Wahrheit und Liebe – ein perichoretisches Verhältnis

Liebe als perichoretisches Verhältnis

Dass Liebe ein perichoretisches Verhältnis in sich selber darstellt, scheint aufs erste plausibel. Die Vollgestalt von Liebe erscheint unmittelbar als die gegenseitige Liebe, und für sie gilt als unmittelbarer Ausdruck: Du in mir – ich in dir. Andererseits gerät diese Selbstverständlichkeit in die Krise, wenn wir an nichterwiderte Liebe denken und den Rang der Liebe gerade darin erkennen, dass sie den Geliebten und somit sich selber als Liebe nicht aufgibt, wenn sie nicht erwidert wird. Scheint es so fürs erste auch weniger selbstverständlich zu sein, in Wahrheit als in Liebe ein perichoretisches Verhältnis aufzuspüren, so zeigt sich doch näherem Zusehen: Wahrheit ohne Perichorese, Wahrheit ohne das Sein des Seins im Denken und des Denkens im Sein zu denken, geht überhaupt nicht an, ist im Begriff Wahrheit bereits ausgeschlossen. Wie aber verhält sich das mit dem Begriff und der Wirklichkeit der Liebe?

Setzen wir unsere knappe Reflexion über Liebe als perichoretisches Verhältnis gerade bei der Liebe an, sofern sie nicht sich zur Gegenseitigkeit „ergänzt“ hat: Ich liebe dich, auch wenn du mich nicht liebst. Mein Ja zu dir ist nicht abhängig von deinem Ja zu mir.

Auch solche Liebe ist in der Tat perichoretisch. Mein Lieben heisst: Du gehst mir nahe, ja du bist in mir. Mein Denken, Wollen, Fühlen kreisen um dich, umfan-[111]gen dich in mir. Und dies heisst zugleich: Ich gebe dich an dich frei; aber gerade so bejahe ich dich in dir, versetze mich in dich. Ich lasse dich sein, nicht indem ich dich „fallenlasse“, sondern indem ich von dir her zu sehen, zu fühlen, zu verstehen suche. Ich bin verborgen, ohne mich aufzudrängen, in dir, gehe von dir aus auf mich zu. Von dir aus auf mich zugehend, gehe ich zugleich von mir aus auf dich zu, aber eben in diesem Akt, der ebenso Freilassen wie Mittragen bedeutet. So geschieht in mir selbst ein perichoretisches Verhältnis, ein: „Du in mir und ich in dir“.

Das Phänomen der sich nicht von Antwort abhängig machenden Liebe ist in der bisherigen Sicht der Perichorese von Du und Ich, die ausgeht vom Ich, das liebt, noch nicht von seiner Fülle erfasst. Wenn ich dich liebe, dann bist du mir ein bonum, ein Gutes. Auch die Liebe, die den äusserlich nicht Liebenswerten liebt, entdeckt zumindest kreativ in ihm das Liebenswerte, das Gute. Selbst wenn deine Liebe mich vieles und vielleicht sogar das Leben kostet, ist es gut, dich zu lieben, bist du es mir wert, dich zu lieben. Dies statuiert der Liebende als ein solcher, durch sein Lieben. Was aber, im scholastischen Sinne des Wortes, mir ein bonum, ein Gut ist, das enthält mich von sich her, es mag ihm offen sein oder nicht. Aus diesem Grunde kann eigentlich der Liebende, der nicht wiedergeliebt wird, gar nicht nicht lieben wollen, auch wenn es Gründe geben kann, dieses Wollen zu suspendieren. Zur Wesensfigur von Liebe gehört die Gegenseitigkeit von Liebe. Sie beginnt auch in der einsamen Liebe, einfach dadurch, dass du mir ein Gut bist, in dem mein Leben seinen Ort und seine Erfüllung hat. Gerade wenn ich dich nur um deiner selbst willen bejahe, bejahe ich darin auch mich. Du bist von dir her, auch wenn du dies nicht vollziehst, in mir als mich bestimmendes Gutes, und ich bin in dir, wie eben das Streben in dem ist, was ihm als Gut, als bonum sich zeigt.

So gehören zur Liebe auch in jener Gestalt, in welcher ihre Gegenseitigkeit nicht erreicht wird, die zwei Perichoresen: Ich in dir und du in mir von mir her – du in mir und ich in dir von dir her. Lieben heisst dich um deinetwillen bejahen, dieses Bejahen aber ist meine Selbstbejahung, ich will mich selbst als Liebenden, weil du mir ein bonum, ein Gut bist. Die Perichorese von ich und du ist immer zugleich Bejahung des anderen und als solche auch Selbstbejahung. Dabei kann sie freilich als Liebe nicht in Gang kommen, wo sie nur als Konsequenz von Selbstbejahung und nachträglich zu ihr in Gang gesetzt wird; Liebe ist vielmehr immer schon ausgegangen zum anderen, aber dieser Ausgang ist je auch bereits In-mich-Gehen, Selbstbejahung – auch und gerade dann, wenn Liebe zum Opfer bereit ist.

An diesem Punkt stossen wir notwendigerweise indessen auf eine dritte in jedem Lieben, auch im einsamen, eingeschlossene Perichorese: Wer liebt, liebt die Liebe selbst, steht mit ihr in einem perichoretischen Verhältnis. Darauf hat Augustin in seinem Werk „De Trinitate“ eindrücklich hingewiesen.1 Wer liebt, sagt: Es ist gut, dir gut zu sein.

Die immanente Bedeutung: Was dir gut tut, ist dies, dass ich dir gut bin. Weil ich dich bejahe, bejahe ich mein „Dich-Lieben“. Das scheint eine tautologische Aussage zu sein, aber diese Tautologie ist Aufdecken, lässt Neues sehen: Du hast [112] dein Sein und Gutsein und ich habe mein Sein und Gutsein darin, dass ich dich bejahe, dass ich liebe. Liebe selbst ist das dich und mich Bejahende, die Daseinsform, die dir und mir guttut. Damit aber ist bereits der transzendierende Sinn des Satzes berührt: Wer liebt, liebt die Liebe selbst. Liebe selbst bejahen, sich übersteigend zum anderen hin, ihn freilassend und freigebend, ist die Ankunft dessen, was dir und mir und überhaupt gut ist, des Ipsum Bonum. Die Phänomenologie der Liebe, in der diese als sie selbst ihren unbedingten und somit ursprünglichen, für das Menschsein konstitutiven Rang aufleuchten lässt, ist ein praeambulum jener fides, deren höchste Aussage lautet: Gott ist Liebe (1 Joh 4,8 und 16).

Solches Die-Liebe-Lieben nun ist wiederum ein perichoretisches Verhältnis. Ich kann die Liebe nicht lieben, wenn ich nicht im ursprünglichen Sinn dich als Geliebten und mich als Liebenden liebe. Die Liebe zur Liebe ereignet sich im konkreten Vollzug von Liebe, der als solcher aus sich selber heraus zum anderen aufbricht. Wo aber umgekehrt ein solcher Aufbruch von Liebe geschieht, da werden nicht nur die Pole des liebenden Verhältnisses, sondern wird das dieses Verhältnis in Gang Bringende und Tragende, die Liebe selber also, geliebt. Im Lieben der Liebe (genitivus objectivus und subjectivus) bist du und bin ich inne, im „Ich“ und „Du“ des Liebens ist die Liebe selber inne.

Wir verzichten hier darauf, diese Verhältnisse in ihr volles Mass hinein auszuschreiben, das dort aufscheint, wo die Gegenseitigkeit von Liebe ausdrücklich wird. In ihr wirkt sich das Lieben der Partner aus als ein Lieben desselben, das Liebe als gemeinsame Selbstübersteigung ausdrückt und vollendet, wie ein Motiv des Richard von St. Victor aufgreifend Bonaventura in seiner Dreifaltigkeitsspekulation über die Liebe sichtbar macht.2

Perichorese ereignet sich also in vollendeter Gestalt in einer gemeinsamen Selbstübersteigung, die im anderen, im „Dritten“ sich verwirklicht und mit ihm wiederum in einem perichoretischen Verhältnis steht. Dieser Öffnung der Gegenseitigkeit von Liebe eignet vom Wesen her eine universale Offenheit. Dasselbe, was die Liebe konkret macht, ganz meine Liebe und ganz Liebe zu dir sein lässt, öffnet sie auch über Begrenzungen, qualifiziert sie zu einem Ja, in dem die Liebenden gemeinsam weitergehen. Der vorgegeben absolute Charakter von Liebe wird zur Konkretion nicht nur in der Totalität der Liebe bis zur Selbsthingabe,3 sondern auch in ihrer Universalität. Die Zuwendung zu jedem Nächsten, das Umfangen eines jeden Menschenantlitzes ist nicht eine Verdünnung und Idealisierung von Liebe, sondern Ausdruck ihrer Konkretion. Daher ist es freilich nur möglich, alle zu lieben, indem je der Nächste der Ort dieses „alle“, der Ernstfall der Universalität ist.


  1. Vgl. VII, 7-10; IX, 2. Wer liebt, liebt die Liebe selbst: Dieser augustinische Satz gilt sowohl von der Immanenz des Verhältnisses zum Geliebten wie auch in einem es transzendierenden, aber mit ihm wesenhaft verbundenen Sinn. ↩︎

  2. Vgl. Hexaemeron, XI, 12. ↩︎

  3. Vgl. dieses Maß im Licht der Offenbarung Joh 13, 34 f. ↩︎