Caritas – eine theologische Reflexion zwischen Konzil und Synode

Liebe verstehen

Die Situation läßt es als strittig erscheinen, wie christliche Liebe zu deuten ist. Die Situation selbst kann christlich jedoch nur gedeutet werden aus der Liebe. Diesem Zirkel des Verstehens können wir nicht entrinnen. Wir können uns nur in seine Mitte einschwingen. Liebe ist Gleichzeitigkeit Gottes mit den Menschen. Was sie ist, muß also von den Menschen her verstanden werden, mit denen Gott sich gleichzeitig macht. Sie muß aber ebenso von Gott her verstanden werden; denn Gleichzeitigkeit wäre keine, wenn Gott sozusagen verschwände in die Welt, in die Menschen hinein. Der Mensch, in den Gott sich verlöre, wäre wiederum einsam, er hätte seine Zeit für sich und mit sich allein, sie wäre nicht aufgehoben in die Gemeinschaft mit einem Ja, das ihn trägt. Nur wenn jener, der liebt, zugleich ganz eintritt in den, den er liebt, und doch ihm darin als Du gegenüber bleibt, geschieht Liebe.

[134] Gleichzeitigkeit schließt Vorzeitigkeit und Nachzeitigkeit dessen mit ein, der sich gleichzeitig macht. Er muß von sich aufbrechen, von sich weggehen, damit Gleichzeitigkeit Zuwendung bedeute; anders gewendet: der, dem ich mich gleichzeitig mache, muß mir Zukunft sein. Doch ich muß ebenso ihm Zukunft sein, er muß wissen, daß ich bei ihm bleibe, daß sein eigener Weg von mir mitgegangen wird, daß er von mir umfangen wird, in mir Raum behält.

Liebe als Gleichzeitigkeit Gottes mit den Menschen erschöpft sich also nicht darin, daß er sich mit der Zeit der Menschen identifiziert und solidarisiert; nur als jener, der zuerst geliebt hat, und nur als jener, der liebend die Zukunft des Menschen vollendet, ist Gott hier und jetzt der Liebende. Daher läßt sich Liebe nicht trennen von der unverfügbaren geschichtlichen Initiative Gottes in Jesus, die es glaubend zu wahren und zu überliefern gilt, und sie läßt sich ebensowenig trennen von der „Eschatologie“, von der Vollendung menschlicher Zeit und Geschichte durch Gottes vollendende Tat. Wie Eucharistie Gegenwart des Herrn bei seiner Gemeinde in der Verkündigung und dem Gedächtnis seines Todes und in der Hoffnung auf seine Wiederkunft bedeutet, so ist alle Gestalt seiner Liebe, seiner Gleichzeitigkeit mit den Menschen in diesen Dreiklang von Gleichzeitigkeit, Vorzeitigkeit und Nachzeitigkeit hineingestellt.

Wo Liebe aufgeht in menschlicher Machbarkeit, die allenfalls durch Beispiel, Gebot und Kraft Christi Impulse erhält, oder wo Liebe die Spannung aufs menschlich Nichterreichbare, die Spannung immanent nicht auflösbarer Gegensätze überspringt und ausschließt, da ist das Wesensmaß der Liebe Gottes, die in Christus erschienen ist, unterboten. Wo Liebe ohne den Glauben an Gottes Liebe „funktioniert“, wo sie im Kalkül menschlicher Möglichkeiten, Kräfte und Aussichten aufgeht, da ist sie mißverstanden.

Es hieße indessen wiederum, der Spannung, die zur Liebe gehört, ausweichen, wenn man sie auf den soeben gezeichneten Pol verkürzte. Liebe kommt nicht darum herum, nach beiden Richtungen zu blicken, nach ihrem Woher und Wohin. Liebe, die nur theozentrisch und nicht zugleich anthropozentrisch wäre, wäre nicht einmal theozentrisch; denn wenn Gott die Liebe ist, dann ist er seine eigene Schwerpunktsverlagerung hin zu dem, dem seine Liebe gilt. Die Rücksicht auf den Menschen, das Eingehen auf ihn, das Ernstnehmen seiner Bedingungen und Grenzen gehört ebenso zur Liebe, wie die Öffnung der Grenzen in Hoffnung und Wagnis auf den zu, der sie von sich her bereits durchbrochen hat.