Krise des Hörens
Krise des Hörens
[46] Störungen im Verhältnis des Hörens zur hören lassenden Mitteilung gibt es in jedem Zeitalter. Die menschliche Freiheit ermöglicht das rechte Hören und Reden, schließt aber zugleich die Gefahr des Mißbrauchs mit ein. Und auch das bereite Herz und das offene Ohr bleiben den mannigfachen geschichtlichen Bedingungen ausgesetzt, die den unendlich weiten Spielraum des Geistes im wirklichen Dasein je verengen. Immer werden neue Gedanken und wird eine neue Sprache der Kunst zunächst auf Zögern und Mißverständnis der Mehrzahl stoßen, immer wird die Gewöhnung der Menschen aneinander die wache Ursprünglichkeit täglich neuen Verstehens abzustumpfen drohen, wird der junge Aufbruch versucht sein, nicht behutsam genug auf die überlieferten Worte zu achten, denen er Entscheidendes verdankt, und immer wird die Gewaltsamkeit der lauter tönenden Stimmen leichter Gehör finden als die geheime Macht der leisen.
Das rechte Hören gelingt also nicht selbstverständlich, doch bekundet dieser immer selbe und immer auch wieder andere Tatbestand allein noch keine Krise des Hörens. Mag auch oftmals unvollkommen oder gar schlecht gehört werden, solange das Maß des rechten Hörens dem Bewußtsein als erkennbar und [47] dem Vollzug als erschwinglich vorschwebt, ist die Sache des Hörens grundsätzlich noch in Ordnung. Anders, wenn dieses Maß selbst fragwürdig wird oder doch ohnmächtig anderen Mächten gegenüber, die den Menschen nur mehr schwerlich zu dem kommen lassen, was ehedem als das rechte Hören galt. Müßten wir Heutige diesen Befund unserem Zeitalter zuerkennen, dann hätte das Wort von der Krise des Hörens sein Recht.
Krise des Hörens heißt jedoch nicht Verlust des Hörens. Sinn jeder Krise ist ein Neugewinn, freilich durch tödliche Bedrohung hindurch. Aber sie ist als Krise nur erkennbar, weil die erschütterten Maßstäbe verborgen dennoch weiterwirken. Wer von einer Krise des Hörens spricht, muß daran glauben, daß das Wesen und die Ordnung des Hörens noch hörbar sind.