Die Spiritualität des Fokolar und die Theologie
Konsequenzen für die Theologie*
[9] Dies hat nun weittragende Konsequenzen in der christlichen Theologie. Sie ist – dies aufzuzeigen würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen – schon in der Einheit und Vielfalt ihres Ursprungs in den Theologien des Neuen Testamentes gezeitigt aus dem Weg des Glaubens, der immer derselbe und doch ein jeweiliger ist. Der Christus des Markus und des Johannes, des 1. Korintherbriefs und des Hebräerbriefs sind der eine und selbe Christus, Kirche ist dort wie hier je dieselbe und eine – aber in bestimmten Wegverläufen und Weggenossenschaften entbirgt diese eine Wahrheit und Wirklichkeit erst ihre Fülle, die freilich symphonische Fülle, zusammenklingende Fülle, Fülle der Einheit und nicht Fülle trotz der Einheit oder gegen sie ist. Neue Theologie, lebendige Theologie, Gegenwart des Ursprungs in der Situation erfolgt aber immer nur aufgrund eines solchen glaubenden Mitgehens, Theologie ist im strengen Sinn des Wortes Glaubenswissenschaft, es ist wichtig, daß sie nicht zum Glauben einen intellektuellen Kontext sucht, sondern daß der Glaube selbst sein Licht sucht und findet und so hineinfindet ins Denken der Welt im Licht.
Auf zwei unterschiedlich gelagerte, aber miteinander verbundene Sachverhalte sei hier hingewiesen. Zum einen auf die Geschichte des trinitarischen und christologischen Dogmas während der ersten fünf Jahrhunderte. Was hier an Auseinandersetzung und begrifflicher Arbeit geschieht, um aus unterschiedlichen Facetten der Glaubenserfahrung und Glaubensaussage die Klarheit des verbindenden Bekenntnisses reflexiv zu gewinnen, ist genau jener Weg, den Gott einschlägt: Der ganze Gott und nicht eine zu Gott zusätzliche oder von ihm abzügliche Wirklichkeit treten ein in die Bewegung seiner Liebe auf uns zu – der ganze Mensch und nicht etwas vom Menschen oder indirekt zum Menschen hinzu tritt ein in diese Bewegung der Annahme. Der ganze Gott gibt sich – der ganze Mensch ist angenommen und übernommen. Die Ungeheuerlichkeit dieses Weges der Liebe, die herkömmliche Begriffe sprengt, beunruhigt das menschliche Denken, bis es sich diesem größeren Geheimnis läßt und in den Formeln von Nikaia, Ephesos und Chalkedon Gestalt gewinnt. Nur wenn der Glaube den ganzen Weg Gottes aus [10] seinem innersten Herzen bis in unser innerstes Herz hinein mitgeht, ist er fähig, sich in theologisch gültige Aussage zu verfassen. Dies ließe sich auch an anderen Dogmenentwicklungen aufzeigen.
Der zweite Sachverhalt: Wo große Theologie entstand, da ist sie in der Geschichte schier immer der Ausdruck einer geistlichen Erfahrung, eines konkreten geistlichen Weges gewesen, der freilich seine innere Plausibilität und das Gespräch mit dem Ganzen des Lebens und Denkens der Kirche suchte. Wie könnte ohne die personale Erfahrung von Gnade und Freiheit im rufenden Erbarmen Gottes Augustin seine Theologie entwickelt haben? Wie wäre ohne den benediktinischen Geist des Gebetes das Proslogion des Anselm von Canterbury zu denken, welches das je Größere Gottes als die Plausibilität Gottes ins Denken einbringt? Wie wäre ohne den franziskanischen Untergrund ein Bonaventura zu verstehen? Wie entscheidend ist die missionarische und meditierend das Überkommene aufgreifende dominikanische Spiritualität oder die Glaubenserfahrung einer Juliana von Lüttich der Hintergrund für die Gedanken eines Albert und Thomas! Geistlicher Weg zeitigt die Sicht von Ursprung, Ziel und Landschaft, die er verbindet, die Sicht des Ganzen, daß es selber und doch konkret, in bestimmter Perspektive, anschaubar wird. Jede Zeit braucht ihren Weg oder ihre Wege der Nachfolge, um das eine und je selbe Evangelium je neu, je unter dem Blickwinkel des in dieser Stunde Fälligen und Möglichen zu sehen.
Alle geistlichen Wege, die theologisch relevant wurden, haben bei näherem Durchsehen, wenn auch mit unterschiedlicher Ausprägung, drei Komponenten: Sie sind Wege, wie das Geheimnis Gottes und Christi aufgeht – sie sind Wege der Kirche, Wege, wie Miteinander aus dem Evangelium geht und sich ins Ganze einfügt – sie sind Wege in die Welt, Wege in Fragestellungen, Erfahrungen, Krisen und Horizonte je gegenwärtiger Erfahrung hinein. Darin aber [11] spiegelt sich die dreifältige Wegrichtung des Weges, welcher der Weg der Offenbarung und Erlösung selber ist. Dieser ist der Weg der sich verschenkenden Liebe ad extra: der Vater sendet den Sohn, gibt den Sohn dahin, der Sohn geht im Geist des Vaters hin zu den Menschen, hinein in den Tod und in die Verlassenheit. Diesen Weg geht der Sohn in der Liebe zum Vater, im Gehorsam gegen den Vater, und so ist dieser Weg jeden Augenblick und in seiner Gesamtrichtung zugleich Weg hin zum Vater, Weg, auf welchem der Sohn uns den Zugang zum Vater im Geist erschließt, uns hineinnimmt in das Leben mit dem Vater und in die Herrlichkeit des Vaters. Und schließlich ist dieser Weg Weggemeinschaft, in welcher der Geist uns mit dem Sohn und miteinander zusammenbindet. Nur in der Weggemeinschaft derer, die eins sind in Jesus und seinem Geist, in der Weggemeinschaft Kirche vollendet sich Gottes Weg; unser Gehen zueinander und miteinander ist nicht Zusatz zu Gottes Werk der Erlösung, sondern Ort, an dem diese Erlösung und die Offenbarung ankommen, sich bezeugen und Gestalt werden in der Welt und für die Welt. Geistliche Wege, Wege der Nachfolge sind Wege der Liebe Gottes in die Welt, sind Wege zu Gott und Wege zueinander. Wir holen an dieser Stelle unsere anfänglichen Beobachtungen über die Theologie unserer Epoche und das Vermächtnis ihrer großen Namen ein.
Nun aber die drängende Frage: Zeichnet sich in dieser unserer Epoche ein Weg ab, der von seiner inneren Struktur her danach drängt, Theologie heute, Theologie für heute zu entbinden und zu werden? Ein Weg, der nicht aus der Analyse des Zeitalters, sondern aus jenem einfältigen Annehmen und Hören des göttlichen Rufes erwachsen ist, das immer am Anfang geistlicher Wege stand? Ein Weg, der ebenso die Signatur des Zeitalters in sich aufnimmt wie die Fülle und Ursprünglichkeit des Evangeliums verkörpert?
Ich muß gestehen, daß für mich in der Tat diese theologische und zeitanalytische Fragestellung und meine persönliche Begegnung [12] mit dem geistlichen Weg des Fokolar von innen her zueinanderführten und ich eine tiefe innere Entsprechung wahrnehme, die mir Anruf, Aufgabe und Chance nicht nur für Mitglieder einer Bewegung, sondern darüber hinaus zu bedeuten scheint, wie dies ja jeweils bei den geistlichen Bewegungen und den Theologien in der Kirche der Fall war, die aus ihnen geboren wurden.
Bevor ich versuche, dies in einigen wenigen Strichen aufzuzeigen, möchte ich nochmals ganz knapp den Ertrag der bisherigen Überlegungen zusammenfassen. Die Theologie, die als Impuls und Maß in unsere Epoche hineinwuchs, weiß um den inneren Zusammenhang zwischen geistlichem Weg und theologischer Erkenntnis. Sie hat die beiden Schwerpunkte: Neugewinn und Vertiefung der Gemeinschaft des Glaubens, Begegnung und Dialog mit einer anders gewordenen Welt der Wirklichkeit und des Gedankens heute.
Die Krise, die indessen sowohl in der Theologie heute wie in der kirchlichen und gesellschaftlichen, ja weltweiten Erfahrung anzutreffen ist, zeigt sich als Krise der Einheit. Bloße Summierung einzelner Wahrheiten ergibt nicht jene eine Wahrheit und jenen einen Lebensraum, ohne die wir Welt nicht verstehen und Geschichte nicht bestehen können. Ideologie, systematisch konstruierte Einheit aus einem isolierten und absolut gesetzten Vorurteil heraus, ist die andere Weise falsch verstandener Einheit. Ja, näher betrachtet, liegt Ideologie auch dem anderen, bloß additiven Einheitsverständnis zugrunde. Es geht also darum, wahre Einheit, Einheit in der Wahrheit zu finden. Diese Suche nach der Einheit ist nicht nur die entscheidende Aufgabe für Theologie und Kirche, sondern die geschichtliche Aufgabe unserer Epoche. Als Christen glauben wir, daß solche Einheit nur wachsen kann auf einem Weg des Geistes. In Gottes Offenbarungs- und Erlösungswirken und in der Weise, wie es in der Kirche lebendig bleibt und je neu lebendig wird, begegnet uns die Alternative wahrer Einheit. Sie ist Einheit, die eben auf dem Weg der Liebe, [13] aus Gottes freiem Aufbruch – zu uns, aus unserer glaubenden und liebenden Antwort und in unserer glaubenden und liebenden Gemeinschaft erwächst. Die Frage geht also nach einem geistlichen Weg, der solche alternative Einheit aus der Mitte des Evangeliums als einen Weg des Denkens und des Lebens in unserer Zeit erschließt.
Vielleicht ist es an dieser Stelle gut, einfach einmal dreimal zwei Entdeckungen zu nennen, die ungeplant und unvorhersehbar zum Weg des Fokolar hinführten, ihn konstituierten.