Die Wahrheit Jesu
Kriterien von Wahrheit
Wahrheit, in der Neues aufgeht: Kann es Kriterien für solche Wahrheit geben? Muß sie sich nicht unerrechenbar aus sich selbst bewähren? Hat sie ihren Erweis nicht unmittelbar in ihrem Aufgang? In der Tat, einen Allgemeinbegriff der Wahrheit des Neuen, des Aufgehenden [99] kann es nicht geben und ebensowenig Kriterien, die als mitgebrachte Maßstäbe das beurteilen, was die bisherigen Maßstäbe sprengt. Kein Begriff und kein Kriterium kann es uns abnehmen, den Aufgang eines Neuen aus sich selbst zu verstehen. Doch in seinem Aufgang tritt das Neue ins Verhältnis, ins Verhältnis zu uns, zum Alten, zu allem. In solchem Verhältnis geschieht die Bewährung, in solchem Verhältnis gewinnt die neue Wahrheit ihre Kontur. Ihr Begriff ist also nicht Allgemein-, sondern Differentialbegriff. Ihre Kriterien sind nicht allgemeine Merkmale, sondern Verhältnisbestimmungen. Als Verhältnisbestimmungen sind sie freilich dennoch wahrhaft Kriterien; denn nur wo sie zutreffen, ist ein integrales Verhältnis des Neuen im Kontext des Ganzen gewährleistet.
- Negation
Was aufgeht, stößt vom Bisherigen ab, es relativiert das Bisherige, rückt es in einen veränderten Kontext. Eine neue Weltsicht – wie die des Kopernikus – macht die frühere nicht einfachhin falsch, entkleidet sie jedoch ihrer Selbstverständlichkeit und Einzigkeit. Auch nach Kopernikus geht noch die Sonne auf, und doch hat sich die Mitte der Welt verschoben. Neue Wahrheit läßt alte Wahrheit stehen, aber macht sie zur alten – und so gerade wird das Ganze neu.
- Stimmigkeit
Der Anspruch, der eine neue Dimension aufstößt, das Zeugnis, das eine neue Wirklichkeit erschließt, das Licht, das neue Perspektiven öffnet, müssen sich in sich selber bewähren. Man muß in der Tat neu sehen, neu gehen, neu sein können, wenn man solchem Anspruch, Zeugnis, Licht sich anvertraut. Eine neue, eigene, in sich stimmige Ordnung muß aufspringen; sie muß ihre Konsistenz, ihre Logik, ihre eigene Qualität haben. Ein ästhetisches Beispiel mag das veranschaulichen: Die Reduktion Mozartscher Stilelemente auf anderes, was es zeitgenössisch in der Musik auch gab, richtet nichts aus gegen die innere Identität von Mozart. Weil Mozart eben Mozart ist, ist Mozart etwas. Man könnte abstrakt formulieren: Jede neue Wahrheit hat ihre [100] neue Identität, die scheinbar nur analytisch, weil von innen aufgeht, wenn sie auch noch so viele Elemente von außen assimiliert und integriert. Das eigentlich „Synthetische“, will sagen: Unselbstverständliche, Neue ist nicht ein Einzelnes, sondern das Ganze.
- Integration
Was neu aufgeht und in sich stimmt, erweist sich freilich als wahr nur dann, wenn es keine isolierte Sonderwelt schafft, sondern wenn durch die Fenster des Neuen das Ganze, alles, was ist, alle Erfahrungen, alle Fragen hereinscheinen in den neuen Innenraum. Wahr ist nur, was es nicht nötig hat, andere Wahrheit zu verfremden, zu verkürzen, zu verdrängen. Wahrheit ist integrativ. Das heißt nicht, daß alte Gewohnheiten nicht durchbrochen, überlieferte Zusammenhänge nicht neu komponiert, überkommene Worte nicht anders gesagt, bislang gültige Reihenfolgen nicht umgeordnet werden müßten. Doch die Veränderung selber muß das integrieren, was sie verändert.
- Steigerung
Man kann, ja man muß die Sache freilich auch umdrehen: Eine neue Wahrheit ist nur wahr, wenn sie auch wirklich neu ist, anders gewendet: wenn sie das verändert, was sie integriert. Diese Veränderung kann nicht abgeleitet werden, das Ableitbare wäre nicht neu – das richtet eine kritische Anfrage an das Konzept eines linearen oder auch dialektischen Fortschritts- und Evolutionsdenkens. Dennoch kann gesagt werden: Neuer Anspruch, neues Zeugnis, neues Licht bringen eine Steigerung, ein Mehr ins Spiel. Es läßt sich alles sehen, was bislang gesehen wurde, aber es läßt sich zugleich mehr, es läßt sich das Ganze von einem neuen Niveau aus sehen. Pascal hat in seiner Lehre von den Ordnungen1 wenigstens indirekt darauf hingewiesen, daß die je höhere Ordnung von der niedrigeren aus nicht in den Blick kommt, wohl aber umgekehrt. Natürlich hat jede Steigerung ihren Preis. Wo innerhalb der Endlichkeit sich Standorte verschieben, wird etwas, was bisher Vorderseite war, Rückseite; aber man sieht ja nicht Seiten, sondern Körper.
[101] Vier Kriterien haben sich uns gezeigt, die zusammentreffen müssen, damit neue Wahrheit sich als Wahrheit erweist: Negation, Stimmigkeit, Integration, Steigerung. Anders gewendet: Neue Wahrheit ist anders; sie ist das, was sie ist; sie läßt alles sein, was es ist; sie läßt alles mehr werden, als was es war, denn sie ist selbst in ihrer Identität ein Mehr. Man könnte von einer verwandelten Restitution der alten Denkfigur des dreifachen Weges sprechen: via negativa, via positiva, via eminentiae.
Die genannten Kriterien haben eines freilich noch außer acht gelassen: das Verhältnis zu uns. Wo wir nur neutral beobachten und registrieren wollten, da könnte wahrhaft Neues sich uns gar nicht aufschließen. Nur wenn wir uns selber einlassen auf das, was aufgeht, kann es uns aufgehen. Wir müssen uns selbst bestimmen lassen von dem, was alles neu bestimmt. Dann aber müssen wir uns selbst ins Spiel bringen; nicht etwas an uns, sondern wir selbst sind das Organ der neuen Wahrheit. Neue Wahrheit ist Wahrheit, die sich gibt und der wir uns geben.
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Pascal, Blaise: Pensées, ed. Brunschvicg, Frgm. 793. ↩︎