Orden und Jugend im Lebensraum der Kirche
Krise der Jugend
Vergleichen wir die faktische Situation der Jugend in unserer Gesellschaft mit den „idealtypisch“ gezeichneten Merkmalen von Jugendlichkeit überhaupt, so tritt alsbald eine Spannung zutage. Wir wollen mit wenigen Stichworten auf sie aufmerksam machen, weil hier Schwierigkeiten in den Blick treten, die jede Jugendarbeit und Jugendbildung heute berücksichtigen muß. Das in einem solchen knappen Durchgang entstehende Bild wird freilich schief, einmal weil mit einigen typischen Merkmalen nie das Ganze in seiner differenzierten Vielfalt einzufangen ist, zum anderen weil zur Situation der Jugend genauso wie die Krise auch die Zeichen und Ansätze eines Aufbruchs gehören, der Anlaß zur Zuversicht sein darf.
a) Not um Entscheidung, Bindung, Ganzheit
Die Welt ist voll ungezählter Angebote, und so fällt eines besonders schwer: die Entscheidung. Das gilt für unsere ganze Gesellschaft, es gilt zumal für jene Lebensepoche, in der die tragenden Entscheidungen des Lebens getroffen werden, eben für die Jugend.
[10] Das Ganze, das Größere, das meinen ungeteilten Einsatz Herausfordernde droht zu entschwinden in den vielen Teilaspekten und Teilangeboten sich gegenseitig relativierender Möglichkeiten, den Sinn- und Zielentwurf seines Lebens zu wählen. Zwischen zwei Antwortangeboten kann ich mich klar und ganz entscheiden, zwischen hundert fühle ich mich auf mich selbst zurückgeworfen.
Aber nicht nur das Nebeneinander so vieler Angebote lähmt meine Entscheidungslust und Entscheidungskraft, sich ganz zu binden und sich ganz einzusetzen, das wird mir auch durch das Nacheinander so vieler scheinbar zusammenhangloser Erfahrungen, Ansprüche, Anfragen erschwert. So oft bin ich angefordert, mich zu konzentrieren, ganz da zu sein – aber die Situationen wechseln, ständige Umstellung ist verlangt, ich erfahre nicht mehr die Kontinuität meines Ich. Mein Leben fällt zunehmend auseinander in vielerlei Rollen, die mich ratlos vor der Frage lassen: Aber wer bin in alledem ich selber?
Mich für ganz und für immer entscheiden zu sollen, für eine Ehe mit einem Menschen auf Lebenszeit oder für eine Lebensform, für eine Gemeinschaft, für einen Dienst, wie dies z. B. bei dem Eintritt in den Orden oder der Wahl des Priesterberufs notwendig ist: das macht Angst. Mit moralischen Appellen, doch mehr Mut zu haben zur Bindung und Entscheidung, ist es allein keineswegs getan. Aber ebensowenig mit dem Verzicht auf Verbindlichkeit, auf Ganzheit, eben auf Entscheidung und Bindung fürs Leben.
Die so verhängnisvolle Flucht in eine totale, bloß phantastische Erfahrung des Ganzen und des Größeren im Traumrausch, aber auch der Ausbruch in Fanatismus und Exzeß, wie in manchen para-religiösen Formen bei Jugendsekten, müssen uns aufrütteln. Ganzheit, Entscheidung, Bindung gehören zum Menschsein, aber der Mensch braucht die Befähigung dazu und das plausible Angebot des wahrhaft Größeren und Ganzen. Das begeisternde Ziel und der Schritt um Schritt erprobte Weg – um beides sind wir gefragt.
b) Flucht ins Jetzt als Not um das Jetzt
Kann ich das auch morgen noch? Wie werde ich in zehn Jahren sein? Diese Fragen nehmen den Mut vor der ganzen Entscheidung. Sie lassen zugleich hineinflüchten in den Versuch einer intensiven Jetzt-Erfahrung. Doch das intensiv erfahrene Jetzt, das ausgespielt wird gegen die Zukunft, trägt das Ende der Enttäuschung bereits in sich und führt zur Verweigerung der Annahme des schwierigen, belastenden, leeren Jetzt der kleinen Alltagsaugenblicke.
Das Jetzt, das „wenigstens“ erfahren werden will, spielt sich nicht nur aus gegen die Zukunft, sondern auch gegen die Vergangenheit. Mein Jetzt tragen zu lassen von Vorentscheidungen, die ich früher einmal getroffen [11] habe, oder gar von geschichtlichen Vorentscheidungen, in die ich mich hineinstellen soll – dazu brauchte es die im Grunde selbe Kraft wie dazu, dies auf Zukunft hin unwiderruflich festzulegen. Leben aus der großen geschichtlichen Erfahrung, Leben aus einer Tradition, die im Augenblick neu und gegenwärtig werden will, das fällt so schwer wie das Durchstehen und Durchtragen des leeren Jetzt auf eine erfüllte Zukunft hin. Doch wie die nicht erreichbare Zukunft phantastisch oder fanatisch antizipiert wird, so gibt es Nostalgie und Traditionalismus als Ausflucht vor der bestandenen und angenommenen Vergangenheit und Tradition. Einschließen ins Jetzt, so sagten wir, ist im Grund Flucht vor dem Jetzt, Flucht in eine uneigentliche Zukunft oder Vergangenheit.
Die Not, sich auf Zukunft hin ganz entscheiden und binden zu können, die Not, daß ich meiner selbst vor dem Anspruch der Zukunft nicht sicher bin, zeitigt zwei weitere, einander entgegengesetzte Konsequenzen, denen wir im Verhältnis des jungen Menschen zum Jetzt begreiflicher- und gefährlicherweise zugleich begegnen. Einmal will jener, der keine Sicherheit aus sich hat, die Sicherheit zugesprochen bekommen von außen. Nur wenn ich eine Garantie habe, daß morgen mir nichts passieren wird, wenn ich heute ja sage – nur dann kann ich ein Ja jetzt riskieren. Diese Haltung greift auch unter jungen Menschen um sich. Daß Sicherung und Treue wechselseitig sind, daß ganzer Einsatz auch ganze Zuwendung und Mittragen erfordern, wer wollte daran vorbeisehen? Aber die Gelassenheit zum verantworteten Wagnis bleibt menschliche Voraussetzung dafür, damit der junge Mensch nicht „alt“ sei von Anbeginn.
Die Forderung nach Sicherheit läuft weithin parallel zur Abneigung gegen die Institution. Wo es schwerfällt, die eigene Zukunft zu verantworten und zu planen, da möchte man sich gerade nicht ausliefern an Mechanismen und Strukturen, die das einem abnehmen. Die angefochtene und in ihrer Zukunftskraft geschwächte Freiheit verteidigt ihren individuellen, von ihr allein ausfüllbaren Bewegungsraum um so sensibler, ist um so mißtrauischer gegen Vorgriff und Eingriff. Die Verapparatung in ideologischen oder neutraltechnischen Systemen gehört in der Tat zu den erschreckenden Grunderfahrungen des Menschen in unserem Jahrhundert. Ablehnung aller Institution ist der falsche Gegenzug, der es der Freiheit des einzelnen gerade verwehrt, im Ganzen einen Raum zu haben, fürs Ganze sich einzusetzen und das Ganze mitzugestalten.
Befähigung zur Gegenwart, zum Augenblick, der angenommen und gestaltet wird, in dem Zukunft und Vergangenheit angenommen und neu lebendig werden: das gehört zu den entscheidenden Aufgaben angesichts der menschlichen Situation unserer Jugend. Befähigung zu solcher Gegenwart geschieht aber in der Erfahrung dessen, der mitgeht, der als Weggenosse nicht nur der Kumpan der eigenen Reifelosigkeit ist, auch nicht [12] der Besserwisser, der einen überspielt, sondern der Freund. Jesus der Weggenosse und Freund, die Weggenossenschaft und die Freundschaft seiner Freunde für den jungen Menschen, Gegenwart des Herrn in den unsere Geschichte begleitenden Charismen – dies gewinnt drängende Aktualität.
c) Auf der Suche nach der Mitte
Gesellschaftlich wirkt sich die Erfahrung des Ganzen als eines anonymen Apparates, die Abneigung gegen die Institutionen, die Angst, in ihnen sich selbst entfremdet und von außen verplant zu werden, negativ aus auf die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, „mitzumachen“. Sicher lebt in vielen jungen Menschen das Verlangen, mitreden, mitgestalten zu können. Das Ungestüm des aktiven und aggressiven Protestes, mit dem junge Menschen immerhin in das Räderwerk der gemeinsamen Geschicke hineingreifen wollen, weicht nicht selten einer Ermüdung, Resignation, Teilnahmslosigkeit, einer zynischen oder bitteren Verweigerung. Der Weg zur Mitte der Gesellschaft erscheint versperrt, aussichtslos, infolgedessen: uninteressant.
Im Gegenzug zu dieser Zurückhaltung wächst ein sehr unterschiedlich geartetes Interesse am Innen. Rückzug ins Innen oder Aufbruch nach Innen? So pauschal läßt sich das nicht ausmachen. Hoffnungsvolle Impulse und gefährliche Engführung durchdringen sich im Feld, das mit dem Schlagwort „neue Innerlichkeit“ nur sehr ungefähr umschrieben ist. Sicher, es wäre kurzsichtig, alles Sprechen von Selbstfindung und Selbstverwirklichung zu verdächtigen – wer sich im Sinn des Evangeliums verläßt, soll darin ja auch sich selber finden! –, dennoch muß gesagt werden: Wo neue Innerlichkeit nur zum Ich, nur zur eigenen Mitte, nur zum Gleichgewicht in sich selber führt, da führt sie nicht bis zu jener Mitte, in der das Ich allein gehalten, getragen, „verwirklicht“ ist. Nur der kommt ganz bei sich selber an, der bis zu dem durchstößt, der „interior intimo meo“, der „inwendiger als mein Innerstes“ (Augustin) ist. Weg in die Mitte ist immer Überstieg. Überstieg nach innen und Überstieg zugleich nach außen. Selbstfindung gelingt nur, wenn ich in mir den anderen finde, der größer ist und früher als ich, der mich gemacht hat – und wenn ich zugleich aus mir heraus zum anderen finde, zum Du und zum Wir, zur Gemeinschaft. Innerlichkeit ist dann ein Weg, wenn sie Weg ist zu Anbetung und zum Dienst. Daß Anbetung selber christlich verstanden Gottes-Dienst und als solcher selbst stellvertretender Welt- und Bruderdienst ist, braucht hier nicht eigens erwähnt zu werden.
Wiederum zeigt sich: Angesichts der Krise junger Generation heute haben die Orden eine entscheidende Funktion. In ihrer Spiritualität, in ihrer Innerlichkeit können sie die Sehnsucht und den Versuch jugendlichen Weges nach innen identifizieren. Eben: Innerlichkeit als Anbetung und Dienst.
[13] d) Kommunikationsschwemme – Kommunikationsnot
In unserem funktionalisierten, technisierten Welt- und Gesellschaftssystem sind wir genötigt, grenzenlos und pausenlos zu kommunizieren, aber diese Weise von Kommunikation landet in der Sprachlosigkeit. Auch herkömmliche Schwellen der Diskretion und der Mitteilungsangst werden, gerade in der jungen Generation, überwunden. Und doch: man sagt sich zwar alles, redet über alles, geniert sich vor nichts, aber man ist nicht selber drinnen in seinem Wort, man bleibt in einer um so tieferen Einsamkeit hinter seinem weggegebenen Wort zurück. Wir haben diese Ich-Note bereits berührt. Sie macht den Weg zum Du und zum Wir dringlich, läßt ihn oft leidenschaftlich suchen. Aber das Du und das Wir wollen so intensiv im Augenblick erlebt werden, daß oft nur die Augenblicklichkeit, das Episodische der Beziehung zurückbleibt. Entweder gefährliche, weil verzehrende Totalität – oder aber im letzten alleinlassende Unverbindlichkeit. Oft aber beides zugleich. Man ist versucht, alles wegzugeben, sich selber wegzugeben – ohne die Kraft, dort zu bleiben, wohin man sich gegeben hat.
Diese bedrängende und verbreitete Not darf uns freilich die Augen nicht davor verschließen, daß gerade auf demselben Feld mit der jungen Generation auch neue Hoffnungen und Ansätze gegeben sind: mehr Unmittelbarkeit, Lauterkeit, Tiefe von Gemeinschaft. Entscheidend wird es sein, daß solche Ansätze nicht in sich isoliert bleiben, nicht Zellen, in denen nur wenige überleben können, die aber nicht zusammenwachsen zum Gewebe, in dem Leben für alle, Leben für Gesellschaft und Kirche wächst. Könnten nicht die Orden und geistlichen Gemeinschaften in dieser Situation Zellen bilden und Katalysatoren sein? Ist nicht die Verankerung im Charisma eines Gründers die Chance, Kommunikation zu vertiefen und zugleich über die Zufälligkeit, Jeweiligkeit und Einzelheit hinaus zu öffnen?
Überschlagen wir nochmals das Fazit des unter dem Stichwort „Krise der Jugend“ Gesagten. Not vor einer das Ganze tragenden Entscheidung und Bindung, Not vor der Entscheidung für das, was größer ist als ich und meine Kraft; Not um Zukunft und Vergangenheit, Flucht ins Jetzt, die so aber letztlich Flucht vor dem Jetzt bedeutet; Not mit den Institutionen, Not mit der Übernahme von Verantwortung fürs Ganze und im Ganzen, zugleich Not, die nach innen drängt, Not, die sich im eigenen Innen verliert und nicht durchstößt zu Anbetung und Dienst; Not um die Kommunikation, tiefe Einsamkeit, die durch intensive, aber unverbindliche Erfahrungen von Miteinander nicht kompensiert werden, Not der kleinen Zelle, die nicht hineinwächst und über sich hinauswächst ins Gewebe. So nebeneinander gestellt, ist das nicht die Situation. Das Gegenbild gehört unabdingbar dazu: Bereitschaft junger Menschen zum Engagement, aber die notvolle Frage: Wo und mit welcher Kraft? Erkennen und Anerkennen der neuen Situation, des mit dem Gestern und Morgen unverrechenbaren Jetzt, [14] aber: Wo und wie herausfinden aus dem Käfig des Augenblicks zum tragenden Woher und Wohin? Suche nach jenem Innen, in dem ich selbst und das Ganze ein Gleichgewicht haben, aber: Wo ist die Pforte, die im Innersten nach oben und nach außen führt? Erfahrung neuer Gemeinsamkeit, aber: Wie wächst aus ihr die übergreifende, die ganze, die Gesellschaft und Kirche erneuernde Gemeinschaft? Ansätze, von denen wir lernen können, die aber zugleich Fragen an uns stellen; Fragen, für die wir die Antworten nicht bereit haben, die aber dennoch etwas sind wie der Stab des Mose, der lebendiges Wasser aus der manchmal versteinert erscheinenden Tradition unseres Erbes und Form unserer Berufung locken kann.