Theologie als Nachfolge
Konsequenzen für heute
Tragen wir nach dem Durchgang durch die Texte aus Reductio und Hexaemeron als Fazit zusammen, was die Wissenschaftslehre Bonaventuras unserem heute so andersgearteten Verständnis zu sagen hat. Der Einstieg für den Dialog zwischen heutiger Wissenschaft und bonaventuranischem Verständnis könnte sein „modellhaftes“, „exemplarisches“ Denken sein. Das Ideal von Wissenschaft ist heute nicht mehr so sehr das der kausalen Totalerklärung; Modelle, die eine möglichst breite und doch möglichst konkrete Integrationskraft haben, Modelle, die außer deduktiven auch produktive, entwurfhafte Momente enthalten, scheinen am ehesten die je größere Annäherung an das, was sich zeigt, zu ermöglichen. Der einer Theologie aus dem dreifachen Schriftsinn entlehnte Dreischritt von Genetik, Nomik und Synthetik, zumal die Anwendung dieses Dreischritts auf den Außenbezug der Wissenschaft, der jedoch ihre jeweilige Sache und ihre jeweilige Methode unverkürzt miteinbezieht, ja ihnen konstitutiv zugehört, deutet Bonaventuras Entwurf als eine Alternative zu den Engführungen einer bloß neutralen und immanenten und einer bloß engagierten und praxisbezogenen Wissenschaft an. Der Kontrast zwischen der einen Kreisbewegung, in der Bonaventura alle Wissenschaften und ihre zugehörigen Sachbereiche durchschreitet, und der Kreisbewegung in jedem Bereich und jeder Wissenschaft um die je eigene Mitte gibt uns einen wichtigen Hinweis: Eigengesetzlichkeit, Eigenmethodik verschiedener Wissenschaften und universales Gespräch, umfassender [133] Zusammenhang zwischen den Wissenschaften schließen einander nicht aus, sondern fordern sich gegenseitig. Weil der Hinblick jeder Wissenschaft auf den Menschen und über den Menschen hinaus aufs Ganze geht, gehören die Wissenschaften zusammen in der Verantwortung für den Menschen und im Bedenken der gemeinsamen Grundlagen im Ganzen; weil es jeder Wissenschaft auf andere Weise um den Menschen und ums Ganze geht, lassen sich die Wissenschaften nicht ineinander auflösen. Da Bonaventura einen Wissenschaftsbegriff kennt, der für geistiges Leben und Tun insgesamt offen ist, hat sein Modell von Integration und Eigengesetzlichkeit der Bereiche eine Bedeutung über den engen Raum der bloßen Wissenschaft hinaus. Das Zueinander autonomer Teilwelten und der sie integrierenden einen Welt wird auch praktisch heute immer mehr zur Lebensfrage. Die entscheidende Frucht aus Bonaventuras Verständnis der Wissenschaft ist jedoch eine „praktische“: Wie kann der Mensch als Glaubender und Wissenschaft Treibender, wie kann er in den unterschiedlichen Regionen und Rollen, die sein Leben heute notwendig durchmißt, ein Einer und Ganzer bleiben, wie dennoch den verschiedenen Ansprüchen gerecht werden? Wie kann er so kohärent und so flexibel zugleich bleiben, daß er nicht zerrissen oder charakterlos wird? Die theologische Integration der Wissenschaften, die Bonaventura unternimmt, zeigt hier einen Weg. Im Blick auf die Reductio gesagt: Die methodische Haltung, die in den unterschiedlichsten Bereichen gefordert wird, und die Lebenshaltung, die der Glaube prägt, zeigen dieselbe Struktur, ohne daß Glaube sich an die Stelle von Sachkompetenzen und Sachansprüchen drängt. Im Hexaemeron können wir von Bonaventura lernen, Sachprobleme auf ihre anthropologische Tiefe hin zu lesen, diese anthropologische Tiefe aber auf Jesus Christus hin zu verstehen. Die lebendige Verbindung mit ihm in der Nachfolge weist uns gerade ein in die Sachgerechtigkeit und Eigengesetzlichkeit des jeweiligen Anspruchs; sie kann unser Tun in einen Dienst verwandeln, der mehr ist als Erfüllung einer Funktion, in einen Dienst, der die Welt menschlich macht und ihr den Glauben an den bezeugt, der ihr das Leben gibt.