Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie

Maßnahme des Denkens am göttlichen Gott

Unser Mitdenken muß sein Maß des göttlichen Gottes, an dem es Schellings Gedanken bemißt, vor diesem selbst verantworten. Doch auch solche Verantwortung darf zuerst auf ihn selbst hören; der [320] Anlaß, der Schellings Gedanke über seine spekulative Ausgangssituation hinausweist, vermag nämlich einiges zur Antwort beizutragen.

Schelling führt, wie gesehen, das sich erdenkende Denken über sich hinaus auf den göttlichen Gott zu aus der Grunderfahrung der „Ergriffenheit“ des Denkens von seinem Früheren und Größeren. Diese „Ergriffenheit“ artikuliert sich nun zwar durchaus im „Begriff“ Gottes, den wir nachzuzeichnen versuchten. Die begrifflich konstruktiven Elemente, deren er sich bedient, erwachsen ihm aus der Selbstreflexion des Denkens, die im umrissenen „ästhetischen“ Horizont geschieht. Sie sind indessen keineswegs nur von ihr geprägt, vielmehr schwebt der Gestalt, zu welcher das Denken sich selbst als Begriff und Bild Gottes erbringt, bewußt und beabsichtigt ein „Vorbild“ vor. Es geht Schelling um die nachbegreifende Einholung des Gottes der Offenbarung.

Was aber weist Schellings Denken auf diese, auf die Offenbarung Gottes in Jesus, hin? Die Ergriffenheit des Denkens von seinem Größeren, in welcher es betroffen zu sich kommt, sich also erst vollbringt und darin sich auf den wirklichen Gott verwiesen findet, vermittelt sich durch die andere Grunderfahrung hindurch, die uns ebenfalls bereits beschäftigte, durch die Grunderfahrung der „Entfremdung“.

Das heißt konkret: Das Bedürfnis des Denkens als solchen nach Gott als seinem tragenden Grund kommt zu sich im praktischen Bedürfnis des Ich nach dem göttlichen Du1. Das Denken geschieht nicht irgendwo, sondern im Ich, in der wirklichen Welt, in ihr begegnen Frage und Not und begegnen Verheißung und Botschaft. Hier findet sich das Denken, und was es hier findet, muß im Sinne Schellings hineingenommen werden in die denkende Reflexion, doch hat diese alles, was sie findet, in sich hineinzunehmen und dabei zu fragen, ob sie es an sich selbst wahr-genommen, ob sie nicht das zerstört habe oder doch hinter dem zurückgeblieben sei, was sich ihr da zuspricht.

Schelling macht das ausdrücklich, wo es ums Verhältnis der „Vorstellung“ zum „Denken“ geht. Er schützt die erste gegen die Ver- [321] flüchtigung ins Denken: „denn im reinen Denken ist Gott nur Ende, Resultat; Gott aber, was man wirklich Gott nennt (und ich glaube, daß auch der Philosoph sich in seinem Sprachgebrauch nach dem allgemeinen zu richten hat), ist nur der, welcher Urheber sein, der etwas anfangen kann, der also vor allem existiert, der nicht bloße Vernunft-Idee ist“2.

Es ist die Größe des Gedankens Gottes in Schellings Spätphilosophie und des Denkens, das ihn gewinnt, einerseits die Kompromißlosigkeit denkender Erhellung alles dessen, was in seinen Lichtkreis tritt, durchzuhalten, anderseits darin zugleich die Offenheit für den Angang der Phänomene, die Rückfrage an das, was sich zeigt und gibt, durchzuhalten.

Im konkreten „Fall“ des göttlichen Gottes heißt dies: Schellings Gedanke läßt nicht zu, daß die Problematik des Denkens „neben“ der Frage nach Gott stehenbleibt. Wenn das Denken Denken ist, dann kann ihm als Denken die entscheidende Frage, die Frage nach Gott, nicht gleichgültig bleiben, sie geht es als Denken an3. Das Denken, jedes Denken kann in der Tat nur Denken sein, wenn es sich zu allem, was ihm begegnet, als Denken verhält, was gerade nicht sagt, daß es alles in sich „auflöst“, alles „erklärt“, nur das gelten läßt, dem es als „fassendes“ Denken gewachsen wäre. Sich in die Unabsehbarkeit seiner Weisen zeitigen zu lassen durchs Begegnende und von ihm her: dies, nur dies ist seine Universalität und Totalität.

Und Schellings Gedanke läßt ebensowenig zu, daß Gott neben dem Denken draußen bleibt. Er kann Gott nur sein, wenn er auch dem Denken Gott ist, wenn sein Gottsein auch das Denken angeht und beansprucht. Dies heißt wiederum nicht, daß das Denken darum Gott „vermögen“ müsse, es hat keine Bedingungen zu stellen vor Gott, sonst ist er ihm gerade nicht Gott. Aber woher außer von ihm her soll es Denken sein, wenn er Gott ist? Dies ist nicht der Form, aber der Sache nach die Bedingung, die Gott seinerseits dem Denken stellt und die das Denken aufruft, sich um die antwortende Entsprechung auf Gott hin zu mühen.

Schließlich läßt es Schellings Gedanke auch nicht zu, daß Gott [322] nur das Ergebnis des Denkens sei. Gott ist nicht neben dem Denken, aber er ist nur von sich her, nicht vom Denken her göttlicher Gott. Dann darf aber für Schellings Gedanke und für unser Mitdenken der „Gott des Denkens“ nicht neben dem „Gott der Religion“ stehenbleiben, neben dem Gott also des lebendigen Menschen.

Es ist kein Zusatz zum Gedanken, wenn Schelling ihn als Gedanken Gottes am „allgemeinen Sprachgebrauch“4 orientiert. Der allgemeine Sprachgebrauch an sich kann oberflächlich, zufällig, gedankenlos sein, gewiß, und sicher ist er je geschichtlich sich wandelnd. Doch nicht als gängiges „Man“ – was man Gott nennt – trifft er den Gedanken und seine verantwortende Bemühung, sondern als Zeugnis und Verweis. Zeugnis wofür und Verweis worauf? Für und auf das Mitsein, in welchem Menschen lebendig sich auf Gott beziehen, ihn sich Gott sein lassen, sich von ihm als Gott angehen lassen. Das geschieht im Anruf, in der Anrede, im Bekenntnis, in der Feier. Hier ist Gott Gott. Hier – das heißt also in einem Horizont, der von der Zeit und vom Miteinandersein, von der Endlichkeit menschlichen Daseins von sich her und von seiner Verwiesenheit über sich hinaus und so gerade von seiner Gewährtheit aus Gott bestimmt ist.

Auf diesen Horizont, auf die Abhängigkeit des Denkens von ihm und auf seine Verantwortlichkeit für ihn, für ihn aber innerhalb seiner, weist Schellings Gedanke uns hin. Dieser Hinweis bringt unser Mitdenken auf sein Maß des göttlichen Gottes. Es muß sich als Denken ernst nehmen, d. h. sich in seiner Endlichkeit und seiner Verantwortlichkeit als Denken ernst nehmen, ernst nehmen aber, um dem gerecht zu werden, der nur der Anrede und Antwort, nur dem Mitsein mit ihm und miteinander er selbst ist: göttlicher Gott. Dieses Maß brachte unser Mitdenken mit Schellings Gedanken in Gang, führte es auf ihn zu und über ihn hinaus.


  1. Vgl. XI 566. ↩︎

  2. XIII, 172, vgl. auch XIII 46, X 21/22, 123/24, 155. ↩︎

  3. Vgl. XIII 171. ↩︎

  4. Vgl. XIII 172. ↩︎