Geistlich heißt weltlich

Konsequenzen für die katholischen Verbände

Als eine Reliquie aus großer Zeit katholischer Vergangenheit hätten die Verbände wenig Sinn mehr, jedenfalls wäre es unnütz, sich von ihnen Entscheidendes zu versprechen. Als Anlaufstelle fürs gemeinsame Leben des Wortes, als Anlaufstelle für einen Weg des Wortes aus dem Geist hinein in die Welt aber haben sie ihre brennende Aktualität. In der Perspektive des Wortes wird ihre zugleich geistliche wie welthafte Aufgabe deutlich. Dazu sollen noch knapp und skizzenhaft einige Thesen entwickelt werden.

So unterschiedlich die Schwerpunkte der einzelnen katholischen Verbände sind, so reich gefächert ihr Aufgabenkatalog ist, so schwer die Arbeit auf den verschiedenen Ebenen auch innerhalb eines einzelnen Verbandes – also sein Wirken vor Ort, in der Diözese, im Land und auf der Bundesebene, gar im internationalen Bereich – auf einen konkreten Nenner zu bringen ist, so muß eine Formel für die Spiritualität katholischer Verbände doch keineswegs im Abstrakten und Unverbindlichen bleiben. Die anthropologische und gesellschaftliche Situation, aber auch der Grundauftrag des Christen und christlicher Gemeinschaft, das Wort zu leben, es in die geschichtlichen Verhältnisse hinein zu bezeugen und der Gesellschaft aus dem Wort ein alternatives Angebot zu machen, dies steckt einen gemeinsamen Rahmen ab.

Erste These: Leben und Wirken eines jeden katholischen Verbandes und einer jeden Gruppe eines katholischen Verbandes haben drei Dimensionen: Der einzelne, der durch die Teilnahme am Leben des Verbandes und durch die Mitgestaltung dieses Lebens eine Hilfe zu seiner Identität als Mensch und Christ erhalten soll – die Gemeinschaft, die im Austausch, in der gemeinsamen Erfahrung, nicht nur in zweckhaftem Handeln, sondern in der er-lebten Kommunikation ihren menschlichen und christlichen Sinn bewähren soll, Alternative zum sprachlosen und bloß funktionierenden Nebeneinander der vielen isolierten einzelnen, Modell zugleich für jenes Versammeltsein im Namen Jesu, in dessen Mitte er selber ist, so aber lebendige Zelle jener göttlich-menschlichen Gemeinschaft, als welche Kirche sich versteht – nicht zuletzt aber Dienst am Menschen, Dienst am Nächsten, Dienst an der Gesellschaft und der Welt im ganzen, in welchem das bloße Befangensein im eigenen Interesse und im bloßen Kreislauf von Leistung und Konsum durchbrochen wird, Präsenz also des Ganzen, der Welt und der Gesellschaft im Lebenshorizont des einzelnen, zugleich Präsenz der dienenden Liebe, des dienenden Daseins Jesu im Ganzen von Gesellschaft und Welt. Der einzelne, die Gemeinschaft und die anderen, das Ganze: wo eine dieser drei Dimensionen zu kurz käme, wo eine nur für die andere verzweckt würde, da verlöre ein katholischer Verband an innerer Glaubwürdigkeit, an lebendiger Kraft.

Zweite These: Das Wofür katholischer Verbände hat auch seine Rückwirkung auf das Wie ihres Lebens und ihrer Arbeit. Hier geht es um ein Zusammenspiel des Sehenlernens, des Lebenlernens und des Gemeinschaftlernens. Anders gewendet: Theorie einerseits, religiöser Vollzug, geistliche Einübung andererseits und schließlich gemeinsames Handeln und Erfahren müssen und können einander im Leben katholischer Verbände integrieren. Der Brückenschlag zwischen Theorie, persönlichem Vollzug und der Gestalt gelebter Gemeinschaft wäre ein fälliger Beitrag katholischer Verbände zur inneren Erneuerung von Gesellschaft und Kirche.

[320] Dritte These: Das Wort, in dem alles geschaffen ist, das Wort, das Fleisch geworden ist, um uns zu erlösen und uns selbst zum Wort für die Welt werden zu lassen: die Einheit also zwischen dem Wort der Schöpfung und dem Wort der Offenbarung und Erlösung ist sinngemäß das Zentrum des Wirkens katholischer Verbände, die als „kirchliche Strukturen in der Gesellschaft und gesellschaftliche Strukturen in der Kirche“ wie kaum eine andere Gestalt kirchlichen Lebens dazu berufen sind, geistliche Tiefe und gesellschaftliche Wirksamkeit miteinander in Einklang zu bringen. Der Zusammenhang und Zusammenklang des Schöpfungs- und Offenbarungswortes bewahrt ebenso vor Trennung der Bereiche wie vor Integralismus. Der geistliche Stellenwert der Beschäftigung mit welthaften und gesellschaftlichen Problemen und die welt- und gesellschaftsprägende Kraft des Evangeliums kommen so gleichermaßen zum Zuge.

Vierte These: Die Gemeinschaft, die in einem katholischen Verband wächst, wenn er aus dem Wort lebt, läßt ihn zum Modell, zur Alternative gegenüber anderen Modellen und Konzeptionen von Gesellschaft und Gemeinschaft werden. Wo es ein verbindliches Wort gibt, da wächst der Sinn, der Mut und das Maß für Autorität, Sinn, Mut und Maß also dafür, daß einer dem anderen etwas zu sagen wagt, daß der einzelne die Initiative zu ergreifen wagt, daß es Verbindlichkeit gibt. Zugleich wächst der Sinn, der Mut und die Freiheit des Hörens, des Annehmens, der Solidarität, der Stellvertretung, der Mitverantwortung. Und schließlich wächst jene Einheit, die mehr ist als Kompromiß oder Sichfügen. In einem katholischen Verband soll sichtbar und erfahrbar werden, wie Menschen miteinander leben, miteinander sprechen, miteinander handeln können, wie sie Konflikte miteinander auszutragen vermögen, wie Einheit unter Menschen und unter Christen entsteht.

Fünfte These: Die unterschiedlichen Äußerungen und Vollzüge im Leben und Dienst katholischer Verbände erhalten von der Orientierung am Wort Gottes her ihre innere Konsistenz, ihre innere Einheit. Dieses Wort, das Wort in der Schrift und der Verkündigung der Kirche, das Wort in meinem Leben und im Leben des anderen, das Wort aber auch in den unterschiedlichen Sach- und Lebensbereichen der Gesellschaft erfordert – auch im Leben eines katholischen Verbandes – verschiedene Weisen der Beziehung, des Umgangs. Kenntnis, Gebet und Erfahrung sind hier die entscheidenden Stichworte.

Wir müssen dieses Wort kennen und erkennen, müssen es in einem katholischen Verband miteinander üben. Dieses Wort aber ist nicht eine bloße Idee oder gar Ideologie, sondern lebendig uns meinendes, ansprechendes Wort – und deswegen tut die ausdrückliche Antwort, tut die ausdrückliche Anrede, tut das ausdrückliche Gebet nicht nur für den einzelnen, sondern auch für die Gemeinschaft selbst not. Gemeinsamer Gottesdienst, gemeinsames Gebet, gemeinsames geistliches Tun sind nicht Zusatzübung, sondern Selbstvollzug dessen, was ein katholischer Verband ist. Schließlich soll die Gemeinschaft und der Dienst katholischen Verbandes aus diesem Wort leben – dann aber ist der katholische Verband Raum gemeinsamer Erfahrung mit diesem Wort. Zur gemeinsamen Erfahrung gehört notwendig, daß man sie miteinander austauscht. Im katholischen Verband müssen der Mut und die Fähigkeit eingeübt werden, einander die Erfahrungen in aller Diskretion weiterzugeben, die das gemeinsame Leben mit dem Wort erbracht hat. Katholische Verbände sollen ein Modell für die Überwindung der geistlichen Sprachlosigkeit unserer Gemeinden werden.

Sechste These: Sicher soll jede christliche Gemeinde, jede christliche Gemeinschaft auf die angedeutete Weise das Wort leben und weitergeben. Der besondere Auftrag und die besondere Chance katholischer Verbände bestehen nun aber darin, daß hier eine bestimmte Lebenssituation oder eine bestimmte gesellschaftliche oder kirchliche Aufgabe zum Ansatzpunkt der Gemeinschaft im Worte wird. Somit haben katholische Verbände auf je besondere Weise einen Beitrag zu einer umfassenden geschichtlichen „incarnatio verbi“ zu leisten.

Konkret könnte das so aussehen: Jeder einzelne Verband fragt nach dem ihn, seinen Auftrag, identifizierenden und unterscheidenden „Grundwort“. Wie die großen Ordensgründer beispielsweise im Leben der Kirche das ganze Evangelium auf der Spitze eines je besonderen Wortes, [321] in einer je besonderen Perspektive des einen umfassenden Evangeliums Gestalt werden ließen, so bieten sich auch in den einzelnen Verbänden unterschiedliche Dimensionen des Evangeliums als Einstieg in den jeweiligen Auftrag an. Aus dem Evangelium den besonderen Auftrag des eigenen Verbandes zu reflektieren, das scheint doch das Fundament für die spezifische Spiritualität eines katholischen Verbandes zu sein.

Freilich ist gleichzeitig ein anderes erfordert: das Suchen des Wortes, das sich gerade in der Situation dieser Gemeinde, dieser Zusammensetzung einer einzelnen Gruppe, dieses konkreten Aufgabenfeldes jeweils zuspricht. Schließlich gilt es, jeweils auf das ganze Wort zu hören – und in Zusammenarbeit mit Gemeinden und anderen Gruppen dafür Sorge zu tragen, daß das ganze Wort, sein unverkürzter Reichtum, Fleisch werde in der Kirche von heute für die Gesellschaft von heute.