Volk Gottes auf dem Weg
Liebe: das Wesen der Kirche
Daß die Liebe das Wesen der Kirche ist, dies ist die inwendigste Aussage, die sich von ihr machen läßt; und sie ist zugleich jene, die am allgemeinsten verstanden wird. Im Bewußtsein der Zeit – wir kamen bereits darauf zu sprechen – wird die konkrete Wirklichkeit der Kirche gerade daran gemessen, ob sie dem entspreche, ob sie das realisiere: Kirche ist Liebe.
Freilich müßte die Kirche die Erwartungen, die sich auf sie richten, enttäuschen, wenn sie bemüht wäre, nur das zu tun, was diese Erwartungen unmittelbar im Auge haben. Man fordert von der Kirche, daß sie in ihrem Eintreten für Friede, Gerechtigkeit, Versöhnung, Brüderlichkeit Gewissen der Menschheit sei; und des weiteren er- [25] wartet man von ihr, daß sie in ihren konkreten Lebensvollzügen Modelle schaffe, die diesen Werten und Maßstäben entsprechen und ihrer Verwirklichung in der Welt den Weg weisen. Solche Forderungen sind nicht leicht zu erfüllen, und ihre Erfüllung wird wohl nie ganz ohne Widerspruch bleiben können, da Utopisches und Einseitiges sich allzu schnell mit dem verbinden, wie man Friede, Gerechtigkeit, Solidarität versteht. Gleichwohl bestehen diese Forderungen zu Recht. Denn eine Liebe, die sich zurückzöge vom herben und kargen Geschäft des Konkreten, vom Schmutz des Alltäglichen und Wirklichen, wäre unecht, wäre frommer Selbstbetrug.
Doch nur deshalb kann die Kirche ihren Dienst an der Gesellschaft leisten, weil sie nicht selbst Quelle ihrer Liebe ist, sondern mehr als nur ihre Liebe zu schenken hat. Das Unterscheidende der Liebe, deren die Christen fähig und zu der sie verpflichtet sind, ist nicht die höhere Leistung, nicht der höhere sittliche Rang. Wir wollen und dürfen die anderen nicht durch ein Angebot „qualifizierterer“ Liebe übertrumpfen wollen, um somit das Christentum zu beweisen – gerade das wäre nicht die Liebe, wie Jesus uns geliebt hat.