Gerufen und verschenkt. Theologischer Versuch einer geistlichen Ortsbestimmung des Priesters

Liturgie

Was brauchen die Menschen, was braucht die Menschheit heute besonders? Man erntete Verwunderung, ja Befremden, wenn man auf diese Frage die Antwort gäbe: Liturgie. Und doch trifft diese Antwort tiefer als viele andere.

Liturgie als menschliches Grunddatum

Als Gott den Menschen erschuf, da wollte er ein Wesen, in welchem – wir sprachen bereits davon – der stumme Ruf, der in allem geborgen ist, was ist und lebt, zur Sprache, zur Antwort erweckt wird. Er gab der Schöpfung einen Mund, der nicht nur sie beim Namen nennt, sondern Gott selbst. Dies haben Engel und Menschen gemeinsam. Aber im Menschen ist es der Stoff, ist es das Sinnenhafte, die da Gott verlauten lassen, den Namen Gottes mit Hauch und Klang formen. Und in diesem selben Menschen spricht sich geschöpflicher Geist, der Gott kennt, hinein in diese Ordnungen des Stofflichen und Sinnlichen: Der Mensch ist zugleich Mund Gottes für die Schöpfung und in der Schöpfung. In der Schöpfung ihren gemeinsamen Sinn zu enthüllen und ihn Gestalt und Laut werden, ihn aufsteigen zu lassen über sich selbst hinaus zu Gott und darin Sachwalter und Statthalter, geschaffenes Bild und Wort Gottes in der Welt zu sein – dies ist die kosmische Berufung des Menschen. Auch als sie in der Selbstherrlichkeit des Menschen zerbrach und als der Zug nach oben, der im Lobgesang der Engel die Menschen zum Schöpfer hinriß, durchquert wurde vom gleißenden Sturz ihrer Selbstvergottung, blieb in der Menschheit das Wissen lebendig: Einheit, Zusammenhang, vertrauendes Weitergehen in die aus eigenem nicht bemächtigbare Zukunft gelingen nur, wenn die Gemeinschaft als solche [99] sich übersteigt, sich einbringt und über sich hinausbringt ins Lob dessen, der größer ist als sie. Die Aufsplitterung und Unterbietung des Einen und je Größeren; die mannigfache Pervertierung der Anbetung ins magische Bannenwollen der göttlichen Zukunftsmacht für die eigenen Interessen; die Ablösung der Hingabe durch bloß äußere Leistungen – dies alles gehört zur Geschichte menschlicher Gottesverehrung hinzu. Und doch bleibt es frappierend: Kulturgeschichte der Menschheit ist auf allerweiteste Strecken hin Kultgeschichte. Welt und Gemeinschaft finden in der Menschheitsgeschichte sich selbst, indem sie gemeinsam sich transzendieren in der Feier des entzogenen Heiligen, des göttlichen Geheimnisses. Der Zusammenhang zwischen Kult und Kultur zersprang im neuzeitlichen Versuch, einer Kultur des Verdankens und Weitergebens eine Kultur des Planens und Herstellens entgegenzusetzen. Diese Kultur verzichtet keineswegs notwendig auf Gott, aber die Klammer des Ganzen ist nicht mehr er, der Vollzug des Ganzen nicht mehr seine Verehrung. Die Klammer ist die Gemeinschaft der Interessen und die Verwiesenheit aller auf alle innerhalb der funktionalen Einheit des Werkes. Gott kann hier auf der einen Seite größer, seine Anbetung kann freier werden, indem sie auf die Spitze der Entscheidung des einzelnen, auf sein Innen allein gestellt ist. Aber nicht nur Gott droht hier weltlos zu werden, sondern die Welt selbst droht weltlos zu werden. Welchen Sinn hat sie? Was feiert sie? Sinkt ihr Festtag nicht ab zur bloß funktionalen Ruhepause? Der Hunger nach dem Geheimnis, nach dem, was größer ist als der Mensch und so nur dem Menschen gerecht wird, der selber größer ist als er selbst, bricht allenthalben auf. Eine Kultur, die hinter die Ansätze neuzeitlicher Technik und Wissenschaft zurückginge, wäre hier gewiß nicht die Lösung, so wenig wie die frühere Gleichsetzung von Kult-[100]gemeinschaft und Kulturgemeinschaft. Wohl aber braucht es etwas: Stellvertretung, in welcher das Ganze anwesend ist und dargebracht wird; in welcher nicht im Sinn äußerer Bemächtigung, sondern innerer Hingabe das Band geknüpft wird, das alles zusammenhält, indem es das Alles mit Gott zusammenhält. Wo kann das Ganze sich anschauen? Nur wo es mehr anschaut als nur sich selbst. Und wo kann es dieses Mehr anschauen? Dies ist, von anthropologischer Sicht her, ein Kommentar zur Kurzantwort „Liturgie“, die wir auf die Frage gaben: Was brauchen die Menschen, was braucht die Menschheit heute besonders?

„Erlösung“ der Liturgie in Jesus Christus

In diesem Kommentar ist freilich eine weitere Frage mit eingeschlossen. Gibt es so etwas wie Stellvertretung, kann in einer Zeit, in welcher Kultgemeinschaft und Kulturgemeinschaft nicht zusammenfallen, dennoch Liturgie als Ausdruck des Ganzen erfolgen? Der Mensch ist durch seinen Sündenfall der vollmächtigen Wirksamkeit seiner Stellvertretung für die ganze Schöpfung entraten. Menschliches Priestertum und menschliche Opfer waren immer nur der je rührende Versuch, das Ganze in einem es unterbietenden Teil präsent zu machen. Sie waren der Ausruf, der Wunsch nach einem Priestertum, das wahrhaft fürs Ganze der Menschheit steht; nach einem Opfer, in dem sich wirklich das Ganze Gott darbringt. Dies verringert keineswegs die kulturelle Bedeutsamkeit und den menschlichen Rang, die in Vollzug und Kulturgestalt menschlichen Kultes sichtbar werden. Wohl aber bleibt, in seinshafter und heilsgeschichtlicher Richtung gelesen, die Aussage über das Defizit einer bloß menschlichen Liturgie gültig. Der Sohn, [101] dessen Abbild der Mensch ist, das Wort, in dem alles geschaffen ist: Er allein hat die Vollmacht, im Namen aller sich und in sich alles dem Vater darzubringen – er, wenn er „wir“ wird, wenn er uns annimmt und uns in sich hineinnimmt, wenn er auf unserer Ebene an unsere Stelle tritt. Für uns Christen ist Liturgie gegründet, verankert und enthalten in der Selbstdarbringung des Sohnes Gottes in unserem Fleisch, in der wir drinnen sind und die Welt drinnen ist. Sein Geist aber nimmt uns hinein in ihn, so daß er als der einzige Liturgie in unserer Liturgie am Werk ist. Der Geist formt die Menschheit, sofern sie glaubend sich ihm läßt, zur Eva des neuen Adam, zur Braut des göttlichen Bräutigams. Und so bleibt der Braut die doppelte Vollmacht und der doppelte Auftrag: in der Stimme und mit der Stimme des Bräutigams Christus zum Vater zu rufen und im Geist des Bräutigams zum Bräutigam zu rufen: „Komm!“ In der Braut, in der Kirche ist die von Gott gerufene Menschheit gegenwärtig. Sie ist der Anfang der erlösten Menschheit, sie ihre vom Geist erweckte Stimme. Indem der Sohn sich darbringt und wir in ihm sind, werden wir nicht entmündigt, sondern hineingenommen in des Sohnes Macht. Wir selber sollen und dürfen uns und ihn dem Vater darbringen. Aber wir können es nur in ihm und mit ihm. Wir können es nur, indem wir, ganz wir selbst, uns von ihm ergreifen und einen lassen mit den anderen, die an ihn glauben, so daß wir sein einer Leib und seine eine Braut sind. Der Ruf der Menschheit zum sie erlösenden Christus und mit ihm zum Vater: das ist die Stätte, an welcher Liturgie möglich und notwendig ist. Die Stellung des Priesters ist es, inmitten der Kirche mit anderen, als einer von ihnen sie einend und sammelnd, zum Herrn zu rufen und zugleich, geprägt durch das unauslöschliche Mal Jesu Christi, in der Darbringung seines Opfers und [102] in der Feier seiner Sakramente ihn selber für die Kirche und in ihr gegenwärtigzuhalten. Liturgie in ihrer Vollgestalt ist Wort und Leib und Leben. Sie ist als ganze Wort. Das Wort, das Gott in Jesus Christus an die Menschheit richtet, wird in ihr zum Wort, das die Menschheit mit Jesus Christus an den Vater richtet. Dieses Wort aber ist Fleisch geworden, hat sich uns dargebracht, hat uns sich einverleibt, auf daß wir uns selber und ihn selber als Leib, als Zusammenfassung und gestalthaften Ausdruck der ganzen Menschheit und Schöpfung ihm darbringen. Und die Liturgie ist Leben, das Gott uns schenkt und das wir mit ihm leben dürfen; Leben, das nicht verlöscht, sondern in Gott hinein vergeht, um in ihm weiterzugehen. In der Liturgie nehmen wir teil an diesem Leben Gottes, das uns verbraucht und darin erhält und vollendet. Dann aber muß auch unser Leben Liturgie werden, das wir hineingeben in die gefeierte Liturgie, welche die ewige Feier anfanghaft vorwegnimmt, jene ewige Feier, die unser ewiges Leben sein wird. In der Liturgie dem Leben, der Gemeinschaft und der Welt ihre innere Einheit, ihre Zielrichtung, ihren Glanz verleihen, das ist im eminenten Sinn Weltauftrag der Kirche und Weltauftrag des Priesters.

Der Vollzug der Liturgie

Es ist entscheidend, Liturgie in diesen Dimensionen des Welthaften und des Kirchlichen zu sehen und ernst zu nehmen. Konkret gesprochen: Es ist ein Mißverständnis von Liturgie, wenn wir sie nur als Ausdruck der Befindlichkeit einer Gruppe oder Gemeinde oder gar eines Zelebranten verstehen. Die Welt-Kirche, die Kirche im langen Gang ihrer Geschichte und im weiten Radius ihrer Katholizität und Einheit muß zugegen sein in der Liturgie, und es versteht sich [103] fast von selbst, daß dies hineinschneidet in den Geschmack, in den Stil, in die aktuellen Erfahrungen dessen, der hier feiert, derer, die hier feiern. Wenn Liturgie aus Vorgaben lebt, die sie zurückbinden an die Einheit des Ganzen und seine Überlieferung, so ist dies nicht ein äußerer Legalismus und Formalismus, sondern das Ernstnehmen dessen: Hier stehen wir, hier stehe ich nicht im eigenen Namen, sondern im Namen der Kirche insgesamt, der Welt-Kirche. Sicher, früher wurde dieser Charakter so stark betont, daß er wiederum sich selbst zu entstellen, bloß zu einem geregelten Ablauf zu erstarren drohte. Liturgie ist ein „geregelter Ablauf“ aus dem bezeichneten Zusammenhang her, aber – und dies ist der Sinn und die Chance der Liturgiereform gemäß dem Zweiten Vatikanischen Konzil – Liturgie ist Ausdruck des Ganzen in der hier versammelten Gemeinde, Ausdruck der hier Versammelten im Ganzen der Welt-Kirche. So ist denn die Liturgiereform – unabhängig davon, ob man die eine oder andere Regelung oder Bestimmung als angebracht oder geglückt empfindet oder nicht – von beiden Momenten zugleich geprägt: UnVerfügbarkeit und Vorgegebenheit der Form, der Gestalt, des Ganzen, der übergreifenden Communio – Freiheit, den eigenen Kulturkreis, das eigene Bistum, die eigene Gemeinde zu artikulieren, ihren „Naturton“ mit einstimmen zu lassen in den menschheitlichen und gesamtkirchlichen Chor. Es ist nicht nur eine Ordnungsfrage und Stilfrage, diese beiden Elemente gemäß dem Buchstaben und Geist der erneuerten Liturgie zur Geltung zu bringen, sondern es ist Vollzug unseres Daseins vor Gott: Wir selbst sind da, ich selbst bin da, unverwechselbar, einmalig – aber nicht aus mir allein, für mich allein, mit mir allein, sondern mit diesen hier und mit allen, mit der Kirche, mit der Braut. Von ihr her und in ihr von Jesus Christus her bin ich hierher gestellt. Ich schließe dir nicht mein Zimmer, sondern seinen Himmel auf, und wenn du deine Augen wie ich die meinen erst an das Licht [104] oder an das Dunkel gewöhnen mußt, um seinen Himmel hier zu sehen, dann ist das kein Grund zum Raumwechsel. Nicht umräumen, sondern anders beleuchten, damit sein Himmel hier sichtbar wird! Liturge sein heißt mit dem Herzen des Ganzen, mit dem Herzen der Nächsten, mit dem eigenen Herzen vor Gott stehen, dabei aber das eigene Herz und das Herz der Nächsten erweitern ins Herz des Ganzen hinein. Andere, in Form und Inhalt unmittelbar der Situation entwachsende, auch gemeinsame Gebete haben grundsätzlichen Sinn und Bedeutsamkeit, wir hatten vielleicht früher einmal zu wenig Mut dazu. Aber sie können nicht Liturgie ersetzen. Wir nähmen uns hier gerade die heilende, einende, das Ganze gegenwärtigsetzende Kraft weg, deren wir heute so sehr bedürfen. Liturgie beschränkt sich nicht auf die Eucharistiefeier, aber in ihr hat sie ihre Mitte. In ihr sind alle jene Elemente vereinigt, die uns im Blick auf Jesus Christus und die Menschheit aufgefallen sind. Sie ist die Liturgie schlechthin, Quelle und Vollendung aller Liturgie (vgl. Sacrosanctum Concilium, 10). Als Quelle und Gipfel, als Fundament und Spitze bedarf sie freilich auch dessen, was zwischen Fundament und Spitze ist. Damit der Atem des Lebens, der Atem der Menschheit drinnen sind in der Stimme, mit welcher die Braut den Bräutigam ruft, die Stimme des Bräutigams mit ihrer eigenen Stimme kündet und mit der Stimme des Bräutigams zum Vater betet, tut es not, die Engführung und Beschränkung von Liturgie auf die Eucharistiefeier allein zu durchbrechen. Die Stunden und Gezeiten des menschlichen Lebens und des menschlichen Tages, die Geschenke Gottes und seiner Kirche, in denen sein Segen die Welt und die Menschen ergreift und durchdringt: sie gehören in die Liturgie hinein, sie bedürfen der Belebung, damit wahrhaft die Braut überall und immer, von allen Orten und aus allen Situationen ihre Stimme verlauten läßt. [105] Wenn Liturgie so tief mit Menschheit, Geschichte, Gemeinschaft verwachsen ist, dann ist auch ein Ansatzpunkt gegeben, um einer bedrängenden Not vieler Priester heute Herr zu werden. Sie fühlen sich liturgisch überfordert. Sie müssen andauernd „zelebrieren“. Wie gut, daß die Kirche das „Einmal für allemal“ der Darbringung Christi widerhallen läßt in der Beschränkung der Zahl von Eucharistiefeiem, welche ein Priester an einzelnen Tagen zelebrieren darf. Aber andererseits tritt es doch ebenso offen zutage, wie sehr die Eucharistie – aber auch das Stundengebet – in den Tag, in jeden Tag des Priesters gehört. Liturgie ist kein Überbau, kein Zusatz, Liturgie ist der Zusammenklang meines Lebens mit dem Leben der Kirche, mit dem Leben der Menschen im Ganzen. Und wo dieser Zusammenklang nicht Gestalt wird, da verliert das Leben selbst seine Gestalt, da mangelt ihm jene Verankerung in der Mitte, aus der heraus uns unsere Freiheit zuwächst. Ebenso wird, trotz aller Anlässe, die nicht heruntergespielt werden dürfen, die Problematik der Redensart deutlich, der Priester werde zum bloßen „Zelebrator“. Wenn ich in der Zelebration der Eucharistie, wenn ich im Feiern der Liturgie das tue, was Eucharistie und Liturgie sind, dann tue ich im Grunde – alles. Viele ältere Priester, die nichts anderes mehr zu tun vermögen als die heilige Messe darzubringen, leben darin ein plausibles, fruchtbares, erfülltes Priestertum. Eines ist freilich Voraussetzung: daß Liturgie und Eucharistie nicht der Himmel eines einsamen Gottes sind, aus dem wir die Welt und das Miteinander, die Menschen und das Leben draußenließen. Nur dann finden wir ihn, auch ihn allein, wenn wir in ihm alles, in ihm die anderen und die Gemeinschaft finden. Im einen Himmel des Gottes über uns die Schlüssel finden zu den anderen Himmeln, ja entdecken, daß es nur einen Schlüssel gibt, der alle öffnet, darauf kommt es an.