Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken und die Diözesen

Krise des „Katholizismus“

Daß Kirche nicht nur von oben, nicht nur vom Ganzen her lebt, sondern auch von unten, vom einzelnen, von der Zelle her, dies prägt [103] mehr, als es zunächst vielleicht scheinen mag, heute das Bewußtsein und somit die Situation in der Kirche unseres Landes. Es hat seinen Ausdruck darin, daß weithin die Gemeinde als das eigentliche Gliederungsprinzip der Kirche, als das Richtmaß für ihr Verständnis erscheint. Aber trifft das überhaupt zu? Mancherorts droht sich doch der innergemeindliche „Betrieb“ neben den Nöten, Spannungen, Fragen, Entwicklungen und Aufbrüchen gesellschaftlichen und auch christlichen Lebens anzusiedeln; nicht selten wird den durchschnittlichen Gemeinden vorgeworfen, sie seien ein neues Getto der Kirche. Gleichwohl ist die Bewegung in der Kirche unverkennbar mit dem neuen Verständnis und der neuen Praxis der Gemeinde verbunden.

Dies hat seine Gründe in jener Sicht der Kirche, die das Konzil in neuer Breite und Allgemeinheit eröffnete: Kirche als Gemeinschaft, die in sich gegliedert ist, doch gerade so gegliedert, daß der Beitrag aller wichtig wird. Derart gegliederte Gemeinschaft ist, für die Erfahrung des Einzelnen zuerst und zunächst, die Gemeinde. Das neue Ja zur Gemeinde ist also Ja zur Gemeinschaft als Vollzugsform des Christseins und Ja zur eigenen Mitverantwortung für diese Gemeinschaft. Solche Mitverantwortung – dies ist das Neue und Kennzeichnende – erstreit sich aber nicht nur auf ein „den Laien“ zugewiesenes „Ressort“, während „dem Klerus“ das übrige vorbehalten bliebe, sondern aufs Ganze, auch auf Bereiche wie Verkündigung und Liturgie. Nicht daß man in weiten Kreisen hier keine eigene und unveräußerliche Vollmacht und Zuständigkeit des Pfarrers akzeptierte; doch was er hier zu gestalten und zu entscheiden hat, verflicht sich mit Rat und Vorschlag, Beitrag und auch Kritik aller. So ungefähr sieht es doch aus in den Gemeinden, in welchen es „klappt“ zwischen Pfarrer und Pfarrgemeinderat, Pfarrer und Mitarbeiterteam.

Auf ein derartiges Bild von Gemeinde gehen die Wünsche und Vorstellungen vieler zu, und gewiß zu Recht. Von diesem Bild aus werden sodann die Linien weitergezogen „nach oben“, zur Region, zur Diözese hin und über sie hinaus zum nationalen und übernationalen Bereich kirchlichen Lebens. Die Mitverantwortung aller und ihr Bezug zum spezifisch „kirchlichen“ Leben stehen hierbei im Vordergrund, kontrastiert freilich durch die mancherlei Vorwürfe und Appelle, man solle sich nicht auf kirchliche Innenarchitektur beschränken, sondern die intellektuelle Glaubensnot vieler hier im Lande „Draußenstehender“ und die wirtschaftliche, aber auch gesellschaftliche und politische Not der Minderheiten bei uns und der ganzen sog. Dritten Welt ernst nehmen. Nun, auch derlei Hinweise und Appelle finden Resonanz und [104] Beachtung in den Gemeinden. Die wache Gemeinde ist keineswegs dazu verurteilt, „Getto“ der Binnenkirchlichkeit zu sein.

Es muß indessen aufmerksam gemacht werden auf einen Zug, der mit dem Aufbruch zur Gemeinde als kritische Absetzung von einem früheren Kirchenbild Hand in Hand geht. Dieser Zug kritischer Absetzung ist durch die Ablehnung eines „autarken Klerikalismus“, einer Allzuständigkeit des Priesters für Sachen des Glaubens und der Kirche noch nicht erschöpfend gekennzeichnet. Ein weiteres, wichtiges Element bleibt zu erwähnen: die kritische Distanz zu dem, was man – wenigstens in einem Sinn dieses Wortes – „Katholizismus“ nennen kann; oft redet man in diesem Zusammenhang auch von „Verbandskatholizismus“, wenngleich das Gemeinte sich weder auf den Bereich der katholischen Verbände beschränkt noch ihn überhaupt genau trifft. Was also ist das hier Gemeinte? „Katholizismus“ in diesem Sinne wird verstanden als eine Mentalität, die für alle Fragen aller Bereiche sofort eine eindeutige „katholische“ Antwort zur Hand hat; und dieser Mentalität entspricht eine Organisationsform der Impulse und Aktivitäten von Katholiken, die sie zu katholischen Interessengruppen zusammenschließt, durch welche nach außen die entsprechenden gesellschaftlichen Vorstellungen durchgesetzt, nach innen die Mitglieder in Bewußtsein und Leben geschult und „ausgerichtet“ werden sollen. Das „eigentlich“ Kirchliche – Glaubensverkündigung, Liturgie, spezifisch pastorale Dienste – bleibt dabei ausgespart: es ist allein Sache des Klerus; die Laien werden als passives Kirchenvolk hiermit versorgt, ihre Aktivität setzt weithin „neben“ den unmittelbar gemeindlichen Strukturen an und bezieht sich auf gesellschaftliche Aufgaben, die jedoch in „katholischer Geschlossenheit“ angegangen werden, was den Dialog mit der Gesellschaft und die lebendige gegenseitige Durchdringung von Gesellschaftlichem und Kirchlichem erschwert.

Ein solches Bild des „Katholizismus“ ist freilich eine abstrahierende Verzerrung. Gerade die geschichtliche Bedeutung der katholischen Verbände und auch ihr Beitrag zur kirchlichen Erneuerung, zur größeren Mitverantwortung und Eigenverantwortung der Laien wird dabei vergessen. Zur geschichtlichen Gerechtigkeit gehört es, vier Faktoren mit in Anschlag zu bringen, die leicht vernachlässigt werden, wenn kritisch von Katholizismus bzw. Verbandskatholizismus die Rede ist: die gesellschaftliche Situation, die ihrerseits für einen mehr dialogischen Einstieg katholischer Kräfte und Gedanken nicht offen war, von den Katholiken aber nicht leichthin ohne die kritische Anmeldung eigener Vorstellungen und Meinungen hätte hingenommen werden dürfen; die [105] „geschlossene“, weltanschaulich – um nicht zu sagen: ideologisch – gefärbte Denkweise, die mehr oder minder alle Standpunkte, und nicht nur den katholischen, zeichnete; der Aufbruch eigener, nicht einfachhin kirchenamtlich geplanter und verordneter Initiativen in der Kirche, denen gerade katholische Verbände ihren Ursprung und Höhepunkte ihrer Wirksamkeit verdanken; schließlich Pionierleistungen im allgemein gesellschaftlichen, sozialen, caritativen und Bildungssektor, auf denen weitere Entwicklungen aufruhen. Das darf keineswegs dazu führen, den Wandel in der gesellschaftlichen und in der kirchlichen Situation zu übersehen, der auf die Fragen von heute nicht mehr die richtigen Antworten von gestern passen läßt. Um auf die katholischen Verbände als „Symptome“ anzuspielen: die Ansätze zu neuer Orientierung nach innen und außen verdienen Beachtung – es sei auf die Arbeitsgemeinschaft der katholischen Verbände Deutschlands hingewiesen, die sich bei ihrer Delegiertenversammlung am 8./9. September 1970 in Trier dieser Problematik energisch stellen möchte.

Auch ein geschichtlich korrigiertes Bild des „Katholizismus“ – gerade des deutschen, mit dem über Verbände und Katholikentage das Zentralkomitee der deutschen Katholiken eng verbunden war – behebt indessen nicht seine faktische und notwendige Krise. Die Bereiche von Verkündigung, Liturgie, Pastoral und innerer Ordnung kirchlichen Lebens waren weithin von der aktiven Mitgestaltung und Mitverantwortung aller Gläubigen ausgespart. Sie drängen in der neuen Zuwendung zur Gemeinde in den Vordergrund, und das durchaus mit Anlaß und zu Recht. Die Begegnung mit der Gesellschaft, mit der Kultur, mit den vielfältigen Bereichen der Welt war nicht frei von ideologisch-abschließenden Elementen, die es auch im „Innern“ nur zaghaft zur Entfaltung einer legitimen Vielgestalt von Meinungen kommen ließ. Ein neues Verhältnis zu Welt und Gesellschaft bricht sich, wiederum mit Anlaß und zu Recht, seine Bahn.

Hierbei läßt sich jedoch eine gewisse Ungleichheit beobachten. Die innerkirchliche Mitverantwortung wird praktisch erstrebt, ihre Fragen werden strukturell angegangen und beschäftigen viele Gremien mit Vorrang. Das Verhältnis zu Welt und Gesellschaft behält hingegen weithin deklaratorische Züge, es wird Sache von Protesten, Theorien, ja: „Liturgien“. Die Kritik am Verbandskatholizismus koppelt sich faktisch also doch mit einer Abwendung auch von den Bereichen, denen früher die Aktivität der Verbände galt. Die Differenziertheit und Un-durchsichtigkeit gesellschaftlicher Fragen und Verhältnisse schreckt ab. Die neu entdeckte Mitverantwortung aller mit dem kirchlichen Lei- [106] tungsamt verleitet dazu, auch die gesellschaftliche Aktivität und Verantwortung in die neue, sozusagen „demokratisierte“ Amtlichkeit hineinzuziehen, wodurch sie weithin im „Prinzipiellen“ bleiben. Simplifizierungen und Ideologisierungen der Gemeinde, der Mitverantwortung aller, der kirchlichen Strukturen, der Weltverantwortung der Kirche sind mit neuen Ansätzen und Erkenntnissen bunt vermischt.

Läßt sich der Gewinn der neuen Entwicklung zu gemeinschaftlicher und umfassender Mitverantwortung aller mit dem positiven Erbe, das eben doch im „Nachlaß“ des Katholizismus verborgen ist, verbinden? Gewinn und Verlust sind freilich aufeinander verwiesen. Alles retten und Neues dazugewinnen wollen, das könnte auch zur Verwässerung des Geretteten wie des Gewonnenen führen. Dennoch ist es notwendig, Einseitigkeiten der Entwicklung, Trends, die sich unbesehen ausweiten und auswirken, nicht einfachhin sich selbst zu überlassen. Die Gemeinde, die Zelle, der Aufbruch von unten her prägen weithin das Bewußtsein und die Situation in der Kirche unseres Landes. Dies muß von jedem bejaht werden, der das Konzil, ja der die innere Dynamik der Kirche bejaht, in welcher der eine Geist eben in vielen Gaben wirkt. Gleichwohl sind einige Fragen an die Konsequenzen zu stellen, die bewußt oder unterschwellig aus solchem echten Antrieb gezogen werden.

Wenn es falsch war, das spezifisch „Kirchliche“ mit Aufgabe und Vollmacht kirchlichen Leitungsamtes allein zu identifizieren, so wird dieser Fehler nicht wesentlich besser, wenn das Leitungsamt durch „demokratische“ Vorgänge mit Willen und Meinung aller angereichert und verschränkt wird, der Blick und das Interesse aber sich weiterhin auf die spezifischen Aufgaben des Leitungsamtes allein konzentrieren.

Wenn es falsch war, die aktive Mitgestaltung aller in der Kirche allein in die Bereiche des gesellschaftlichen Engagements abzudrängen, so wäre es doch nicht minder falsch, dieses Engagement in der Gesellschaft zu vernachlässigen und es nicht für jene Strukturen auszubilden, deren es heute, in unserer anders gewordenen Situation, bedarf. Die gesellschaftlichen Aufgaben heute sind schwieriger und komplexer als zu früherer Zeit, sie lassen sich nicht mit einigen allgemeinen Grundsätzen und Meinungen und mit eindeutigen katholischen Standpunkten in jeder Frage politischer und sozialer Art abgelten, Gleichwohl wäre es eine bedauerliche Unterbietung des Evangeliums, wollte man es nur als Aufruf zu geistlichem Leben plus innerkirchlicher Demokratie verstehen.

Wenn es falsch war, kirchliche Einheit als innere Geschlossenheit zu verstehen, die zu einem kommunikationslosen Binnenbewußtsein [107] führte, so muß man heute wiederum darauf achten, daß etwa die neuen Ratsstrukturen nicht ein Eigengewicht und eine Eigenproblematik erhalten, die sie von der lebendigen Basis der Gemeinden abschneiden; es wäre eine Fehlentwicklung, entstände anstelle eines alten ein neuer „Katholizismus“, anstelle eines Verbands- ein Rätekatholizismus. Die Gefahren, die sich mit der notwendigen Ausbildung neuer Strukturen der Mitverantwortung aller am Leben der Kirche auf allen deren Ebenen zugleich ergeben, lassen sich demnach stichwortartig so zusammenfassen: Konzentration auf innerkirchliche Problematik, Versuchung, um der Schwierigkeit und Vielschichtigkeit gesellschaftlichen Lebens heute willen sich vor seinen Fragen in ein neues Getto zurückzuziehen, Beschränkung des Auftrags der Kirche auf die spezifischen Aufgaben kirchlichen Leitungsamtes, das nur nicht mehr in klerikaler Autarkie, sondern unter Heranziehung demokratischer Elemente ausgeübt wird, Ausbildung eines neuen „Katholizismus“, d. h. einer Selbstgenügsamkeit von Ratsstrukturen, welche die Beziehung zum wirklichen Leben zu verlieren drohen, das sich in ihnen doch repräsentieren soll.

Gerade jene Elemente, die sich in der neuen Entwicklung der Kirche als „Antithese“ zu einer einseitigen früheren These artikulieren, laufen Gefahr, der Verkürzung des Ansatzes selbst zu unterliegen, den sie kritisieren. Dies ist die eine oft unbedachte Voraussetzung, aus der mitunter Konsequenzen gezogen werden, die eine positive Weiterentwicklung gerade blockieren, statt sie zu fördern. Die globalen Andeutungen, die hier gemacht sind, müssen in diesem Zusammenhang genügen, zumal es sich hierbei keineswegs um fixe und allgemeine Tatsachen, sondern nur um Trends der Entwicklung handelt. Eine weitere Voraussetzung fließt unbesehen in manche Konsequenzen ein, die aus der Notwendigkeit gezogen werden, die Mitbeteiligung aller am gesamten Leben der Kirche auch institutionell zu verstärken: Man setzt Beteiligung aller am Leben der Kirche mit einer quantitativen Repräsentanz der Meinung und des Willens aller identisch. Hierbei werden die Unterschiede zum politischen Bereich übersehen, wo durch Fraktionen, durch Parteien eine andere Möglichkeit der „Übersetzung“ des Willens aller in politische Aktivität gewährleistet ist. Man übersieht zugleich, daß Repräsentativität in der Kirche sich nicht in einer quantitativen Spiegelung der Meinung und des Willens aller erschöpfen kann, wenn diese gleichwohl auch in der Kirche ihre Bedeutung hat, Element solcher Repräsentanz ist. Es muß aber gerade hier auch Ernst gemacht werden mit der Vielzahl der Charismen, die das Leben der Kirche bestimmen [108] und die einander nicht ersetzen und sich nicht auseinander ableiten. Sie sind zwar allesamt aufeinander verwiesen, kein Charisma funktioniert „automatisch“, ohne hörende Orientierung am Ganzen und gerade an den anderen Charismen. Doch geht das Charisma als Gabe des Geistes gerade nicht darin auf, Produkt solcher Orientierung an anderen Charismen zu sein. Daraus folgt auf der einen Seite die eigene und unverrechenbare Zuständigkeit kirchlichen Leitungsamtes und auch der anderen Ämter und Dienste in der Kirche – freilich in der Bindung ans Ganze und seine Einheit –, auf der anderen Seite die Notwendigkeit, die qualitative Verschiedenheit der Charismen nicht restlos aufzulösen in quantitative Verhältnisse von Mehrheit.

Was hat indessen diese Reflexion mit dem Thema zu tun, um das es geht: Zentralkomitee und Diözesen? Zumindest dies: Die Situation der Kirche in unserem Land ist von den hier gestellten Fragen bewegt. Sie müssen gemeinsam von den Diözesen bewältigt werden. Strukturelle Modelle und Entwicklungen tun not, welche die Mitverantwortung aller am Leben der Kirche gewährleisten, ohne die Pluralität der Aufgaben und Dienste zu nivellieren, ohne in den spezifischen Funktionen des Leitungsamtes kirchliches Leben und seine Impulse sich erschöpfen zu lassen, ohne die Aufgaben zu vernachlässigen, die in der gegenwärtigen Gesellschaft sich dem Christentum und der Kirche stellen. Dies alles drängt aber zur Gegenfrage: Genügt synodale Mitverantwortung aller mit dem kirchlichen Leitungsamt für jene Aufgaben, die ihm unsere Stunde, die gemeinsame Situation aller Bistümer stellt?