Eine Phänomenologie des Glaubens – Erbe und Auftrag von Bernhard Welte
Kontexte und Konsequenzen im Denken Bernhard Weltes
Wer über die Phänomenologie Bernhard Weltes spricht, der kann – auch und gerade wenn er es im Blick auf die Erfahrungen seiner Hörer, Schüler, Weggenossen des Denkens tut – nicht stehenbleiben bei der Rechenschaft über den Wegverlauf dieser Phänomenologie oder, genauer gesagt, über den Wegverlauf seines eigenen Mitgehens und Mitdenkens mit Bernhard Welte als einem Meister phänomenologischen Sehens und Sehenlassens. Er muß sich zumindest drei Fragen stellen, die wir nur andeuten können, die indessen einer wesentlich breiteren Aufarbeitung bedürften, als sie hier geschieht. Diese drei Fragen heißen: Bernhard Welte hat nicht nur Phänomenanalysen vorgenommen, sondern in breitem Ausmaß Texte ausgelegt; wie steht der Interpret Welte zum Phänomenologen Welte?
Die zweite Frage: Gibt es in der Fülle der von Bernhard Welte interpretierten Phänomene kennzeichnende Verdichtungspunkte, und was sagen diese über seine Phänomenologie aus?
Schließlich: Faßt Phänomenologie das Ganze des Denkens von Bernhard Welte, oder gibt es „Spitzen“ und Schichten, die über den phänomenologischen Ansatz hinausweisen bzw. von ihm nicht gefaßt werden?
Gerade die Antwort auf die letzte Frage wird zum Vorverweis auf den noch ausstehenden zweiten Teil, auf die Phänomenologie des Glaubens. Allerdings zielen auch die zunächst scheinbar anders orientierten beiden ersten Fragen in diese selbe Richtung.
Wie steht der Phänomenologe Welte zum Textinterpreten Welte?
Im Grunde läßt der phänomenologische Ansatz von Bernhard Welte es überhaupt nicht zu, hier eine strikte Trennung vorzunehmen. Weil er Phänomenologe ist, sieht es Bernhard Welte [113] als erforderlich an, alles das ernst zu nehmen, was einen Text wahrhaft als ihn selber von sich her aufgehen läßt.
Dies schließt die behutsame und verläßliche Erhellung der geistesgeschichtlichen Kontexte, der Intentionen, der prägenden Vorgaben und auch Vorurteile des Autors mit ein. Aber in allem dem blieb bei Bernhard Welte immer eine Frage wach, die weiterführte und zugleich aufschloß: Was hat dieser Autor gesehen? Was hat sich ihm gezeigt? Man könnte es als die Regel der Interpretationsund Erschließungskunst von Bernhard Welte bezeichnen: Es gilt, mit dem, der denkt, mit-sehend mitzugehen, bis wir das, was er sieht, selber als ein Gesehenes denken können. Etwas anders gewendet: Es gilt, mit dem, der denkt, auf das, was er denkt, so zu sehen, daß wir als selber Sehende es auch sehen und in seinem Sinn verstehen können. Erst wenn eine Aussage sich aus der inneren Logik ihres Sehens heraus rechtfertigen darf, läßt sich auch das je Übersehene, die Verengung des Blickwinkels oder das Eigentümliche anderen Perspektiven des Sehens gegenüber herausheben.
Bernhard Welte blieb gerade aus solcher Haltung nie bei bloßer Polemik stehen, sondern er fand immer wieder hin zum Gespräch zwischen Sehenden, die einander sehen lassen und deswegen in das größere Sehen hineinführen. Es darf angemerkt werden, daß diese Haltung es ihm erlaubte, ohne die Absolutheit des Lichtes, das in Jesus Christus aufscheint, zu relativieren, angstfrei die vielen Lichter zu sehen und ins Sehen zu heben, die in anderen Religionen und Denkweisen als „Samenkörner des Wortes“ enthalten sind.
Eine weitere Anmerkung: Die gekennzeichnete, phänomenologisch bestimmte Interpretationsmethode von Bernhard Welte hat Ungezählte, keineswegs nur Philosophen und Theologen, zur Begegnung mit Quellen und Zeugnissen des Denkens geführt. Hier liegen, besonders in Vorlesungen und Seminarien, Anstöße, die es verdienen, überliefert zu werden und weiterzuwirken, über die bloße forschungsgeschichtliche Relevanz der jeweiligen Interpretation hinaus.
Welche Phänomene stehen in der Mitte des phänomenologischen Interesses von Bernhard Welte?
Man kann die Antwort auf die Formel konzentrieren: Es sind jene, die als Phänomene gekennzeichnet sind von einem gegenseitigen, mehrursprünglichen Verhältnis. Gegenseitigkeit, [114] Mehrursprünglichkeit im Aufgang der Sache ins Denken und des Denkens zur Sache hin waren uns als Kennzeichen des von Bernhard Welte erschlossenen phänomenologischen Denkens aufgefallen. Er selbst entdeckt Gegenseitigkeit und Mehrursprünglichkeit jedoch nicht nur im Vollzug der Phänomenologie, sondern er sieht menschliches Leben insgesamt in solchen Phänomenen zentriert, die ihrerseits in der Richtung „Geheimnis – Dasein“ oder in der Richtung „der andere – ich selber“ von diesem Grundzug aller Phänomenalität geprägt sind. Das Wort „oder“ ist in diesem Zusammenhang freilich problematisch, weil das Angrenzen menschlichen Daseins ans Geheimnis und das Angrenzen des Daseins ans Dasein des andern, das Innesein des je entzogenen Anderen und des je entzogenen Geheimnisses im Menschen unlöslich miteinander verbunden sind. Wir dürfen das Verhältnis „Geheimnis – der andere – ich“ als eine Art phänomenologischen Dreiecks zeichnen, welches immer wieder in den phänomenologischen Analysen und Besinnungen Bernhard Weltes durchscheint. Die Belege dafür sind schier überall zu finden; es sei verwiesen auf die bereits berührten Phänomene Dankbarkeit, Freiheit, Grenze und auf den breiten Raum, den die Grenzerfahrungen Tod und Schuld im gesamten Denken und zumal in den Vorlesungen Bernhard Weltes einnehmen[11]. Alle diese Linien konvergieren auf eine Phänomenologie des Glaubens hin, zu welcher Bernhard Welte in seiner späten Schrift: Was ist Glauben?[12] Entscheidendes beigetragen hat.
Nun aber die dritte Frage: Ist Phänomenologie bei Bernhard Welte alles?
Diese Frage zielt nicht darauf ab, ob es neben dem phänomenologischen Zugang zur Wirklichkeit für Bernhard Welte noch andere, etwa konstruktive, analytische gäbe. Der springende Punkt ist ein anderer: Wir haben bereits bemerkt, daß Grenze, Schuld, Tod für Bernhard Welte entscheidende Phänomene sind. Gewiß kann der phänomenologische Zugang im Sich-Zeigen dieser Phänomene einen nicht vom Menschen her erstellten, sondern ihm gewährten Wink des Geheimnisses wahrnehmen, der zu Vertrauen und Annahme ermutigt, angesichts der Abbrüche und Ohnmächte, die an diesen Stellen Menschsein im Ganzen und in der Mitte bedrohen. Wo aber aus solchem Wink, aus solcher Fährte des Geheimnisses Sicherheiten [115] gefolgert würden, da wäre das, was sich zeigt, verraten. Es ist legitim und gemäß, gerade an diesen Grenzen dessen innezuwerden, daß unser Leben und Sein im Ganzen von jenseits seiner Grenze sich gewährt sind und daß so Frage nach Heil und Hoffnung auf Heil dem Menschsein nicht aus eigenem Verfügen erwachsen, sondern ihm unverfügbar zugetraut sind. Die Frage aber und die Zuversicht bleiben – in der bloßen Ausarbeitung eines phänomenologischen Zugangs zu den Grenzerfahrungen – offen, in der Schwebe.
Ist diese Schwebe das Letzte? Oder gehört es gerade in die Treue zum phänomenologischen Ansatz hinein, sich in diese Schwebe so hineinzuhalten, daß daraus der Ruf nach Heil, der Umblick nach Zeichen seiner Gewähr einsetzt? Wird das Beziehungsgeschehen, das heimlich bereits am Anfang der Phänomenologie steht, am Ende der Phänomenologie in einer neuen, ihr entsprechenden und doch aus ihr in keiner Weise herzuleitenden Dichte aktuell: Vorblick und Umblick auf ein „Siehe!“ hin, in welchem ein Zeichen des Heils mich anspricht, mich und alles zu verlassen, mich auf es einzulassen und es einzulassen in mich, zu warten auf ein Wort, das, wenn es ergeht, mich zur Antwort und zum Bekenntnis ruft, daß es mein Heil und Heil der Welt sei und mich angesichts der Übermacht des Geheimnisses der Wahrheit nicht verbrenne, sondern sich meiner erbarme?
Bernhard Welte hat seine Hörer, hat jene, die mit ihm gingen, immer neu zu diesem letzten Wegstück hingeführt – und der Phänomenologe ist hier, sich selber treu, seinen Ansatz einlösend und doch übersteigend, zum Zeugen geworden. Immer wieder hat es Ungezählte bewegt, wie – nicht als abgeleitete Konsequenz und nicht als aufgesetzter Deus ex machina – Jesu Gestalt und Jesu Wort eine unmittelbare Frische und einfältige Leuchtkraft in Bernhard Weltes Worten gewann. In seinem Zeugnis war die Kraft des Phänomenologen gegenwärtig, der einfach das Ecce, das Sieh aufdeckte, so daß der Hörende gerufen war in eine Begegnung.
Und nochmals kam der Phänomenologe zum Wort im Zeugen und aufgrund des Zeugnisses, wenn es darum ging, echte Formen des Glaubens von Formen der Verstellung und des Verfalls zu unterscheiden, Kriterien dafür an die Hand zu geben, wie gelebter und vollzogener Glaube seine innere Plausibilität phänomenal ausweist[13].