Theologie als Nachfolge
Kreuz als universale Integration
Das Kreuz als ein Moment in einer theologischen Schlußfolgerung, aufgehoben in die alles integrierende und überwindende Liebe, wie sie in der Auferstehung offenbar wird, ist das nicht zu harmlos, geht solche Logik nicht an der Wirklichkeit des Menschen, wie er ist, und des rätselhaften Gottes, wie er ist, vorbei? Die Gangart, welche die Logik der Liebe durchstimmt, ist bei Bonaventura indessen an einem einzigen Punkt offenbar nicht die des Enthusiasmus, des einfach überbordenden Sich-Verströmens und -Verschenkens; an einem Punkt gibt es etwas wie einen Ab- [95] bruch, an dem der Sprung nicht von selbst gelingt, sondern in der äußerst mühsamen Konzentration des Entschlusses, des aufgehobenen Widerstandes gesetzt werden will. Dieser Punkt ist das Kreuz, und wir sind diesem Charakter des Kreuzes bereits begegnet: „Hier ist die ganze Kraft“ – und Bonaventura setzt da das gewaltsame Wort „vis“ – „aufzuwenden; denn wir wollen nicht leiden, wir wollen nicht gekreuzigt werden.“1 Dennoch ist gerade diese Differenz innerhalb des Gesamtganges der Logik der Liebe die entscheidende Stelle in ihr, jene, an welcher die Integration in der einen wie in der anderen Richtung allererst gelingt. Das Kreuz ist der Einstieg, der Einsprung in die Logik der Liebe; im Kreuz wird deutlich, daß man diese Logik nicht ausdenken kann, sondern daß Logik Logik der Existenz, des ganzen Daseins ist. Aber eben mehr als nur meines Daseins: Im Kreuz, gerade in ihm geschieht die Begegnung, im Kreuz rückt die Mitte, die Christus ist, hinein in den Raum unserer wirklichen Welt, unseres wirklichen Daseins.
Genauso sieht es Bonaventura. In seiner zuerst merkwürdigen Sprache: Christus am Kreuz ist für ihn die Mitte der Mathematik, und Mathematik heißt für ihn Geometrie, Geometrie aber ist Geometrie nicht des abstrakten, sondern des wirklichen, des vom Dasein erfüllten Raums, in dem sich die Sachen stoßen und in dem die Menschen leben.2 Der Nerv seiner Gedankenführung: Die Mitte des Raumes ist der Gravitationspunkt aller Bewegungen, derjenige, in den sie treffen und in dem sie aufeinandertreffen. Von diesem untersten Punkt aus allein ist alles, das ganze Kräftespiel integriert. Als der Punkt absoluter Passivität, universalen Widerfahrens ist er aber auch Punkt des Umschlags, von dem aus die steigenden Kräfte ausgehen und den Raum erfüllen. Als unterster Punkt ist er der Wendepunkt der Bewegung und darin zugleich der Punkt, von dem aus alles in seine Maße, in seine Proportionen tritt. Durch das Kreuz und seine Radikalisierung im Eingang Christi in die Hölle, ins Innerste der Erde, wird für Bonaventura Christus dieser Maß- und Wendepunkt des Welt- und Geschichtsraums. Im Kreuz ist so spiegelverkehrt dasselbe gegeben wie in der Stellung der ars aeterna, der ewigen Kunst, in der [96] alles, was ist, überboten ist in seine Urgestalt, in die reine seinlassende Mächtigkeit Gottes hinein. Im Kreuz und im Abstieg zur Unterwelt hingegen ist vom selben Christus alles unterboten – und so ist noch mehr integriert als in der ars aeterna: Alles, was wirklich ist, die ganze von Gott geschaffene, die ganze an sich freigegebene, die ganze durch sich selbst von Gott weggewandte und entzogene Schöpfung, auch die Sünde, auch der Tod sind angenommen und zu eigen gemacht von Gott in dem, der sich einließ ins Gegenteil seiner eigenen Fülle, in dem, der sein Ja und Du zum Vater von der Stelle der äußersten Distanz zu ihm sagen wollte. Zwischen der innersten Mitte Gottes, die der ewige Sohn ist, und der innersten Mitte des wirklichen, geschichtlichen Kosmos, an die dieser Sohn sich begeben hat, ist alle Wirklichkeit umspannt, und darin ist sie zwischen Gott und Gott umspannt, hineingenommen in das Geschehen der dreifaltigen Liebe.
Wie bei der Auferstehung so ist es auch beim Kreuz Bonaventura nicht nur darum zu tun, eine objektive Gegebenheit in ihre innere Struktur und ihre Bedeutung für uns hinein zu entfalten; vielmehr werden diese beiden Momente dadurch ergänzt, ja kommen sie erst zur Gegebenheit und Verständlichkeit für uns, indem der Mensch sich selbst in dieses Geschehen hineingibt, es zu seinem Selbstgeschehen werden läßt. So liest Bonaventura in unserem Zusammenhang die Schriftstelle: „Ich bin in eurer Mitte als einer, der dient“ (Lk 22, 27) auf diesen Abstieg Jesu in die abgründige Mitte; und er wendet in dieselbe Richtung, aber im Blick auf uns, auf das, was von uns zu vollziehen ist, das andere Wort: „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, könnt ihr nicht ins Himmelreich eintreten“ (Mt 18, 3).3 Der Ort des Christen ist für ihn das Unten, der tiefste Punkt des Ganzen, weil nur von hier aus das eigene Maß und das Maß Christi gewonnen werden. Humilitas, was Demut und Niedrigkeit zugleich bedeutet, wird zur Grundtugend, die dem Christen den Einsprung in die Ordnung des Glaubens und der Liebe ermöglicht.4 Nur die Demut ermißt die Dimensionen des Ganzen, weil der Demütige sich nicht im Weg steht und so Raum hat für die Dimensionen Gottes, für die Dimensionen des Ganzen.
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Ebd. ↩︎
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Vgl. hierzu Hexaemeron I, 21–24. ↩︎
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Hexaemeron I, 23. ↩︎
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Vgl. Hexaemeron I, 24; s. ebd.: „Doch ein Dunkel ist eingebrochen; denn die Christen verlassen diesen Ort der Mitte, an dem Christus den Menschen gerettet hat. Daher streitet der Mensch gegen sein eigenes Heil, wenn er sich nicht zu messen weiß.“ ↩︎