Musik als Liturgie – Liturgie als Musik

Konsonanz von Liturgie und Musik

Sicherlich, daß Musik Liturgie ist, bedarf der Ergänzung und Umkehrung, und die Umkehrung sagt nicht nur dasselbe. Musik ist ein allgemein menschliches Phänomen. Liturgie, in einem elementaren Sinn, ist es freilich auch. Leben aus der Gnade göttlichen Geheimnisses, Antwort auf seine Vorgabe im gemeinsamen Verdanken und Verherrlichen, darin Ankunft des Geheimnisses in der Gemeinschaft, Fest dieses Geheimnisses als Fest der Gemeinschaft selbst – dies etwa ist das Grundmuster von Kult und Liturgie, das wir in den unterschiedlichsten Schichten und Gestalten der menschheitlichen Kultur antreffen. Das Oben und Unten, das Damals und das Jetzt, das Jetzt und die Zukunft, das Hier und das Überall, die Vielen und der Einzelne, sie klingen ineinander, indem Himmel und Erde in eins klingen: in der Liturgie.

In Jesus Christus, in seiner Selbstdarbringung am Kreuz, in seinem Eintreten für uns beim Vater als der österlich zu seiner Rechten erhobene Herr, in der Gegenwart dieses seines Heilswerkes und seiner selbst in der Liturgie der Kirche ist dieses menschheitliche Maß von Liturgie erst voll eingeholt, ja unendlich überboten.1 Die Konsonanzen, die sich uns als konstitutiv für die Musik zeigten, lassen sich unschwer auch als Dimensionen des spezifisch christlichen Liturgieverständnisses ausweisen.2 Die Aussage, daß Liturgie Musik sei, gilt strukturell also auch und zumal im Blick auf das christliche Liturgieverständnis. Handeln Gottes, das im Handeln des Menschen gegenwärtig wird – Hingabe des Menschen über seine eigenen Möglichkeiten hinaus und darum gerade in der Beanspruchung und Erschließung aller seiner Möglichkeiten – ganz geistlicher und darum gerade leibhaftiger Gottesdienst – Gottesdienst als Vollzug jener innigsten communio, in die wir durch das Blut und den Geist Christi als sein einer Leib gelangen – Vollzug des Wir der Kirche, in der das Ich und Du ihrem ganz persönlichen Heil begegnen – Einstimmen in den Lobgesang der Schöpfung, Konzentration der Schöpfung in jenem, der sie als ihr neues Haupt zusammenfaßt3 (vgl. Eph 1,10)* — Heiligung des Jetzt in der Gegenwärtigsetzung des erinnerten Heilshandelns Gottes in Jesus und in der Vorwegnahme der ewigen, himmlischen Liturgie: die Konsonanzen, die Musik konstituieren, verdichten sich in der Liturgie Christi und seines Leibes, der Kirche.

Freilich liegt hier auch das Andere, der Überschuß der Liturgie gegenüber der Musik auf der Hand. Ehe wir dieses Andere und diesen Überschuß artikulieren, wollen wir uns jedoch nochmals fragen: Was bringt für die Erkenntnis des Wesens der Musik und des Wesens der Liturgie das Aussagepaar: Musik ist Liturgie, Liturgie ist Musik? In der Aussage, Musik sei Liturgie, decken wir eine im Geschehen der Musik verborgene vertikale Achse auf, um die ihre horizontalen Bezüge schwingen. Musik reicht von der Unmittelbarkeit sinnlichen Klanges durch die Mitte menschlichen Herzens bis zur entzogenen Höhe des unsagbaren Geheimnisses hinaus, und ihr Ursprungsgeschehen läßt sich ebenso vom menschlichen Herzen wie von den Möglichkeiten sinnlichen Klanges wie letztlich von der inspirierenden Kraft des höchsten Geheimnisses her lesen. In diesem vertikalen Zusammenklang entspringen und konvergieren die horizontalen Bezüge des Menschen zur Schöpfung, des Musizierenden zum Hörenden und Mitmusizierenden. Die andere Aussage, daß Liturgie Musik sei, hat ebenfalls aufdeckende Kraft. Gewiß sind von einer Analyse der Liturgie her die einzelnen Momente auch ohne den [20] Rekurs auf die Musik sichtbar: Handeln Gottes, Handeln des Menschen, Handeln der Kirche und des einzelnen, Geist und Leib, Mensch und Schöpfung, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das „Musikalische“ im Zusammenlesen dieser Momente von Liturgie ist das Entdecken der Konsonanz, will sagen des einen und doch keineswegs nivellierenden Klangs, der sich von den vielen Polen und Ursprüngen her ergibt, indem sie hineingenommen sind in den einen Vollzug von Liturgie. Oder anders gewendet: Es wird offenbar, daß alle diese Bezüge und Pole zum Schwingen kommen, sich selber entfalten, wo Liturgie geschieht. Genau hier aber haben wir den springenden Punkt unserer gesamten Untersuchung erreicht.


  1. vgl. SC 5; Der Priesterliche Dienst. Gerechtigkeit in der Welt. Eingeleitet von Klaus Hemmerle und Wilhelm Weber, hg. v. der Deutschen Bischofskonferenz, Trier 1972, Nr. 9. ↩︎

  2. vgl. SC 2, 8, 10, 11. ↩︎

  3. [Anm. der Editoren: In der Veröffentlichung in musica sacra ist der Verweis auf die Fußnote 11 im Text zwar vorhanden, jedoch fehlt Fußnote 11. In der Erstveröffentlichung wird an dieser Stelle auf Eph 1, 10 verwiesen. Siehe auch Edition] ↩︎