Musik als Liturgie – Liturgie als Musik
Liturgie: Verhältnis zur Zeit und zum Ganzen
Schauen wir zunächst, was mit dem Menschen vorging, daß er sich schwertut mit Liturgie und zur Liturgie allenfalls ein „anderes“ Verhältnis hat als früher. Das Bedrängendste an unserer Situation, die größte Not, aber auch die größte Aufgabe auf Zukunft hin: Wir können tiefgreifende Verwerfungen im Verhältnis zwischen dem Menschen und der Zeit, zwischen dem Menschen und dem Ganzen feststellen. Vergangenheit, Herkunft wird fremd. Wir können oder wollen sie nicht fortsetzen und stehen ratlos vor dem, was war. Manchmal wollen wir es krampfhaft festhalten – aber bloß festgehalten, ist es ein anderes, bestenfalls Fluchtburg, nicht aber Basis, um weiterzugehen. Oder es ist ein Geträumtes und Erträumtes, verflüchtigt sich so aber in die Harmlosigkeit des bloß Spielerischen, des bloßen Schmucks, der die Ratlosigkeit und Ohnmacht gegenüber der Zukunft verziert. Zukunft wiederum macht Angst, ist unsicher, die Zugbrücke zwischen dem Noch-Nicht und dem Jetzt ist hochgezogen, wir wissen nicht, wie über den Graben zu kommen ist. Das Jetzt selbst bannt uns an sich selbst, möchte mit aller Intensität erlebt werden — oder aber es treibt ob seiner Chancenlosigkeit zur Flucht und Ausflucht. Die Konsequenz zwischen Vernunft, Vergangenheit und Gegenwart ist offenbar das Problem.
Verhältnis zum Ganzen: Entweder ist das Ganze ein System, von dem ich Vorsorgung, Zukunft, Sicherung und Sinn erwarte und mich beliefern lasse. Ich muß viel leisten, damit das Ganze funktioniert, das Ganze muß viel leisten, damit es mit mir funktioniert. Aber dieses perfekte Ganze ist ein labiles Ganzes. Entweder es ekelt mich an, gerade weil es so ganz ist, so gut funktioniert und mich immer wieder nur zum Funktionieren animiert. Ich ziehe mich vor diesem Ganzen zurück und schließe mich in meine Ich- oder Gruppenerfahrung ein, habe Hunger nach der intensiven „Zelle“, in der ich eben mehr als Funktionieren und Beliefertwerden erfahre, habe Hunger nach einer Gemeinschaftserfahrung, die dann aber ganz von mir, ganz von meiner Jeweiligkeit, Spontaneität weitet, meinem Drang nach Selbsterfahrung bestimmt ist oder aber ich resigniere, ziehe mich zynisch, protestierend oder mich anpassend auf das Fleckchen formaler Freiheit zurück, das mir in dem unbeeinflußbar und unkontrollierbar weitertreibenden Ganzen noch bleibt.
Wir müssen freilich im selben Atemzug mit solcher Not und Versuchung auch die Aufbrüche nennen, die darüber hinausweisen. Daß wir verantwortlich sind für die Zukunft der nächsten und weit entfernter Generationen, daß wir nur leben können, wenn das Ganze von Menschheit leben kann: dies ist der Impuls vieler und gerade junger Menschen, gegen Lethargie, Protest und Anpassung neue Erfahrungen zu versuchen. Es sind notwendigerweise Erfahrungen in „kleinen“ Schritten und „kleinen“ Zellen. Der große Atem von Zeit und Ganzheit, die über den kleinen Raum hinausklingende Konsonanz werden ersehnt, aber nicht gefunden.
Wir können das sehr allgemein Formulierte am Verhältnis zur Liturgie etwas konkreter anschauen. Die Zahl derer nimmt ab, die in der Liturgie nur eine Pflichtübung sehen, der sie sich dennoch unterziehen. Was „mir“ nichts mehr bringt, das tue ich auch nicht mehr. Wie wenig dieser Haltung wirklich beizukommen ist, wenn wir nur mit ein paar Attraktionen das Nichtverhältnis zur Liturgie verschleiern, liegt auf der Hand. Größer ist die Zahl, vielleicht darf man sogar sagen: wird die Zahl derer, die erkennen: Ohne Tradition, ohne Vergangenheit geht es nicht. In der Tat ist und bleibt Liturgie eine der elementaren Weisen des je notwendigen vitalen Verhältnisses des Menschen zu Herkunft, Tradition, Vergangenheit. Aber die Konsonanz mit der Vergangenheit bedarf der anderen Konsonanzen, um nicht sich selbst zu zersetzen. Wo ich Tradition nur genieße und konsumiere, wo ich sie mir liefern lasse, da falle ich insgeheim in genau dieselbe Engführung, der jene erliegen, die sich eine gefällige, attraktive, perfekte moderne Liturgie „liefern“ lassen. Die fertig gelieferte Liturgie verschleiert jenes Ereignis des sich schenkenden Gottes, das nur dort ankommt, wo ich zum Mittun, wo ich zum Selbertun meiner empfangenden Antwort komme.
Bloß persolvierte Liturgie, museale Liturgie, perfekt aufgemachte, attraktive Liturgie – dies alles ist nicht jene Liturgie, die ihrem liturgischen und musikalischen Wesensmaß entspricht. Freilich auch jene andere, die ebenfalls eine unmittelbare Reaktion auf unsere isolierende, vereinzelnde Zeitsituation darstellt: Liturgie als die Selbstfeier der Gruppe, der Gemeinde, als das verbliebene Letztfeld von Spontaneität und individueller Augenblicksgestaltung. Mich ein- [22] bringen, den Augenblick in seiner unverwechselbaren Einmaligkeit, das Hier und jetzt versammelter Gemeinde zur Sprache bringen, dies gehört sicher in das Geflecht der Konsonanzen, aus denen Liturgie gewoben ist. Aber wo es die Konsonanz mit dem Ganzen zudeckt, wo das Hier das Überall in sich aufsaugt und nur noch in der Solidaritätserklärung einer Fürbitte ober Kollektive zum Zuge kommen läßt, da verliert Liturgie gerade jene befreiende Wirkung, die solche Individualität und Spontaneität doch suchen.