Gerufen und verschenkt. Theologischer Versuch einer geistlichen Ortsbestimmung des Priesters
Liebe – Lebensform der Kirche
Wir sprachen über die Liebe in ihrer siebenfältigen Struktur als Lebensform des Priesters. Er spiegelt in dieser Lebensform das, was Kirche ist; und indem er es spiegelt, stellt er es ihr vor Augen, teilt er es ihr mit, gibt er es ihr ein. Er orientiert sich, in seiner Orientierung an Gott in Jesus Christus, an der Kirche; und er orientiert die Kirche zugleich an dem in Jesus Christus anwesenden Gott, der die Liebe ist. Der Priester ist, daß (weil) Kirche Liebe ist und damit die Kirche Liebe sei. In diesem doppelten Gründungsverhältnis also ist es zu sehen, wenn im folgenden die sieben Wesensmerkmale der Liebe und der priesterlichen Lebensform von der Kirche ausgesagt werden. Es gilt von der Kirche im ganzen, aber auch von jedem Anteil des Gottesvolkes, der irgendwo auf Erden versammelt und in dem Kirche anwesend ist. Auch dort, wo, in der Sprache des Konzils gesagt, die Kirche nicht in der Fülle ihrer Einheit realisiert ist, aber wohl ekklesiale Elemente gegeben sind, können die sieben Strukturmomente Hinweis und Ansatz sein, damit das Testament Jesu, daß alle eins seien, sich um so rascher und tiefer verwirklichen könne (vgl. Joh 17,22f). [210] Wir gehen wiederum die nun schon vertrauten Aspekte durch, um den grundsätzlichen Charakter der Kirche als Liebe zu erhellen, wollen aber auch auf einige aktuelle Aufgaben hinweisen. Erstes Moment: Kirche ist Communio und soll immer tiefer und umfassender Communio werden. Der Communio im Wort Gottes und in der Feier der Sakramente, zuhöchst in der eucharistischen Gemeinschaft, entspricht auch die Communio der brüderlichen Liebe, der Teilhabe an den geistlichen und materiellen Gütern. Vom Herrn leben heißt voneinander leben. Entspricht dem auch die Lebensform der Gemeinde? Geschieht hier ein Geben und Nehmen, ein Teilhaben am Reichtum und an der Not der anderen? Wächst die Communio über den Rand des Gottesdienstgeschehens hinaus in den Alltag? Wird an der gelebten Communio die Ecclesia una, das Einssein als Kennmal der Kirche deutlich? Zweites Moment, das der Communio je zugrunde liegt und aus ihr folgt: Missio, Sendung, Zeugnis für die anderen. Kirche ist, daß die Welt glauben kann. Mein Glaube ist, daß du glauben kannst; meine Liebe ist, daß du dich geliebt weißt, darin aber zugleich von der Liebe angesteckt wirst. Der Strahl, der sich auf sich selber zurückbeugt, verlischt. Dichter Kern, ja; bergende Gemeinschaft, ja – aber damit das Licht der Gegenwart des Herrn wächst, nach außen dringt, ihn bekannt und sichtbar macht. Die Kirche ist apostolisch nicht nur von ihrem Ursprung her, sondern auch auf ihr Ziel hin. Der Verkündigungsauftrag, die Sorge darum, daß das Evangelium alle erreichen kann, stehen im Mittelpunkt zumal der priesterlichen Sendung. Doch gerade hier wird sie zur Überforderung; und auch wenn es eine viel größere Zahl von Priestern und beruflichen Mitarbeitern der Pastoral gäbe, bliebe das im Ansatz so. Denn es ist in die Sorge des Priesters gegeben, daß die Gemeinde selbst und als Ganze in den Zeugenstand tritt. [211] Drei Erkenntnisse sind für die Gemeinde als Ganze, aber auch für den Priester persönlich hier entscheidend, sie bilden sozusagen das „Programm“ einer missionarischen Gemeinde. Erster Satz: Glauben heißt zugleich den Glauben bekennen und bezeugen; den Glauben haben heißt ihn weitergeben. Zweiter Satz: Arbeit für das Reich Gottes ist gemeinsame Arbeit, ein Miteinander, in welchem die Liebe als Ursprung und Sache des zu Verkündenden präsent ist. Im Evangelium sendet der Herr immer seine Jünger zu mehreren aus. Auch wo ein Glaubender ganz auf sich allein gestellt ist, müßte er von innen her „Mitarbeiter im Glauben“ sein (vgl. 3 Joh 8). Dritter Satz: Wohin kein Tun und Sagen reicht, dorthin reicht das Sein; das entscheidende Apostolat ist jenes des Seins, und zwar des ganz persönlichen „Liebe-Seins“, das als solches freilich immer zur Gemeinschaft drängt, zum Zeugnis der Gemeinschaft tendiert. Ist dieser Dreischritt – glauben = bezeugen; bezeugen = gemeinsam bezeugen; bezeugen und gemeinsam bezeugen = mit dem Sein bezeugen – der Takt, in dem Kirche geht und lebt? Drittes Moment: Kirche ist, wenn und weil sie Liebe ist, „geistliche Gemeinschaft“. Sie muß die Quellen des Geistes hüten und zu den Quellen des Geistes führen. Dort, wo der Priester seinen „Standort“ hat, im österlichen Geschehen, an der Wunde des Gekreuzigten und Verlassenen, die österlich verklärt ist; an der Wunde, aus welcher der Herr den Geist mitteilt: dort ist auch der Ursprung der Kirche. Immer wieder sagen die Väter, daß sie als die neue Eva aus der Seite des in den Tod gegebenen neuen Adam hervorgeht. Zur Dimension des Mit und des Hinaus fügt sich die des Hinein, der Tiefe. Sosehr es der Kirche um den ganzen Menschen geht, sowenig ist sie eine bloß humanitäre Anstalt, sondern was sie unverwechselbar und unersetzlich als ihr eigenes zu geben hat, das ist das Wasser der Quelle, aus der sie lebt. Natürlich ist das erste hierbei die Austeilung der ihr anvertrauten geist-[212]lichen Güter, des Wortes und der Sakramente. Aber auch die geistliche Führung gehört hinzu und alle die Schätze, die ihr aus dem Glauben und Lieben der Jahrhunderte zugewachsen sind. Das Leben der Kirche und damit des einzelnen, der in ihr lebt, will durchdrungen werden von der Erfahrung des Geistes, vom Leben aus dem Wort Gottes, von der Begegnung mit dem aus Liebe für uns gestorbenen und unter uns lebendigen Herrn. Doch Kirche ist nicht nur ein Magazin, in welchem man sich für den eigenen Bedarf abholen kann, was man zur spirituellen Lebensbewältigung braucht. Der Rhythmus, in dem die Quelle der Liebe springt, ist die Liebe, die Gemeinschaft, die geistliche Mitteilung, eben: geistliche Gemeinschaft. Kirche ist heilige Kirche, die jene heiligt, die sich von ihr zum Herrn und zueinander führen lassen; denn dieses Miteinander ist das Brunnenbecken, das die Quelle birgt und ihr Wasser auflängt und hält. Je dichter das Dunkel der Abwesenheit Gottes über dem allgemeinen Bewußtsein unserer Epoche liegt, desto drängender wird der Hunger vieler Menschen und nicht nur solcher mit einem hohen kirchlichen „Sozialisationsgrad“ nach Spiritualität, nach den unverbrauchten Quellen, aus denen Leben gespeist und gestaltet werden kann. Einerseits wird eine elementare Katechese vom Nullpunkt an immer breiter notwendig, zum anderen aber kommt diese überhaupt nicht an, greift sie gar nicht, wenn nicht zugleich etwas Weiteres geschieht: Aufzeigen von Wegen, wie Leben aus dem Geist geht, wie man die Schritte eines Lebens aus dem Evangelium setzt, wie sich Leben ändert, wenn man es auf die Voraussetzung der Botschaft Christi gründet. Sind unsere Gemeinden in diesem Sinn christliche Lebensschulen, Räume, in denen geistliche Erfahrung schlicht und alltäglich angetroffen und mitgeteilt wird? Der Priester ist immer mehr als der geistliche Begleiter nicht nur einzelner, sondern der Gemeinde gefordert. [213] Viertes Moment: Die Wechselseitigkeit der Liebe, der Austausch aller Güter und Gaben, ja, recht verstanden, des eigenen Seins mit den anderen in der vollendeten Communio führt zur einen, gemeinsamen Gestalt des Lebens, zur Leibhaftigkeit, die das einzelne Glied zugleich bewahrt und zum Ausdruck des Einen und Ganzen werden läßt. Die Herrlichkeit, in welcher die Einheit der Liebe, die Einheit Gottes aufstrahlt, spiegelt sich in der Kirche als dem Leib Christi. Weil Er in der Mitte ist, weil uns sein einer Leib Quelle und Vollendung unserer Communio ist, deshalb ist auch unser Leben, das Leben aller Glieder der Kirche ein Leben. Aus dieser Einheit, aus der leibhaftigen Zusammengehörigkeit, aus dem Herrn in der Mitte seiner Kirche entspringt jene Selbstverständlichkeit des gegenseitigen Dienstes, in welcher deine Not die meine, meine Fülle die deine ist. Der eine Geist vermittelt sich durch die vielen Gnadengaben und Dienste in den einen Leib hinein; der Kirche als dem Leib des Herrn entspricht die dienende Gemeinde. Es gibt einen Text der hl. Therese von Lisieux, der die Tiefe dieses Aspektes wie wenige andere auslotet. Sie ist unzufrieden, weil die Liebe sie drängt, nur an einer kleinen Stelle zu stehen, nicht das Evangelium zu den anderen zu tragen, nicht den Märtyrertod für Christus erleiden, nicht den Fernsten leibhaftig nahe sein zu können. Die Einsicht, daß es vielerlei Dienste und Aufgaben in der Kirche gibt, beruhigt sie noch nicht. Erst als sie über das 12. Kapitel des ersten Korintherbriefes hinaus und in das 13. Kapitel hineinliest, in das Hohelied der Liebe, entdeckt sie: Ich kann an meiner begrenzten Stelle „alles“ sein, wenn ich die Liebe bin, die allein alle und alles beseelt, in Gang bringt und in Gang hält (vgl. Therese von Lisieux, Selbstbiographische Schriften, hrsg. von H. Urs von Balthasar, Einsiedeln 1958 = Leipzig 41977,200). Wir sind erst ein Leib, wenn wir das „sind“, was den Leib zusammenhält, wenn wir jene Liebe sind, die an der eigenen [214] Stelle ganz den anderen mitlebt und mitträgt, für ihn da ist. Stellvertretung ist das Geheimnis, in welchem der Herr unser Heil begründete. In seinem Leib hat er unsere Verfehlungen hinausgetragen auf das Kreuz (vgl. 1 Petr 2,24). Einstehen füreinander, den anderen und somit das Ganze in sich tragen – nur auf diese Weise bleibt der Leib lebendig. Dieses stellvertretende Mittragen des anderen hält erst den Zusammenhang der Kirche lebendig. Der Priester als der Diener des Leibes und des Blutes Christi wird gerade hier einen Schwerpunkt seines Dienstes an der Einheit sehen: daß möglichst viele, möglichst alle das Ganze tragen, indem sie den je anderen tragen. Fünftes Moment: Die Kirche ist beileibe noch nicht der Himmel; aber als das Haus Gottes, als sein Zelt unter den Menschen will sie zugleich das Haus sein, in welchem wir bei ihm und beieinander zu Gast sind, in welchem in der Unrast die Ruhe, in der Flüchtigkeit das Bleiben, in der Hektik das Fest, in der Pilgerschaft das Daheim sich andeuten, vorbereiten, hineinhalten in unsere Zeit. Kirche als Haus Gottes und der Menschen, Gemeinde, die von der Gastfreundschaft geprägt ist, die Heimat bietet, sind Ausdruck der Liebe. Die Aufnahme des Paulus und seiner Mitarbeiter bei den Gemeinden, die Zusammengehörigkeit der ersten Christen, die ihre Häuser füreinander offen hatten, weisen in die angedeutete Richtung. Gottes Haus ist zugleich Haus für die Menschen, Haus der Glaubenden; das Haus für die anderen ist zugleich Haus, in dem Gott wohnen will. Diese gegenseitige Gleichung bringt etwas von der „Dynamik des Himmels“ in das Leben der Kirche hinein. Eine Not, die heute viele bedrängt, ist der Mangel an Zusammenhang, an Zugehörigkeit, an Nähe, die nicht beengt, sondern weitet. Kirche, in der diese Zusammengehörigkeit, diese „universale Nähe“ gelebt wird, wird zur heilenden Botschaft, zum heilenden Angebot. [215] Eine weitere Seite desselben: Natur wird immer mehr vom Menschen beherrscht, domestiziert, durchgestaltet. Zugleich aber droht die Welt gerade dadurch unheimlich, fremd, der Mensch in ihr unbehaust zu werden. Nochmals: Er braucht bergende Räume, Beheimatung. Hängt es auch damit zusammen, wenn in der Ekklesiologie der letzten Jahrzehnte das Wort „Gemeinde“ zusehends in den Vordergrund rückte? Auch wenn Kirche sich beileibe nicht in der Gemeinde erschöpft, so ist es doch dringliche Aufgabe der Pastoral: Gemeinde als Lebensraum erfahrbar und einladend zu gestalten. Haben alle in unserer Gemeinde Platz füreinander; sind alle einander willkommen? Erfahrt jeder, der hierherkommt, daß er aufgenommen ist wie der Herr – und entdeckt er so den Herrn selbst, entdeckt er, daß der Herr hier wohnt? Sechstes Moment: Kirche ist auch das Haus der Weisheit, Gemeinde ist prophetische Gemeinde, im Sinn des 14. Kapitels aus dem ersten Korintherbrief, in dem uns berichtet wird, wie der Fremde oder Ungläubige in die Gemeindeversammlung eintritt, dort sein eigenes Herz entdeckt findet und so zugleich entdeckt: Gott ist in ihrer Mitte (vgl. 1 Kor 14,25). Der Welt, die gerade heute nach den deutenden Worten sucht, um mit ihrer eigenen Unbegreifbarkeit und – beinahe noch mehr – mit der Fülle ihrer Begreifbarkeiten leben zu können, tut das „Haus der Weisheit“, das prophetische Zeugnis der Kirche not, die im „Licht des Lammes“, der Liebe, die Zeichen der Zeit und der Herzen entschlüsselt. Was im Blick auf den Priester ausgesagt wurde, gilt auch für die Gemeinde: Theologie, Bildung aus dem Glauben sind wichtig; sie allein erfüllen aber nicht jenes Maß des Geistes, der den Gläubigen verliehen ist, um die Geheimnisse Gottes in Leben und Welt zu entziffern. Die theologische Bildung und Diskussion um offene Probleme holen allein noch nicht das Maß ein, das der Kirche in Maria, dem „Sitz der Weisheit“, gegeben ist: Wahren des Wortes und Bewohnen des [216] Wortes, Lebenszeugnis aus dem Wort. Sind unsere Gemeinden und kirchlichen Gruppen Räume, in denen wir einander das Wort des Glaubens weitergeben und in denen auch die Erfahrung des „Einfältigen“, ja gerade sie, zum Fundort des Glaubensverständnisses und des gläubigen Weltverständnisses wird? Siebtes Moment: Kirche ist „katholisch“, weltumspannend, und zugleich alle Schichten menschlichen Herzens und Lebens umgreifend, weil sie zu allen hindrängt, alle miteinander ins Netz umgreifender Kommunikation zieht. Das Maß der Liebe ist das Ganze. So will Kirche das Netz Gottes werden, das Netz der Freundschaft und gegenseitigen Liebe, in der Gottes Liebe und Freundschaft Weltgestalt gewinnt. Institution gehört zum inkarnatorischen Hineingetauchtsein der Kirche in diese Welt. Und doch wird der Sinn der Institution dort, wo Liebe Lebensform ist, verwandelt: Zum einen ist Institution Ausdruck von Treue, die Wesenszug der Liebe ist, zum anderen übersetzt sie sich in Kommunikation. Kirche als Netz der Kommunikation, ja der Freundschaft erfordert das Interesse der Gruppen und Schichten einer Gemeinde füreinander, die Offenheit der Gemeinde zu ihren Nachbargemeinden, in das Bistum, ja in die Weltkirche hinein. Du sollst die Gemeinde deines Nächsten lieben wie deine eigene, dein Bistum ist mein Bistum, meine Gemeinde ist die Welt, die Welt ist in meiner Gemeinde gegenwärtig. Solche Sätze sind wie Schlaglichter, die zeigen, wie das geht: Kirche als Kommunikation.