Einheit als Leitmotiv in „Lumen Gentium“ und im Gesamt des II. Vatikanums

Kontexte in anderen Dokumenten

Es wäre uferlos, die Spiegelungen, Parallelen aufzureihen, die zu den knapp angedeuteten Grundlinien von „Lumen gentium“ in anderen Konzilsdokumenten existieren. Statt dessen sei allein auf wenige Sachverhalte in anderen Dokumenten hingewiesen, die Einheit als ein Leitmotiv des Gesamten konziliaren Denkens bestätigen.

a) Die Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute geht davon aus, daß Kirche der Ort ist, an dem Menschen die communio, das Sicheins-Machen Gottes mit der Menschheit, durch die Geschichte hin leben. Die erste Ziffer der Pastoralkonstitution drückt das auf prägnanteste Weise aus: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände. Ist doch ihre eigene Gemeinschaft aus Menschen gebildet, die, in Christus geeint, vom Heiligen Geist auf ihrer Pilgerschaft zum Reich des Vaters geleitet wer-[214]den und eine Heilsbotschaft empfangen haben, die allen auszurichten ist. Darum erfährt diese Gemeinschaft sich mit der Menschheit und ihrer Geschichte wirklich engstens verbunden“ (GS 1). Das Dokument sieht in diesem genuinen Auftrag, welcher der Kirche aus ihrem Selbstverständnis her zuwächst, eine tiefe Entsprechung zum Drängen und Streben der Menschheit in ihrem gegenwärtigen Zustand selbst (vgl. bes. GS 3 33 42 54).

b) Naturgemäß behandelt zumal das Dekret über den Ökumenismus die Frage der Wiedergewinnung der verlorenen Einheit zwischen den unterschiedlichen christlichen Kirchen und Gemeinschaften. Man kann in diesem Dokument die Linien der Kirchenkonstitution auf dieses das gesamte Konzil inspirierende und bedrängende Problem ausgezogen sehen. Das 2. Kapitel (UR 5–12) erscheint wie eine Übersetzung der unitas quae, die in der Kirchenkonstitution dargelegt wird, in den Vorgang einer unitas qua, einer – recht verstandenen – Methodik der Einheit, will sagen jenes Verhaltens und Handelns, die das Zusammenkommen in der ganzen Einheit ermöglichen. Einige Stufen: Erkennen der schon gegebenen Einheit (vgl. UR 5) – Treue zur eigenen Berufung als Weg zur Begegnung, weil durch den Ursprung, durch Jesus Christus hindurch der nächste Weg zum anderen führt (vgl. UR 6) – innere Bekehrung zum Geist als Bekehrung zur einzigen Kraft, die Einheit zu schaffen vermag (vgl. UR 7) – Gebet als unmittelbarer und gemeinsamer Kontakt mit dem, der die Einheit wirkt (vgl. UR 8) – Dialog als Gespräch, der auf die Sicht und Sinnesart der je anderen eingeht, von innen her zu denken lernt (vgl. UR 9) – Dreiklang zwischen nicht verkürzender Klarheit und Offenheit des Bekenntnisses, Bereitschaft zur Übersetzung in den gemeinsamen Verständnishorizont, Einfügung ins Gesamt der Wahrheit („Hierarchie“ der Wahrheiten) (vgl. UR 11).

c) Priesterlicher Dienst und priesterliches Leben werden als Zeugnis für die Einheit und gerade darin als missionarische Kraft erachtet. Die Priester sollen Zeugen sein für jene Einheit, durch die die Menschen zu Christus hingezogen werden (vgl. OT 9). Ihr Hirtendienst ist Dienst an der Einheit (vgl. PO 6); die Einheit miteinander und mit dem Bischof, Presbyterium als Lebensform sind heute für die Glaubwürdigkeit des Priestertums entscheidend (vgl. PO 7f); Einheit als Lebensform der Priester ist Bedingung der Einheit ihres eigenen Lebens, ihrer personalen Identität (vgl. PO 14).

d) Das Dekret über das Apostolat der Laien greift in vielfacher Hinsicht das Thema Einheit auf: Die Verschiedenheit des Dienstes in der Kirche ist eingebunden in die Einheit der Sendung, an der das ganze Volk Gottes und so auch die Laien Anteil haben (vgl. AA 2). Ihr Auftrag knüpft bei jener Einheit des Erlösungswerkes Christi an, das auf das Heil der Menschen zielt, aber auch den Aufbau der gesamten zeitlichen Ordnung umfaßt (vgl. AA 5). [215] Das Zeugnis jedes einzelnen wird ergänzt durch das in Gemeinschaft geübte Apostolat, das den Charakter der Kirche als Volk Gottes deutlich macht und den Raum für die von Jesus selbst verheißene Gegenwart in der Mitte der in seinem Namen Geeinten eröffnet (vgl. Mt 18,20; AA 18). Ursprung und Kraft apostolischen Denkens ist die Liebe als die Einheit auferbauende und ihr entsprechende Kraft. Das auferbauende apostolische Zeichen ist das Neue Gebot (vgl. AA 8). Einheit muß das Struktur- und Wirkungsprinzip der vielen sich ergänzenden Aktivitäten innerhalb des Apostolates der Laien sein (vgl. AA 23). Einheit ist die apostolische Kraft der Kirche, ist als Vollzug die Leuchtkraft und Anziehungskraft ihres Wesens.

e) In eine andere Dimension von Einheit führt uns die Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung. Es genügt, in unserem Kontext auf das Ineinander von Schrift und Tradition hinzuweisen, das beide doch nicht ineinander auflöst. Die Einheit der Offenbarung ereignet sich nicht in zwei aus geschiedenen Quellen sich ableitenden Strömen, sondern in jenem Prozeß der wechselseitigen Verwiesenheit der Schrift auf die in ihr verfaßte und sie rekognoszierende Tradition und der Tradition auf ihre Verfaßtheit im inspirierten Wort. Einheit wird selbst dort, wo sie verschiedene Teile hat, nie zustande gebracht durch eine bloße Addition ihrer principia quae, diese haben vielmehr ihre Bedeutung fürs Ganze, haben aneinander und am Ganzen Anteil, sind, wenn auch auf je eigene und daher verschiedene Weise, principia quibus.

Was hat der Blick auf die Kontexte in den Konzilsdokumenten zu unserem Ansatzpunkt bei „Lumen gentium“ erbracht? Man könnte die Dynamik des Konzils als Dynamik der Einheit betrachten, die im Konzil nicht nur den größeren Spielraum ihrer Realisierung findet, sondern zugleich als das Woraus, Worumwillen und Wie des Lebensvollzuges von Glaube und Kirche aufscheint. Einheit wird nicht „lockerer“, sondern lebendiger, wird beziehentlicher, tiefer zurückgebunden an ihren trinitarischen und christologischen Ursprung.