Glauben – wie geht das?

Maria in der Perspektive der Schrift

Wer in Mittelmeerländern auf einem Berghang im kniehohen Gesträuch umherwandert, der findet eine merkwürdige Art von Wegen. Man weiß nicht genau, hat sie sich durch den Gang der Hirten und Tiere im Gelände ergeben – oder bietet sich das Ineinander und Auseinander von Gewächs und Gestein sozusagen von selbst an. Nun, eines hängt am anderen. Der gebahnte Pfad ist „Antwort“ auf die Gestalt der Natur, auf das Gewordene. Und das Gehen knüpft umgekehrt die gangbaren Stellen zusammen zum Weg, macht Unwegsames gangbar.

Wer die Heilige Schrift auf Maria hin durchsieht, dem mag es ähnlich ergehen. Er findet einzelne Stellen über Maria, aber sie fügen sich zusammen zu Figuren eines Weges, der eine deutliche Gestalt beschreibt. Haben jene sie bewußt gezeichnet, die ihnen vorliegende Traditionen zusammenfügten? Oder schenkt diese Gestalt sich wie von selbst, ohne kompositorische Absicht, einfach aus dem inneren Zusammenhang der Botschaft? Beides spielt wohl ineinander. Aber die Gestalt, die im glaubenden Mitgehen sich in und zwischen den verschiedenen Schichten und Schriften des Neuen Testamentes ergibt, „stimmt“, sie steht in sich.

[153] Bei Lukas: Maria und der Geist

Am Anfang des Lukasevangeliums und am Anfang des anderen lukanischen Werkes, der Apostelgeschichte, begegnet uns Maria. Und sie begegnet dort, wo vom Heiligen Geist die Rede ist, wo aus dem Heiligen Geist neuer Anfang geschieht. Im Evangelium ist dieser Anfang das Kommen Jesu, in der Apostelgeschichte das Werden der Kirche (vgl. Lk 1,1–2,53; Apg 1,12–14). Voraussetzung für das Kommen Jesu ist die Offenheit eines Menschen, sich von seinen Plänen zu lösen, sich dem Willen Gottes zu öffnen und so Raum zu geben, daß der Heilige Geist in ihm den neuen, unerhörten Anfang wirken kann. Entstehen und Wachsen der Kirche haben zur Voraussetzung, daß Menschen sich betend versammeln, um in Treue zum Auftrag des erhöhten Herrn seinen Geist zu erflehen, ihn zu erwarten, bis er kommt und sie zum Zeugnis befähigt. Das erste Mal ist es Maria allein, die sich dem Willen Gottes zur Verfügung stellt und Werkzeug des Geistes wird. Zum zweiten Mal ist es die Gemeinschaft der Jünger um Maria, die Mutter Jesu.

Die Herrschaft Gottes rückt nahe – das hat bei Lukas die Färbung: der Geist wirkt in Jesus und durch Jesus. Aber der Geistmitteilung zu Anfang des Wirkens Jesu geht jene andere, begründende und tragende voraus, der Jesus seine menschliche Existenz aus Maria der Jungfrau verdankt. Er ist von allem Anfang an der im Geist und aus dem Geist Kommende. Sein Kommen „braucht“ aber nicht nur den Geist, sondern es braucht auch den Menschen, der sich vorgängig dem Geist öffnet. Dieser Mensch ist Maria. Bei Matthäus wird nicht weniger eindrucksvoll, durch die Verknüpfung mit der Ahnenreihe Jesu, seine doppelte Ursprünglichkeit aus Gottes Geist und aus der Menschheitsgeschichte dargetan, die auf Maria als die jungfräuliche Mutter Jesu zuläuft (vgl. Mt 1,1–25). Das Moment des vorgängigen Glaubens, der vorgängigen Bereitschaft tritt bei Lukas nachdrücklicher ans Licht.

Sicher ist auch der Glaube Mariens antwortender Glaube, dem der Anruf und die Botschaft von Gott her vorausgeht. Doch es ist das Besondere des lukanisch verstandenen Glaubens, daß er Wag- [154] nis, Aufbruch des Menschen bedeutet als Bedingung, damit Gottes neuer Anfang geschehen kann. Der Glaube Mariens ist verwandt mit dem Glauben des Petrus, der auf Jesu Wort hin die scheinbar sinnlose Fahrt auf den See wagt (vgl. Lk 5,5). Gottes erster Schritt und des Menschen erster Schritt rufen sich und tragen sich gegenseitig, so sehr alles allein an Gottes erstem Schritt liegt. Das bleibt bei Lukas durchaus; denn der „erste Schritt“ des Glaubens ist Schritt des Gehorsams, dienender, empfangender Schritt. Solcher Glaube Mariens, solche zuvorkommende Empfänglichkeit und dienende, gehorsame Angewiesenheit auf Gottes Gabe ist auch die Voraussetzung für Pfingsten und somit für das Wachstum von Kirche. Bedingungslose Offenheit als menschliche Bedingung für den Geist und für das, was er wirkt: das ist Maria.

Sie wird hier Sinnbild, aber nicht abstraktes, sondern lebendiges, konkretes Sinnbild. Wir sollen vollkommen sein wie und – das Wort dafür ist dasselbe – weil der Vater im Himmel vollkommen ist. Wir sollen lieben, wie Jesus geliebt hat und weil er uns geliebt hat. Wir dürfen die Übertragung wagen: Christlicher Glaube ist Glaube, wie Maria geglaubt hat, aber auch weil Maria geglaubt hat. Das Urbild wird zur Ursache nicht hochstilisiert, sondern es ist Ursache. So entspricht es der Ordnung der Menschwerdung, der Ordnung der Herrschaft Gottes, in welcher der entzogene Gott nicht bloß Maßstab bleibt, sondern eingreift und eintritt in den Lauf der Geschichte.

Bei Johannes: Maria und die Stunde – Maria und die anderen

Im Johannesevangelium begegnet uns Maria an zwei Stellen: am Anfang des Wirkens Jesu, bei seinem ersten Zeichen, der Hochzeit zu Kana (vgl. Joh 2,1–12) und am Ende dieses Wirkens, unter dem Kreuz (Joh 19,25–27). Dort, wo Jesus sein Wirken beginnt und im Zeichen seinen Sinn vorwegnimmt, ist Maria dabei. Fürbittend, die Sorge um die anderen im Vertrauen an ihren Sohn herantragend, scheinbar abgewiesen, weil er nicht aus menschlicher Rücksicht, sondern allein gemäß der Stunde handelt, die ihm der Vater gesetzt [155] hat. Aber vom Vater her geht in Jesu Wirken die Bitte seiner Mutter in Erfüllung, indem er das Wunder der göttlichen Fülle wirkt. Und wiederum ist sie dabei, wenn ihr Sohn sein Wirken vollendet, wiederum weggewiesen vom Sohn, aber in weiterweisender Liebe, die den Jünger ihr und sie ihm anvertraut. Beide Male geht der Weg Jesu über Maria hinaus – aber mit Maria. Sie, ihr Glaube werden mitgenommen in die Lebensbewegung Jesu, die weiterführt zum Vater, aber auch hinein in den Kreis der Jünger, hinein in die Kirche.

Wie bei den beiden lukanischen Stellen, so wollen wir auch hier nicht die theologische Grenze und die theologische Fülle dieser Aussagen genau umreißen, sondern an ihnen den Weg und den Gang des Glaubens anschauen, den die neutestamentliche Tradition an Maria, der Mutter Jesu, anschaut. Dann aber zeigt sich uns: Glaube geht, indem er über sich, über seine Erwartungen und Horizonte hinausgeht und damit hineingeht in die doppelte Bewegung des Lebens Jesu, hin zum Vater, hin zu den anderen. In diese Richtung deuten beide marianischen Stellen des Johannesevangeliums. Auch die Bittende bei der Hochzeit zu Kana bittet nicht für sich, sondern für die anderen, wie hernach sie an den anderen als ihren Sohn weiterverschenkt wird. Und wie bei der Hochzeit zu Kana Maria ihre Wünsche und Erwartungen an der Stunde begrenzen und bemessen muß, die der Vater Jesus bestimmt hat, so erst recht dann, wenn Jesus in dieser Stunde innesteht. Die Trennung von ihm, die Gott ihr auferlegt, wird zur neuen Verbindung mit ihm in seinen Jüngern, in seiner Kirche. Auch dies ist nicht nur menschliche Geste Jesu, sondern Maria geht hier seinen Weg mit, da er nicht nur im Vater sein wird, sondern vom Vater her in denen, die an ihn glauben (vgl. nochmals Joh 14, 20).

Maria und die neue Ordnung der Gottesherrschaft

Wenden wir uns einer Reihe von Worten der Schrift zu, die Mariens Stellung in der neuen Ordnung der Gottesherrschaft betreffen. Es handelt sich ausschließlich um – unmittelbar gelesen – kritische Worte gegenüber Maria. Vom Zeugnis über Maria als die Begna- [156] dete und Glaubende werden sie mittelbar freilich in ein neues Licht gerückt.

Die drei ersten Evangelien berichten die Begebenheit, wie die Mutter und die Verwandten Jesu ihn sprechen wollen, er aber, statt sie zu empfangen, auf seine Jünger hinweist und sie als seine wahren Verwandten bezeichnet. Wer den Willen seines Vaters im Himmel tut, oder, nach Lukas, wer das Wort Gottes hört und befolgt, der ist ihm nicht nur Bruder und Schwester, sondern auch: Mutter (vgl. Mk 3,31–35; Mt 12,46–50; Lk 8,19–21). Die einzige „Unmittelbarkeit“, die einzige „Verwandtschaft“, die in der neuen Ordnung der Gottesherrschaft zählt, ist jene aus dem Willen und Wort des Vaters. Die Verbindung über den Vater ist die direkteste, die es gibt. Wer aus ihm lebt, wer ihm glaubt, wer seine neue Ordnung zur Ordnung seines Lebens werden läßt, der steht Jesus näher als alle, die ihm bloß menschlich nahestehen. Wenn hier von Bruder, Schwester und Mutter die Rede ist, so meint dies zunächst wohl ganz allgemein: Verwandtschaft. Es ist aber doch wohl erlaubt, die Linie geistlich durchzuziehen daraufhin, daß es auch eine Art glaubender Mutterschaft mit der Mutter Jesu gibt, wenn wir das Wort Gottes, den Willen Gottes in uns austragen und Gestalt werden lassen. Paulus nennt die Galater seine Kinder, für die er von neuem Geburtswehen erleidet, bis Christus in ihnen Gestalt gewinnt (vgl. Gal 4,19). Hier kommt unabhängig von unserem Evangelienwort diese Wirklichkeit zur Sprache.

Umgekehrt ist Maria jene, die aus dem Glauben Mutter Jesu geworden ist und aus diesem Glauben ihn bis in seinen Tod und bis in unser neues Leben, ins neue Leben der Kirche hinein begleitet. Und so ist ihre Mutterschaft, auch ihre „natürliche“, schon eine Wirklichkeit der neuen Ordnung der Gottesherrschaft. Diesen Rang der Mutterschaft Mariens heben die weiterreichende Glaubensaussage des Matthäus- und Lukasevangeliums über Jesu Herkunft ans Licht.

Das Wort über die Mutter Jesu und seine Verwandten ist zugleich Wort an sie. Denn sie sollen nicht aus einem selbstverständlichen Gefühl des natürlichen Vorrechtes auf Jesus leben, sondern mit ihm den neuen Weg der Gottesherrschaft gehen, der auch den Sohn und [157] Verwandten nur noch aus der Perspektive des Vaters her kennt. So geschieht Trennung, aber in ihr wird die alte Nähe neu, tiefer, bleibend begründet. Im Glauben ist mir jeder, was er ist, ist mir alles, was es ist, vom neuen Anfang, von der einzig tragenden Wirklichkeit, von Gott her, der in das Zentrum aller Beziehungen rückt. In dieser Bewegung zerschneidet er die Beziehungen und stiftet sie neu.

In dieselbe Richtung deutet die bei Lukas überlieferte Seligpreisung der Mutter Jesu. Eine Frau ist von Jesu Wort und Wirken so betroffen, daß sie den Sohn in jener preist, deren Sohn er ist (vgl. Lk 11,27f.). Jesus greift diese zunächst bloß-menschliche Reaktion auf und rückt sie in die neue Dimension: Selig, die das Wort Gottes hören und es befolgen! Die Frau braucht nicht nur aus bewundernder Distanz auf die große andere Frau zu blicken, die das Glück hat, einen solchen Sohn ihr eigen zu nennen. Sie erhält im Hören und Tun des Wortes Gottes Anteil am Vorzug der Mutter Jesu.

Wie in der Geschichte vom reichen Jüngling nach Markus (vgl. Mk 10,17f.), so dreht Jesus auch hier die Perspektive um. Nicht menschliche Bewunderung für Jesus wird umgedreht, sondern Entscheidung für Gott und seine Herrschaft. Darin bekommt jedoch – in unserem Falle indirekt – die ursprüngliche Begeisterung ihr neues Recht: Der Mutter Jesu darf in der Tat gelten, vor allen und über alle die Seligpreisung jener gelten, die Gottes Wort hören und tun. Und zugleich eröffnet sich Mariens Geheimnis für die jetzt vom Wort Gottes im Wort Jesu Betroffenen: Sie erhalten selbst Anteil am Glauben, an der Fruchtbarkeit, an der Gnade Mariens.

Im selben Kontext ist an zwei Worte aus der Kindheitsgeschichte nach Lukas zu erinnern. Einmal an die Weissagung des greisen Simeon, die der Mutter die Teilhabe am Messiasleiden ihres Sohnes ankündigt (vgl. Lk 2,35). Zum anderen an jenen schmerzlich-abgründigen Dialog zwischen Mutter und Sohn, als der 12jährige Jesus drei Tage in Jerusalem zurückbleibt und im Tempel wiedergefunden wird: „Kind, warum hast Du uns das getan?“ – „Wußtet ihr nicht, daß ich in dem sein muß, was meines Vaters ist?“ Gerade als die Verwundete und von der Berufung ihres Sohnes Überforderte, die nicht mit dem spontanen Verstehen, sondern mit dem geduldi- [158] gen Mitleiden in ihn hineinwächst, ist Maria noch einmal und tiefer greifend dasselbe, was sie in ihrem anfänglichen Glaubensgehorsam wurde: Negativ, Hohlform des menschgewordenen Wortes.

Maria und das Wort

Eine letzte Gruppe von Evangelientexten, auf die wir hier einen Blick werfen wollen, bezieht sich auf das Verhältnis Mariens zum Wort. Diese Texte stehen in keinem literarischen Zusammenhang miteinander, doch lassen sie einen geistlichen Grundzug der Gestalt Mariens hervortreten, der sich an jenen des Glaubensgehorsams, der dienenden Bereitschaft, des Raumgebens für den Willen Gottes dicht anschließt.

„Mir geschehe nach Deinem Wort“ (Lk 1,38) – dieses entscheidende Wort Mariens gibt den Grundton an. Er klingt wieder auf, wenn es von Maria heißt, daß sie alle diese Begebenheiten (das griechische Grundwort hat beide Bedeutungen: Worte und Begebenheiten), will sagen: all das Bedeutungsvolle, das über Jesus gesagt wurde und mit ihm in seiner Geburt geschah, in ihrem Herzen erwog und bewahrte (vgl. Lk 2,19; vgl. auch 2,51). In ganz anderem Kontext steht das Wort Mariens an die Diener bei der Hochzeit zu Kana: „Was er euch sagt, das tut!“ (Joh 2,5). Auch wo Jesus ihr etwas zumutet, auch wo das Glaubensverstehen den Glaubensgehorsam nicht augenblicklich einlösen und einholen kann, bleibt Maria die Hörende und jene, die andere zum Hören auf Gottes Wort, auf Jesu Weisung hinführt. Ihr Leben ist ein Leben auf das sich in Jesus, seinem Wirken, seinem Schicksal enthüllende Wort Gottes hin.

Wir erinnern uns daran: Nach Lukas nennt Jesus die seine wahren Verwandten, die das Wort Gottes hören und es befolgen, und die Seligpreisung seiner Mutter durch die Frau aus dem Volk wird von Jesus mit genau demselben Ausdruck beantwortet: „Selig, die das Wort Gottes hören und es befolgen!“ (vgl. Lk 8,21; siehe Lk 11,28). So ist Mariens Grundhaltung und die des Jüngers überhaupt eine und dieselbe: Gottes Wort annehmen, in sich austragen, [159] in sich Leben und Gestalt werden lassen. Das Wort ist Fleisch geworden aus Maria der Jungfrau, und dies ist nicht nur ein „biographisches“ Faktum, sondern es ist auch der Lebensvollzug Mariens.

Wie eine Zusammenfassung mag das Gespräch erscheinen, das nach Lukas Maria und ihre Base Elisabeth bei ihrer Begegnung miteinander im Heiligen Geist führen. Elisabeth preist Maria selig, weil sie geglaubt hat, daß in Erfüllung gehen wird, was ihr vom Herrn gesagt worden ist (vgl. Lk 1,45). Die Antwort Mariens, das Magnificat, sagt ihr eigenes Leben, aber sagt es mit lauter Worten der alttestamentlichen Überlieferung. Maria sagt sich selbst aus, indem sie Gottes Wort sagt. Ihr eigenes Geheimnis ist kein anderes als das des Wortes Gottes, das – unterstreichen wir es noch einmal – in ihr, in ihrem Leben Raum und Gestalt gewinnt. Zuvorkommender, tragender, Gott den Ansatzpunkt seines Wirkens in der menschlichen Geschichte eröffnender Glaube – Mitgehen mit dem Willen Gottes über die Grenzen des eigenen Interesses und Verstehens hinaus in reiner Verfügbarkeit und Werkzeuglichkeit, somit gerade Mittun seines Heilswerkens für die anderen – Treue auch im Glaubensdunkel, in dem tiefste Gemeinschaft mit dem Kreuz und seiner Fruchtbarkeit erwächst – Einholung des Wortes Gottes, Wiederholung durch das Leben, Fleischwerdung im eigenen Leben: das ist Nachfolge, abgelesen an Maria. Es ist Nachfolge, die aber nicht nur hinterdreinläuft, sondern die zugleich den Weg bereitet, die das anfänglich und konstitutiv tut, was Kirche insgesamt tut im Heiligen Geist, indem sie Jesus Gestalt gewinnen läßt im Miteinander. Die apokalyptische Frau ist die Kirche der Endzeit – aber sie ist es nach dem Urbild Mariens (vgl. Offb 12,1–6).