Seelsorge als geistliches Tun
„Marginalisierung“
Warum? Es wäre zu billig, mit dem Hinweis zu antworten, während des letzten Jahrzehntes habe sich das Wort Befreiung auf eine gefährliche, mißverständliche und mißverstandene Weise in Südamerika in den Vordergrund gedrängt, und nun müsse man es eben durch andere, weniger gefährliche Parolen ablösen. Daß es Engführungen einer Theologie der Befreiung gegeben hat und daß sie nicht ohne bedenkliche Folgen blieben, sei keineswegs bestritten. Auch nicht, daß dies den lateinamerikanischen Bischöfen Sorgen bereite, die nicht mit Warnungen und Verboten allein, sondern mit einem geistigen und geistlichen Bestehen der Situation zu lösen sind. Aber wer die vielen Reden des Papstes während seiner Reise nach Lateinamerika und hernach sorgsam hört und wer auf die Äußerungen der lateinamerikanischen Kirche aus dem Geist von Puebla hört, der weiß: Christen und Theologen mußten und müssen gerade in Lateinamerika auch von Befreiung sprechen, von Befreiung aber auf eine theologisch verantwortbare Weise. In der Tat, wo Befreiung in sich selbst zum Schlagwort wird, da droht sich eine Situation zu verfestigen, die es gerade aufzubrechen gilt. Und hier erschließt ein theologisches Konzept, das an den Worten Gemeinschaft und Teilhabe anknüpft, neue, situationsbezogene Möglichkeiten.
Das Bedrückende, Lähmende, Hintergrund vieler Resignation und Ratlosigkeit unter den Massen Lateinamerikas ist die Erfahrung, an den Rand gedrängt zu sein. Das Schlagwort von der Marginalisierung ist keine böse ideologische Erfindung. Ein halber Kontinent, der durch die politischen und sozialen Verhältnisse der letzten Jahrzehnte weiter an den Rand der Weltentwicklung gedrängt wurde und nun aufzuholen bemüht ist, steht in der Gefahr und erliegt ihr weithin, daß innerhalb seiner eigenen Bevölkerung die Spanne zwischen einer winzigen Schicht, die mithalten und bestimmen kann und einer großen Masse, die nicht mitkommt und nicht mitkann und faktisch nicht mitdarf, immer härter, immer unerträglicher wird. Und das ist eben nicht nur ein politisches und nicht nur ein soziales, sondern ein gesamtmenschliches Problem. Reformen sind dringend notwendig, Umorientierung ist unerläßlich, aber sie kann durch ein paar Maßnahmen und noch so gute Maßnahmen nicht rasch und effektiv erreicht werden.
Was ist da der Weg der Kirche, der Weg zumal der Seelsorge? Sie steht ja hier im Vordergrund unseres Interesses, sie oder genauer die Evangelisation war auch das Grundproblem in Puebla.
Die Botschaft Jesu sagt dem einzelnen, sagt den Massen, die nicht wissen, wie zu ihrem Recht und zu Möglichkeiten ihrer Entfaltung zu kommen sei, zunächst dieses eine: Es ist nicht wahr, daß du am Rand stehst, daß keiner sich um dich kümmert, daß dein Leben und deine Würde Wegwerfware sind. Es gibt einen, der dein Schicksal und deine Not und dein Am- Bodensein mitgetragen hat, der selber auf dem Boden lag, der selber unter dem Kreuz zusammenbrach. Es gibt einen, der Ja zu dir sagt, es gibt einen, der dich liebt. Die participatio Jesu, die Teilnahme Jesu an unserem Schicksal als Ansatz der frohen Botschaft. Das ändert noch nicht die Lage, das verspricht noch nicht einen raschen und perfekten Wandel der Situation. Aber wo die Botschaft von der participatio Jesu durch die communio liebenden Teilnehmens am Schicksal des einzelnen beglaubigt wird, da erwachen Interesse und Hoffnung, da erschließt sich ein Raum, in welchem der einzelne selber beginnt, am Schicksal der anderen teilzunehmen und mit ihnen zu kommunizieren. Es entstehen lebendige Zellen, in denen miteinander geglaubt, gehofft und geliebt wird. Und in solchem Miteinander werden die möglichen, kleinen Schritte, das Leben und die Situation zu verwandeln, angepackt. Mir selber steht unvergeßlich jenes Lied im Herzen, das ich in einem der schrecklichsten Elendsviertel einer brasilianischen Weltstadt von einem dieser Ärmsten singen hörte: Ich bin der Herr Niemand aus den Mocambos, aber ich habe die Brüder gefunden, ich habe die Liebe gefunden, und seither bin ich jemand, seither habe ich einen Namen.
[276] Zellen bilden, in denen Menschen aneinander und an ihrem Schicksal Anteil nehmen, weil sie daran glauben, daß Jesus an ihrem Schicksal Anteil nahm, und ein Netz von solchen Zellen bilden, die Kirche sind, eins sind mit dem Ganzen der Kirche: das ist die pastorale „Strategie“, die hinter den Stichworten participatio und communio steht. Aus dem Glauben an die Liebe Jesu, aus der Erfahrung, was solche Liebe vermag, die Angst und Egoismus aufbricht und Menschen vom Rand in die Mitte holt, aus der Entdeckung, daß im Miteinander sich Wege zu leben eröffnen, wo der einzelne keine findet, aus der Perspektive aufs Ganze des lebendigen Leibes der Kirche, in dem die Glieder füreinander da sind, wird Kirche Zeichen der Hoffnung. Das ist gerade nicht soziale Aktion am geistlichen Auftrag und am einzelnen vorbei, sondern Schaffen jener Räume, in denen die Begegnung mit dem einzelnen gelingt und in denen das Geistliche Wurzeln faßt im Leben.