Theologie als Nachfolge

Kreuz als unbedingte Gleichzeitigkeit Gottes und seines Anderen

Bei kaum einem anderen zentralen Thema der Heilsgeschichte sind für Bonaventura der vorausgehende, eröffnende Vollzug göttlichen Handelns und der Nachvollzug, die Nachfolge so unlöslich miteinander verschmolzen wie gerade beim Kreuz. Die vielen und reichen Aussagen Bonaventuras zur Passion stehen fast ausnahmslos in der Perspektive der Kompassion.1 Hintergrund dafür: Nirgendwo sonst ermißt Bonaventura so sehr die bewegende Kraft der Liebe Gottes, nirgendwo sieht er einerseits ein so starkes Widerstreben der menschlichen Natur gegen den Umstieg in die Struktur Gottes, nirgendwo gewahrt er andererseits so tief die bewegende, entgegenkommende, unwiderstehliche Kraft der Liebe Gottes als im Kreuz. Da es der Logik der Liebe, die eine Logik der sich verschenkenden und sein Anderes bejahenden Bewegung ist, darauf ankommt, ihrerseits ihre Partner zu bewegen, in dieselbe Bewegung der Liebe einzustimmen, darum ist das betrachtende und verkostende Sprechen Bonaventuras über Kreuz und Passion nicht eigentlich ein frommer Zusatz zur strengen Theologie, sondern der hier besonders gemäße Vollzug.

Diese Durchdringung von Kreuz und Kreuzesnachfolge, Kreuz und Kreuzesliebe hat indessen keineswegs nur einen affektiven Grund. Der Affekt selbst entspringt dem Stellenwert dieses Geschehens im Gefüge der theologischen Logik. Dieser Stellenwert läßt sich, im Hinblick mehr aufs Gesamt bonaventuranischen Sprechens als im Hinblick auf einzelne Passagen zweifach auslegen. Zunächst: Das Kreuz ist zugleich der Komparativ Gottes und des Menschen. Der Komparativ Gottes, sofern Gott die Liebe, die er ist, hier bis in ihr Gegenteil hinein dehnt, am Punkt der größten Entfernung zu sich zur Gegebenheit, zur Wirksamkeit bringt. Der Komparativ aber auch des Menschen, sofern er in der Nachfolge über das Maß bloßen menschlichen Leidens in die Teilhabe mit dem Leiden Gottes, in das Mittragen mit der die ganze Welt überwindenden Liebe des Kreuzes gewiesen ist.2 Mehr [98] noch: Nur durch das Geschehenlassen des Kreuzesgeschehens am eigenen Dasein wird der Mensch fähig, das sich schenken zu lassen, was Gott ihm zuhöchst schenken will, die innerste Teilnahme an seinem Leben und an seinem Licht. Bonaventura appelliert an das Dunkel, nicht an die Klarheit, nicht an das Licht, sondern an das Feuer und erklärt, daß dieses Feuer Christus angezündet hat in seiner glühenden Passion und nur der seine Glut aufnimmt, der bereit ist, in seinen Tod einzugehen. Daß man nicht Gott schauen und leben kann (vgl. Ex 33, 20), liest er daraufhin, daß man eben sterben, den Tod vollziehen muß, um Gott zu schauen – schon hier und einst in der Vollendung.3

Sodann: Sowohl das Kreuz Christi wie die Kreuzesnachfolge sind jeweils ein einziger Vollzug, der zweierlei in einem vollbringt, das Eigene und das Andere. Jesus vollbringt in seinem Kreuz das Eigenste Gottes, indem er die Liebe Gottes in ihr Äußerstes bringt, und er vollbringt dieses Eigenste Gottes in der ihm als Sohn zukommenden Stellung nochmals, indem er seine Liebe zum Vater bis in die äußerste Hingabe, in den äußersten Gehorsam bringt. Doch Inhalt dieser Liebe Gottes, die sich in ihm äußert, und des Sohnesgehorsams, den er vollbringt, ist gerade die Übernahme der Anderen und des Anderen, das Aufsichladen der Schuld und Last der Menschheit und das stellvertretende Stehen an der Stelle der Menschheit und jedes einzelnen Menschen. Umgekehrt ist das Kreuztragen des Menschen „nichts anderes“ als das Annehmen des eigenen Ortes, an den er gehört, als der Mut zur eigenen Wirklichkeit, als die Konsequenz seines Schuldigseins.4 Gleichzeitig aber tritt in der Übernahme des Kreuzes der Mensch in die Logik Christi ein, er macht sich seine Bewegung der Entäußerung, der Liebe, des Hinseins zu seinem Anderen zu eigen und tritt so aus der Selbstverschlossenheit, aus der falschen Logik der Selbsterhebung heraus in die wahre und andere Logik Gottes.


  1. Vgl. Itinerarium, Prolog 3 f; Soliloquium I, 34 Lignum vitae, Prolog 1. ↩︎

  2. Vgl. z. B. Kol 1, 24; Lignum vitae im ganzen, Soliloquium I, 34. ↩︎

  3. Vgl. zu diesem Abschnitt Itinerarium VII, 6. ↩︎

  4. Vgl. Hexaemeron I, 24; I, 27 f. ↩︎