Weite des Denkens im Glauben – Weite des Glaubens im Denken
Kritisches Denken*
Auf der fünften Stufe folgt ein contrapassus: Ich möchte auf eine ganz andere, scheinbar gegenläufige Grundkategorie des Denkens Weltes aufmerksam machen. Sie ist viel leiser, aber doch sehr dringlich und gewichtig. Weltes Weite ist nicht nur die Weite der pietas, sondern auch die Weite der Kritik: der Religions-, der Theologie-, der Kirchenkritik. Die Religionskritik [236] war ihm wichtig, weil er mit äußerster Unerbittlichkeit in einer tiefen phänomenalen Genauigkeit das Wesen des religiösen Aktes deutlich machte und weil er von hier aus die Perversionen und die Instrumentalisierungen deutlich machen und verurteilen konnte – freilich nicht im Sinn des äußeren Urteils, sondern der Klarstellung und der Herausstellung des Phänomens, wo Religion in Zerr- und Antiformen geschieht. Doch auch hier gehörte wieder die pietas zu seinem Denken, denn auch in solchen Zerrformen wies er das Winken der unausrottbaren Verbundenheit des Menschen mit dem heiligen Geheimnis auf.
Ich war sehr erstaunt, als er einmal ein Plädoyer für die heilige Maria Alacoque hielt. Das hätte ich nicht vermutet. Er sagte: „Die Herz-Jesu-Verehrung kam in einer Zeit auf, zu der die Theologen sich so sehr in reinen Abstraktionen ergingen, daß die Wirklichkeit Jesu, der ein Herz für uns hat, verdeckt wurde. Dann kam diese unbekannte Ordensfrau und hat Jesus mit dem Herzen entdecken dürfen. Dieses Herz war ein Therapeuticum gegen die verkopfte Theologie, die Gott in den Kasten ihrer Begriffe verstaute und so nicht mehr Ihm selber begegnete.“ Welte ist deswegen kein „Alacoquianer“ geworden, aber er hat die Fähigkeit gehabt, nicht nur solche Formen, die Wesentliches unterbieten, zu kritisieren, sondern auch den Grund und Hintergrund, der in solchen Formen lebt, und der manchmal geistlich und positiv ist, zu sehen.
Er trat allem entgegen, was einer Freiheit des Selberdenkens und dem Mut zur eigenen und zur gemeinsamen Phänomenologie des Heiligen widerspricht – auch in der Kirche. Er litt darunter, daß es in der Kirche vielerlei Konstruktionen gab, die nicht sichtbar werden ließen, daß es um das heilige Geheimnis geht und nicht um Schutz- und Angstbedürfnisse, die kirchliches Handeln und kirchliche Formeln nicht selten prägen. Ich habe bei Bernhard Welte nicht trotz, sondern in seiner Kirchenkritik gelernt, in der Kirche auszuhalten, weil er die Engen immer wieder auf die Weite hin durchbrach und zeigte, daß auch in den verengten Formen etwas lebt, was unsere Solidarität braucht. „Steig nicht aus, laß auch einmal einen Gedanken so stehen, wenn du ihn nicht ganz verstehen kannst. Vielleicht wirst [237] du später darauf kommen, vielleicht ist jetzt nicht der kairos. Glaube daran, daß nicht allein in der kritisch-historischen oder reflexiven Kompetenz das Urteil über den Glauben liegt, sondern daß es auch das Gefüge von anderen Charismen und auch des Amtes gibt. Sei weit genug, das Verborgene auch dort zu entdecken. Aber habe den Mut zu widersprechen, wo das Wesen pervertiert wird und das Heilige als solches in Gefahr ist.“ Bernhard Welte war ein behutsamer, aber vielleicht gerade dadurch sehr radikaler Kirchenkritiker, der die Kirche zugleich in einem von mir ganz selten sonst bei uns Theologen gefundenen Ausmaß geliebt hat.