norm, beinahe zum geheimen „Grundwert“ der Gesellschaft. Wie man die Welt versteht, welchen Sinn man dem Funktionieren beimißt, wie man sein Mitspielen motiviert, diese Fragen rücken ins zweite Glied. Einerseits wächst so der Freiheitsraum für die eigene Weltdeutung, für die eigene Sinnantwort; andererseits finden Deutungen und Antworten, die übers bloße Funktionieren hinausweisen, zusehends weniger Verständnis. Die Unfreiheit von direkter Fremdbestimmung in Fragen der Überzeugung und des Glaubens nimmt ab – aber ebenso nimmt ab die Freiheit zur positiven Selbstbestimmung der eigenen Überzeugung, des eigenen Glaubens. Ein Nachfolgeruf gar, der das ganze Leben beansprucht, rückt in den schiefen Winkel zu der Achse, um die das Leben in dieser Gesellschaft schwingt.

Eine Konsequenz daraus ist der Trend zur bloßen Teilidentifikation mit dem Christlichen. Was von seiner gesellschaftlichen Funktion her nicht mehr als Zusatzangebot sein darf, mit dem geht man wählerisch um und von dem nimmt man sich das heraus, was eben gefällt, was nützlich, was zumutbar ist. Nachfolge freilich läßt nur Totalidentifikation zu; diese aber gerät in einer pluralistischen Gesellschaft notwendig unter Ideologieverdacht.