Gerufen und verschenkt. Theologischer Versuch einer geistlichen Ortsbestimmung des Priesters

Leben aus der Erlösung

Können die anderen mir glauben, daß ich an die Erlösung glaube? Diese Frage ist eine stets neue Herausforderung an den Priester. Und diese „anderen“, sie sollen dem Priester drei Dinge zugleich glauben können: daß er selber erlöst ist, daß sie selber erlöst sind, daß die Welt erlöst ist. [165] Noch einmal: Erlöst sein heißt nicht: ohne Grenzen oder ohne Spannungen leben, in einer Vollendung leben, die doch noch aussteht. Wohl aber heißt es: in einer Hoffnung leben, die nicht Anhang zum Leben ist, sondern Sauerteig, der das Leben hier und jetzt von Grund auf verändert. Vielleicht kann eine Begebenheit dies verdeutlichen, die mir immer neu zu denken gibt. Ein Mitbruder erzählte mir, wie er mit seinen Problemen zu einem erfahrenen Freund hinging, um Rat bei ihm zu holen. Nachdem er alles ausgebreitet hatte, sagte dieser Freund: „Diese Probleme lösen, das geht nicht. Wohl aber lassen sie sich erlösen.“ Natürlich muß man, was zu lösen ist, auch in der Tat lösen. Aber oft läßt es sich gar nicht lösen, wenn wir uns sofort an das Suchen der Lösung begeben, ohne zuvor unsere persönliche Einstellung zu dieser Angelegenheit zu bedenken. Und da ist eben das Entscheidende: Gehe ich als Erlöster an das Problem, glaube ich, daß es hineingehalten ist in die erlösende Liebe Gottes in Jesus? Bin ich bereit, diese Sache selber in diese erlösende Liebe hineinzuhalten, sie an den, der Erlösung schenkt, abzugeben? Und erst in diesem vertrauenden Loslassen finde ich die Freiheit, um Lösbares eben zu lösen und vom Unlösbaren nicht mich oder andere fesseln zu lassen, sondern es erlöst und – in einem recht verstandenen, annehmenden, mitwirkenden Sinn – erlösend auszuhalten. Ich bin erlöst, die andern sind erlöst, die Welt ist erlöst. Wie kann dieses Bewußtsein den Alltag durchdringen, ohne seine Schatten, Lasten und Nöte zu verdrängen? Zumindest für den Einstieg scheint es mir ein guter Rat zu sein, es einmal mit einem dreifachen Morgengebet zu versuchen: mit dem Morgengebet vor dem Spiegel, mit dem Morgengebet vor dem Terminkalender, mit dem Morgengebet vor der Zeitung.

[166] Ich bin erlöst

Das Morgengebet vor dem Spiegel ist keineswegs das einfachste. Wie oft schaut dieses soeben wieder zu sich selbst erwachte Ich mich fremd und bedrückend an. Wie wenig selbstverständlich ist es, daß ich jeden Morgen mich selbst „adoptiere“. Wie groß ist die Gefahr, daß ich, mir meiner Grenzen bewußt, meine anstehende Überforderung wieder in Sicht, mich selber nicht mag. Und gerade weil der Priester soviel zu sprechen und zu wirken hat, kann aus seinem Mund ihm der Klang der eigenen Stimme, die er demnächst wieder hören muß, indem er andere sie hören läßt, leer und hohl Vorkommen, ungedeckt von der Kraft des Herzens, von der Ursprünglichkeit eines begeisterten und begeisternden Herzens. Wer werde ich heute wieder sein? Und in welcher der vielen Rollen und Positionen, die ich heute einnehme, soll ich wirklich mich selbst erkennen? Welches ist der „rote Faden“, der die vielen Bilder, in denen ich heute erscheine und mitspiele, in ihre Einheit, in ihren Bestand zusammenbindet? Vielleicht verdränge ich das, vielleicht lasse ich es gar nicht so weit kommen, daß mich dies alles anficht, aber ist es nicht doch im Untergrund da: Wer bin ich selbst? Wie kann ich von innen her „Ja“, von innen her „Ich“ zu mir selber sagen? Antwort: weil ein anderer sein erlösendes Ja und sein erlösendes Du zu mir sagt. Ja, mein Erlöser, ich glaube mich dir, ich nehme mich so an, wie du mich siehst, wie du mich liebst. Morgengebet vor dem Spiegel.

Die anderen sind erlöst

Und niemand wird mir heute begegnen, zu dem er nicht dieses selbe und doch je einmalige Ja und Du spricht. Ich weiß nicht, wer mir heute begegnen wird; ich weiß nicht, wie [167] die mir begegnen werden, von denen ich weiß, daß ich sie heute treffe. Und wenn ich meine, ich wüßte doch schon, wie die sind, und sie einordne, sortiere, beurteile, dann habe ich mich selbst bereits verschlossen und ihnen Unrecht getan, indem ich entweder nichts mehr von ihnen erwarte oder sie mit meinen Erwartungen überfordere und überfrachte. Ich erwarte jeden, aber erwarte ihn je zum erstenmal, denn ich erwarte in ihm je den Herrn, seine Liebe, sein Ja, mit denen er einen jeden Menschen angenommen und bis in den Grund hinein durchlitten und so erlöst hat. Alle, die mir begegnen können, sind Erlöste, und wenn die Erlösung bei ihnen noch nicht ankam und durchkam, so soll meine Begegnung mit ihnen eine Chance sein, damit dies geschehen kann. Keiner soll mir heute begegnen, für den ich nicht schon gebetet habe, den ich nicht schon in Jesu Angesicht erwartet, zu dem ich nicht schon gesagt habe: Komm nur, es ist gut, daß du kommst, es ist gut, daß du da bist! Morgengebet vor dem Terminkalender. Der einzige, der heute sicher kommt, ist Jesus; und in allem, was kommt, hat Er Termin bei mir.

Die Welt ist erlöst

Doch der Blick kann nicht bei denen stehenbleiben, die unmittelbar in meinen Gesichtskreis treten. Die Welt ist größer; und alles, was in der Welt geschieht, ist zu zählen und zu wiegen von ihm, von seiner erlösenden Liebe her. Nichts fällt heraus aus der Spannweite seiner Erlösung. Die Erlösung ist der Kontext, den ich zu jedem Text hinzulesen muß, um ihn richtig zu lesen. Wenn ich die Zeitung aufschlage, wenn ich ins Zeitgeschehen hineinblicke, dann will ich nicht nur meinen Befürchtungen und Hoffnungen, nicht schreckenden Überraschungen oder lähmender Enttäuschung begegnen, sondern alles ernst nehmend, alles nüchtern sehend, wie es [168] ist, möchte ich durchsehen bis auf diesen Grund: Die Welt ist erlöst. Morgengebet vor der Zeitung, vor dem Zeitgeschehen, vor der Welt. Gewiß ist das keine „Spezialität für Priester“. Aber wenn dieses dreifache Leben aus der Erlösung – der Erlösung des Ich, der Erlösung aller Menschen, der Erlösung der Welt und des Weltgeschehens – nicht das Vorzeichen vor dem Tagewerk des Priesters ist, dann droht er, schier mehr als jeder andere Christ, der Welt ein Stück Erlösung, genauer gesagt: ein Stück der Erfahrung von Erlösung, des Zeugnisses von Erlösung wegzunehmen. Lebe als Erlöster, damit du Zeuge von der Erlösung sein kannst.