Das Heilige und das Schöne

Kunst: das Ereignis des Schönen in die Gestalt*

In der ursprünglichen Zusammengehörigkeit des Heiligen und des Kunstwerkes wohnt zugleich eine Differenz zwischen dem Heiligen und dem Schönen. Sie ist das Feld, in dem von innen, vom Wesen her überhaupt die Frage der Möglichkeit, |die Frage nach| Sinn und Gestalt sakraler Kunst gestellt werden kann. Mit dem Wort „das Schöne“ meine ich die Gegend, die Grundansicht des Seins, in welche Kunst als Kunst weist und gehört, in der sie ihr Wesen hat.

Die These, daß die Kunst und das Schöne sich entsprechen, ist nicht so zu verstehen, als ob Häßliches, Banales oder Schreckliches als Unkunst abgetan werden könnten. Schönes ist hier weder als Gegensatz zum Erhabenen noch als Gegensatz zum Unschönen verstanden. Doch als was dann?

Sofern das Brauchbare nur brauchbar, das Zweckhafte nur zweckhaft, das Richtige nur richtig, das Geordnete nur in Ordnung ist, sind sie noch nicht schön. Gleichwohl können das Brauchbare, Zweckhafte, Richtige, Geordnete schön sein. Und sie sind es, wenn die Schönheit nicht auf die Weise eines Zusätzlichen zu ihrer Brauchbarkeit, Zweckmäßigkeit, Richtigkeit und Ordnung hinzukommt. Ihre Schönheit ist um so schöner, je weniger sie Zutat und Anhang ist. Aber die Dimension, um derentwegen etwas schön ist, ist eine „neue“, sie ist, um es negativ zu sagen, das Unselbstverständliche. Schönheit ist das Unselbstverständliche des Seins, mittelalterlich gesagt: die nobilitas, der innere Rang des Seins, der zu ihm gehört, aber wenn er aufgeht, je neu und wunderbar, nie einfach errechenbar und verfügbar aufgeht. Das Schöne ist das Ereignis des Entzogenen, Unselbstverständlichen in die Gestalt, sein Auf- [258] gang in ihr und über sie hinaus. Diese Koinzidenz von Ereignis und Gestalt, Gestalt als Ereignis, ist das Wesen der Kunst.

So abstrakt und formal haben wir es gesagt, um kein Phänomen der Kunst und kein Selbstverständnis der Kunst auszublenden. Es ist leicht zu sehen, daß auch jene Formen von Kunst, die sich dem Gewöhnlichen, Banalen, Schrecklichen und Häßlichen zuwenden, doch in den Bereich des Schönen fallen. Dieses Banale, Schreckliche wird ja gestaltet, wird emporgehoben, gezeigt. Das Kunstwerk als gestaltetes spricht: Seht, hört! – selbst wo es einsam für sich steht, scheinbar kommunikationslos. Entweder ist dieses Häßliche und Furchtbare es doch wert, Gestalt zu gewinnen, also im scheinbaren Kontrast gerade Zeugnis der nobilitas des Seins – oder aber es ist Verweis auf sie, Ruf nach ihr, der sie erstrahlen läßt im Widerspruch.

Das Vorkommen des Unselbstverständlichen, Entzogenen in die Konkretion, das Ereignis der Gestalt, Gestalt als Ereignis: dies sind durchgängige, wesentliche Momente der Kunst.