Christliche Spiritualität in einer pluralistischen Gesellschaft

Konsequenz für den einzelnen

Die Mitte des Christlichen will die Mitte unseres Lebens, ja, unvertretbar und ganz persönlich, meines Lebens werden. Dann aber kommen für mich vier Grundhaltungen und Grundsichten nicht mehr in Frage.

Es gibt keine Auswanderung aus der Banalität irdischer, geschichtlicher Alltäglichkeit in ein Niemandsland des Geistes, in ein Reich der Gedanken, in einen Horizont bloßer Spiritualität, keine Haltung, in der wir die Welt Welt und die anderen die anderen sein lassen.

Es gibt auch kein Auf- und Untergehen in dem, was man die Gegebenheiten, die Realitäten nennt, im Erfahren und Erleben. Es genügt nicht, mit zu funktionieren, mit zu leisten, mit zu konsumieren, selbst wenn wir dabei christliche Interessen und Motive einspeisen. Weder der Logos noch die sárx, weder das Wort noch das Fleisch allein genügen dem Anspruch des Christlichen.

[104] Unsere christliche Hoffnung ist auch nicht Hoffnung auf ein totales Glück, das als Produkt aus der Weltentwicklung oder aus unserem Einsatz am Ende herausspringt – sowenig wie umgekehrt ein zeitkritisch distanziertes Warten, bis sich die christlichen Ideale und Maximen von allein durchgesetzt haben werden oder bis Gott das ohnehin unabänderliche Tränental zum neuen Himmel und zur neuen Erde verwandeln wird.

Die christliche Alternative heißt: sich einlassen auf das Wort, das im Fleisch zu uns gekommen ist, dieses Wort die Mitte und den Bezugspunkt unseres ganzen Lebens werden lassen.

Das heißt zunächst einfach: das Wort tun, es leben, ihm die Chance geben, in uns Fleisch zu werden. Ja der für uns Fleisch geworden ist, will in uns Fleisch werden. Sein Hinsein zum Vater, seine Hingabe für die Welt, seine Gemeinschaft mit den Menschen, sein Dienst und seine Entäußerung wollen sich inkarnieren in unserem Glauben, Bekennen und Bezeugen, in der Unbeirrbarkeit unseres Vertrauens, in der Unbesiegbarkeit unserer Hoffnung, in der Treue unseres Durchtragens, in der Torheit unseres Dienstes. Die erste und grundlegende Dimension heißt also: Orientierung meines Lebens auf Jesus Christus als die Mitte, Eintreten durch die lebendige Beziehung zu ihm in seine Beziehung zum Vater.

Das schließt unabweisbar eine zweite Dimension mit ein: Wir haben nur dann lebendig mit ihm Kontakt, wenn wir den Kontakt nicht scheuen mit denen, die auch an ihn glauben, die – noch so armselig und unscheinbar – jenes Wir der Zeugenschaft sind, Kontakt mit der konkreten Gemeinschaft von Kirche. Leben mit der Mitte heißt eben leben in einer Peripherie. Wir können uns nicht bloß zu einer Mitte als Mitte verhalten, wir brau- [105] chen unmittelbare Tuchfühlung mit denen, die mit uns den Umkreis der einen Mitte bilden. Das prós, das Hinzu, welches das Verhältnis Jesu zum Vater bestimmt, will auch der Rhythmus meines Verhältnisses zu meinen Brüdern sein.

Davon läßt sich die dritte Dimension nicht trennen. Aus seinem Hinsein zum Vater erwächst dem Sohn die Hinwendung zur Welt, der Mut zum Fleisch. Wer um die Mitte Jesus schwingt, der bleibt nicht beruhigt in seiner Bahn, sondern er erfährt die Sprengkraft dieser Mitte, er kann nicht der Sendung zum Sich-Veräußern, zum Dienst an der Welt entgehen. Der Mut zur Inkarnation darf nicht haltmachen beim geschlossenen Kreis der Gemeinschaft des Glaubens; der Geist Jesu, in dem wir Herr und Vater sagen und in dem wir uns als Brüder zueinander erfahren, ist Geist, der den Erdkreis erfüllen will. Seine Dynamik, seine Universalität, die Kraft seiner Zuwendung duldet keine Grenzen.

Nicht nur die Dimensionen meines Daseins, sondern auch meine Grundvollzüge werden vom Ereignis der Fleischwerdung des Wortes bestimmt. Mein Verhältnis zu mir, zu meinem eigenen Dasein, mein Verhältnis zur Kirche, mein Verhältnis zu den anderen, zur Welt steht unter dem dreifachen Rhythmus: gestalten, leiden, hoffen.

Fleischwerdung ist Tun; das Wort will eingestaltet werden in die wirklichen Verhältnisse, will sie durchdringen, will in ihnen sichtbar werden. Aber solches Gestalten läßt sich nicht durchsetzen; es geschieht als Entäußerung, als Aushalten, Aushalten des Wortes, das stärker und größer ist als ich, Aushalten zugleich des Widerstands, der dem Wort und mir widerfährt, wenn ich mich dem Wort zur Verfügung stelle.

[106] Gegen alles Schnell-am-Ziel-sein-Wollen kann ich mir das Entscheidende nicht selbst verschaffen, ich kann es mir nur vom Wort schenken lassen. Und wenn ich dieses Wort nicht durchzusetzen vermag, sondern mit ihm in seine „Ohnmacht im Fleisch“ muß, dann kann es gerade in dieser Ohnmacht Gestalt gewinnen. Christliches Gestalten gelingt erst, wenn es nicht sich selbst vermag, sondern wenn es den Mut zum Leiden und die Tiefe des Leidens in sich birgt.

Solches Leiden freilich verharrt nicht in sich, es ist getragen von der unbesiegbaren Hoffnung. Das Entscheidende läßt sich nicht nur nicht machen, es läßt sich auch nicht erleiden; Gestalten und Leiden stehen unter dem Hoffen. Denn wichtiger als was durch mich geschehen kann und was durch mich nicht geschehen kann, ist jenes, was schon von Gott her geschehen ist, indem das Wort in Jesus Fleisch geworden ist.

Allein der Dreiklang von gestalten, leiden und hoffen läßt verlauten, daß das Wort wichtiger, größer ist als ich und als die Welt und daß doch ich und Welt ganz mit im Spiele sind.