Ist das Konzil schon angekommen?

Kontexte der Frage

Stoßen wir nochmals hinter die eben formulierte Aufgabe zurück zur Überschrift, zur Frage: Ist das Konzil schon angekommen? Diese Formulierung hat eine literarische Parallele; und wenn diese auch sachlich allzu weit von der Linie entfernt erscheint, die zu verfolgen uns aufgegeben ist, erweist sie sich als hilfreich und aufschlußreich.

Ich denke da nämlich an jenen tollen Menschen, den Friedrich Nietzsche im dritten Buch der Fröhlichen Wissenschaft sagen läßt: „Ich komme zu früh …, ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen ge­drungen … Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehen und gehört zu werden.“1 Das Ereignis aber, auf welches sich diese Worte beziehen, wird uns kurz zuvor im selben Text erklärt: der Tod Gottes.

[52] Was ist unter ihm zu verstehen? Ich halte jene Deutung für sehr bedenkenswert, die, Hölderlins Rede vom Fehl Gottes und Heideggers Nietzsche-Interpretation einbeziehend, hier einen Grundbefund neuzeitlicher Geistesgeschichte signalisiert sieht: Ersatz des lebendigen Gottes durch ein unbedingtes Subjekt, das zur Welterklärung und Weltsteuerung notwendig ist, dann aber leicht durch den Menschen selbst oder eine Weltvernunft oder einfach das System in sich ersetzt werden kann. Ein solches Überflüssigwerden Gottes, Fremdwerden Gottes kann durchaus auch dort geschehen, wo es noch nicht angekommen, ins Bewußtsein eingedrungen, in einer Ablehnung Gottes und der Gleichgültigkeit Gottes gegenüber Biographie des einzelnen oder der Gesellschaft geworden ist.

Damit aber hätten wir wiederum gewichtige Passagen unseres Dokumentes und in ihnen zugleich jenen Kontext erreicht, in welchem es sowohl das Konzil selbst wie seine Verwirklichung und Umsetzung sieht.

Das Dokument verharrt gerade nicht in einem wehleidigen Klagen oder bitteren Ankla­gen gegenüber unseren schlimmen Zeiten und unserer gottlosen Welt. Dennoch achtet das Konzil nicht nur auf die unübersehbaren Zeichen für eine Rückbesinnung auf das Heilige, sondern auch auf jene Phänomene, die für ein immer breiteres Ankommen des so verstandenen Todes Gottes in unserer Gesellschaft sprechen: „Der kurze Zeitraum von 20 Jahren, der uns vom Abschluß des Konzils trennt, hat in der Geschichte beschleunigte Veränderungen mit sich gebracht. Deshalb fallen die Zeichen unserer Zeit in manchen Punkten ganz und gar nicht mit denen zusammen, die die Umstände des Konzils ausmachten. Dabei muß man besonders das Phänomen des Säkularismus beachten. Zweifellos hat das Konzil die berechtigte Autonomie der zeitlichen Dinge (vgl. GS 36 u. a.) bekräftigt. Deshalb muß man eine in gutem Sinne verstandene Säkula­risierung annehmen. Aber etwas ganz anderes ist der Säkularismus, der in einer autonomistischen Sicht von Mensch und Welt besteht, die von der Dimension des Geheimnisses absieht, sie vernachlässigt oder gar leugnet.“ (S. 7, II.A.1)

[53] Immer wieder bedrängt uns – mannigfache Umfragen, auch jene bei den Diözesanräten und katholischen Verbänden unseres Landes bestätigen es – die Problematik, wie der Glaube weitergegeben, vermittelt werden könne an eine kommende Generation, bei welcher zwar die unruhigen Fragen nach einem Sinn des Lebens und einer das Hier und Jetzt übersteigenden Erfüllung sich mächtig meldet, zugleich aber Fremde und Ratlosigkeit ge­genüber den nicht mehr vertrauten und nicht mehr einzuordnenden Gehalten, Zeichen, Formen und Institutionen christlichen Glaubens sich breitmachen. Hier hat sich nach dem Urteil des Synodendokumentes die Situation seit 20 Jahren erheblich verschärft, zumal in der Ersten Welt, ohne daß aber entsprechende Entwicklungen an der Zweiten und Dritten Welt vorbeigingen (vgl. besonders S. 4, I.3). Es ist hier mit Nachdruck zu unterstreichen, was unser Text ausführt: entsprechende Tendenzen der Säkularisierung und des Auszugs aus der Kirche dem Konzil zuzuschieben, verkennt die Lage. Was nach dem Konzil geschah, ist deswegen nicht bereits ohne weiteres wegen des Konzils geschehen (vgl. ebd.).

Wir müssen sogar sagen: Ganz im Gegenteil. Das Konzil selbst ist nicht eine äußere Anpassung an die Situation, sondern das Ankommen der Botschaft des Glaubens in ihrer unverbrauchten Frische und Ursprünglichkeit, die geeignet ist, jene Situation des Todes Gottes von innen her aufzubrechen und als im Tod und in der Auferstehung des Sohnes Gottes überholt und überwunden anzusagen. Aber gerade wenn dies gilt, gilt auch in allem Ernst und aller Eindringlichkeit die Frage: Ist das Konzil schon angekommen? Oder, transponiert in unsere bereits ermittelte thematische Leitfrage: Wissen wir lebendig, wissen wir mit dem Leben und in der Gestalt und Gestaltung unserer Kirche, was ihr Geheimnis ist? Oder sprechen wir nicht doch zuviel von uns, und zwar so von uns, daß darin die Rede von Gott und von Jesus nicht durchdringt, nicht ankommt?


  1. Nietzsche, Friedrich: Werke II, hg. von Karl Schlechta, München 1966, 127. ↩︎