Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie
Mediale Ursprünglichkeit als Potentialität
Wie stellt sich der Weg des Denkens zu seiner Gründung im schlechthin Anderen seiner selbst, im unbedingten Prius dar, wenn er – mit Schelling – versucht wird als unmittelbare Analyse des Denkens, das aus sich gehen muß, um in sich zu sein? Anders gesagt: wie stellt sich die mediale Ursprünglichkeit des Denkens dar, wenn sie betrachtet wird als Potentialität?
Schelling erörtert dies nicht unmittelbar in unserer Fragerichtung, sondern indem er von der „negativen Philosophie“ her versucht, die Notwendigkeit der positiven, den Übergang zu ihr und den Zusammenhang mit ihr zu erläutern. Wir lösen die Problematik der Vernunft bzw. des Denkens als solche aus diesem Kontext heraus.
a) Der Weg des Denkens zum absoluten Akt
Indem das Denken geschieht, bewegt es sich, denkt etwas, sich als etwas, wie wir sahen. Dieses Aussichgehen ist seine Kraft, sein Unterschied von starrer Vorhandenheit. Aber das Denken muß aus sich gehen, es hat am Anfang: nichts, hat sich nicht. Indem es anhebt, steht es sich erst bevor. Alles steht im bevor, alles, was ist, ist sein zu Denkendes.
Das Denken kommt also dem, was ist, zuvor, es ermöglicht und trägt es, ist sein Ursprung. Aber eben Ursprung, der sich nur im Entspringen entbirgt, erst wenn er aufgeht, ein solcher wird.
Ist eine solche Betrachtungsweise indessen legitim? Darf der Ursprung „vor“ dem Entspringen, „ohne“ Entspringen, darf also die fängliche Leere des Ursprungs, sein Bedürfen des Entspringens überhaupt vom Denken herausgelöst und fixiert werden? „Ist“ der Ursprung nicht gerade dieses „Und“ und „Zugleich“ selbst, das ihn und sein Entsprungenes Umfangende, das sich als bloßen Ursprung [60] also je übersteigende? Gewiß ist, wenn er überhaupt „ist“, der Ursprung solches. Und will das Denken den Ursprung denken, so muß es die ihm unterlaufende Trennung der Bestimmungen gerade wieder negieren. Dies muß es auch und gerade, wenn es sich als Ursprung, seine Ursprünglichkeit denken will. Denn entweder es kommt dieser Trennung, somit aber auch dem Sprung seiner Ursprünglichkeit zuvor und erfährt sich so gerade nur als Nichts, das sich nicht halten kann, oder es ist schon auf dem Sprung – gewesen und seiner Ursprünglichkeit entsprungen. Als Denken hat es also seine Ursprünglichkeit gerade nicht ursprünglich. Sie ist ihm, zumindest in der Stellung seiner Selbstreflexion, seiner sich selbst in acht nehmenden Hinwendung zu sich, das unmittelbar Entgehende.
Gedachte Ursprünglichkeit des Denkens ist, weil gedachte, keine reine Ursprünglichkeit, das Denken drängt seine eigene Ursprünglichkeit von sich ab. Es hat also keine andere Wahl, als seine Ursprünglichkeit vollbringend zu verlassen, sie in ihr Auseinander zu verfremden, um dieses Auseinander negierend aufzuheben und so seine Ursprünglichkeit zu finden. Die Ursprünglichkeit des Denkens als eines solchen zumindest ist derart, daß sie sich nicht mehr hat, indem sie in die Bewegung des Entspringenlassens eintritt, und sie noch nicht hat, bevor sie in sie eintritt. Es gilt also, dem nachzudenken, auf welche eigentümliche Weise das Denken Ursprung ist. Das Denken zeigt sich so zwar als Ursprungsmacht, wenn man das ihr Entsprungene, alles, was ist, auf sie zurückbezieht als von ihr ermöglicht und gesetzt. Es zeigt sich in der umgekehrten Richtung aber als Ohnmacht: es hat nichts und sich nicht, wenn es nicht sich vor sich bringt, das Seiende aus sich ausbringt.
In dieser zwiespältigen Bezogenheit des Ursprungs und seines Entsprungenen aufeinander enthüllt sich ein ebenfalls zwiespältiger Charakter des Seienden und des Denkens. Das denkende Denken, die Vernunft, der Ursprung also, hat, in seinem Ursprung gefaßt, nichts, aber dieses Nichts ist, wie sich durch das Entspringen des Ursprungs erweist, nicht schlechterdings nichts, sondern das, was hernach ist, es ist die „unendliche Potenz des Seins“1 – sie ist der Vernunft „an- und eingeborener Inhalt“2. Die Vernunft hat ihn [61] nicht als Inhalt, sondern enthält ihn eben als Potenz, er bewährt sich aber in dem Augenblick und in dem Maße als Inhalt, wie das Denken sich bewegt, also geschieht, also denkt, und wird zum Gegenstand3. Von hier aus muß auch die Vernunft selbst als „unendliche Potenz“ erscheinen: als unendliche Potenz des Verhältnisses zum Seienden, in welchem es als Seiendes „da“ ist, gelichtet ist, das heißt also als „die unendliche Potenz des Erkennens“4 Vernunft ist also – dies ihr zwiespältiger Charakter – rein von sich her nichts und alles, ihr Nichtsein ist zugleich Offenheit zu allem, Vermögen von allem.
Doch umgekehrt eignet auch dem Seienden, das die Vernunft in „notwendigem Übergang“5 setzt, einfach weil sie Vernunft und weil ihr Selbstgeschehen Denken ist, eine entsprechende Zwiespältigkeit.
Es „ist“, indem es gedacht ist. Das Denken setzt ja, was es denkt, als seiend. Indem die Vernunft sich aktualisiert, d. h., indem sie denkt, aktualisiert sie die Potenz des Seins. Aber was geschieht in dieser Aktualisierung? Sie nimmt die eigentümliche „Nichtigkeit“ ihres Ursprungs, seine Ohnmacht, seine Notwendigkeit setzenden Übergangs mit sich und in das „Sein“ hinein, das sie bewirkt.
Was die Vernunft aus sich allein vermag, ist die Vorzeichnung, der Entwurf, die Wesensnotwendigkeit, das Was. Sie vollbringt, was das Seiende ist, sie greift dem, daß es ist, das vor, was es ist, wenn es ist. Das Sein, zu dem die Vernunft, indem sie denkt, je überzugehen im Begriff ist, ist selbst nur: Sein im Begriff6, Die Vernunft begreift das Wirkliche, setzt es, aber setzt nicht aus sich selbst seine Wirklichkeit.
Steht das nicht gegen unsere anfängliche Analyse, die den ganzen Erkenntnisvorgang in die Spontaneität des Denkens auflöste? Keineswegs. Selbstverständlich kann das Erkennen nur im Denken geschehen, aber das Denken ist aus sich selbst nur Vorentwurf dessen, was, in diesen Vorentwurf eintretend, ihn erfüllt zum Erkennen. Das entworfene Ist, das vom Denken gesetzte Was, „erwartet“ und [62] ermöglicht, bestätigt also auch seine Erfüllung, die Erfüllung selbst liegt nicht an ihm. Das entworfene Ist meint das wirkliche Ist, meint die Wirklichkeit, aber vermag sie nicht aus sich allein7.
Diese Verhältnisse brauchen das Denken nicht zu erschrecken, solange die Erfahrung als die beiläufige Kontrolle die Konstruktion der Vernunft deckt und bestätigt8. „Aber freilich kommt ein Punkt, wo jenes Verhältnis aufhört, weil die Erfahrung überhaupt aufhört.“9.
Nach Kant, nach seinem Ansatz zumindest, den Schelling systematisch ausbildet, ist „Gott der letzte, alles abschließende Begriff der Vernunft“, den sie „von sich aus nicht als zufälliges, sondern als notwendiges Ende findet“10. Anderseits kann, wiederum nach Kant, die Vernunft dafür, „daß Gott existiere“, nicht mehr „wie in Ansehung aller anderen a priori eingesehenen Begriffe an die Erfahrung verweisen“11. Dies macht den angezeigten Sachverhaltzum bedrängenden Problem. Denn es „hat gerade dieser Begriff“ (sc. der Begriff Gottes) „das Besondere, derjenige zu sein, der gegen die wirkliche Existenz des in ihm Geforderten nicht gleichgültig läßt, wie es in Bezug auf alles Vorhergegangene dem philosophierenden Subjekt gleichgültig war, ob es existiere. Hier heißt es: Tua res agitur.“12
Auf den unmittelbaren Gang unserer Erörterung gewendet heißt dies: Die Aktualisierung der Potenz des Seins durchs bloße Denken läßt das so aktualisierte Seiende in der Potentialität, es ist das, was sein kann. Als solches meint aber dieses Sein im Begriff, meint mit und in ihm die Vernunft selbst wirkliches Sein. Wie aber – dies ist nun die Frage, die von der Potentialität der Vernunft her gelöst werden soll – kommt die Vernunft zur Gewißheit wirklichen Seins, nicht bezüglich dieses oder jenes erfahrbar Existierenden, sondern eben bezüglich des einen, alles andere gründenden und tragenden Falles, der gerade nicht durch Erfahrung auf eine fürs sich denkende Denken legitime Weise auszuweisen ist13 : bezüglich des Falles Gottes?
[63] Um an Schellings Aussage zu bleiben, kann unsere Frage nach der Begründung der Vernunft im ihr vorgängigen Sein diesen „Umweg“ über die Gottesfrage nicht vermeiden. Das Sich-Setzen der Vernunft, in welchem sie ihren Inhalt als Entwurf aus sich heraussetzt, schließt nämlich sich selbst, seinen Entwurf in Schellings Sinn ab im Entwurf Gottes. Es kann hier kurz referiert werden: Kant ist, nach Schelling, für alle auf ihn folgende philosophische Entwicklung maßgeblich geworden durch seine Lehre vom Ideal der Vernunft14. Die Vernunft, die ihre möglichen Prädikate aus sich setzt, setzt in ihnen einen universalen Zusammenhang, der sie zum Inbegriff aller Realität, alles sachhaft Möglichen vereinigt, zum Begriff des allervollkommensten Wesens, also letztlich: Gottes15. Schelling hebt in seiner negativen Philosophie, die hier sein Identitätssystem aufgreift16 das noch Zufällige und Kußere der Komposition aller Wasgehalte zu einem allumfassenden, absolut vollkommenen Was auf und verwandelt es in eine notwendige Ableitung, aus welcher der Begriff des Subjekt-Objekts, des sich total selbstbesitzenden Wesens erwächst.
Kant sah, daß der Vernunftentwurf dieses Inbegriff es allen möglichen Was sich zwar für uns darstellt als Begriff von etwas, das ihn erfüllt, dessen Begriff er also ist – insofern eben ist dieser Inbegriff Begriff Gottes. Er sah aber des weiteren, daß der Begriff als solcher kein Recht gibt, aus ihm auf die Existenz des in ihm Entworfenen zu schließen. Das ontologische Argument, auf das er die anderen Gottesbeweise der rationalistischen Scholastik reduziert, trägt nicht. Aus dem Begriff des vollkommensten Wesens, das es nicht wäre, wäre es eben nicht, folgt in der Ordnung der Existenz keineswegs, daß es ist. Der Begriff des allervollkommensten Wesens führt nicht von sich aus zur notwendigen Existenz17.
Schelling kritisiert das ontologische Argument in verwandter Richtung18. Aber – dies ist das Neue in seiner Spätphilosophie – während vom Begriff des allervollkommensten Wesens keine Brücke [64] fürs reine Denken zur notwendigen Existenz führt, vermag das Denken umgekehrt bei notwendiger Existenz als solcher anzusetzen und, in seiner Stellung als positive Philosophie, „vom notwendig Existierenden (als noch begriffslosen Prius) zum Begriffe, zum Wesen (zu Gott) als Posterius zu gelangen“19.
Das letztere interessiert an dieser Stelle des Mitdenkens noch nicht wir biegen also hier vom „Umweg“ über die Gottesfrage wieder zurück –, wohl aber ist die Frage entscheidend, wieso das Denken bei „notwendiger Existenz“ ansetzen könne. Für Schelling ist dieser Ansatz „nur der berechtigte des ontologischen Arguments“20, er steht also auf irgendeine Weise im Zusammenhang mit der Potentialität der Vernunft, die als solche ihn zum Begriff des vollkommensten Wesens des Subjekt-Objekts führte. Das Eigentümliche, ja Befremdliche an Schellings Aussage ist die Selbstverständlichkeit, mit welcher er notwendige Existenz als legitimen Ausgangspunkt fürs Denken, als „an sich“ (d. h. losgelöst vom Begriff Gottes) „das unwidersprechliche, unzweifelhaft Gewisse“ bezeichnet21. Wieso ist bloße Existenz, d. h. mit Schellings Worten: das „bloß Existierende, in dem gar nichts gedacht ist als das bloße Existieren“22, „αὐτο το ον, wenn wir nämlich ον im verbalen Sinn nehmen“23, wieso ist diese „reine Wirklichkeit“24 das unzweifelhaft Gewisse?
Als „reine Wirklichkeit“, als einfachhin und bloß und durch und durch existierend schließt das notwendig Seiende per definitionem jede Potenz von sich aus, ist es das Andere aller Potentialität, die doch Signum des Denkens und seines Gedachten ist. „Von dem Seienden aber, von welchem alle Potenz ausgeschlossen ist, die der alleinige Grund des Zweifels ist, ist eben darum auch aller Zweifel ausgeschlossen, es ist das unzweifelhaft Existierende“.25 „Der geradezu, der unmittelbar“ (d. h. nicht von seinem Zugehören zum Begriff des höchsten Wesens her) „gesetzte Begriff des notwendig Existierenden ist eben der alle Kritik ausschließende. Die Kritik seines Begriffs stellt die Möglichkeit seines Gegenstandes in Frage. [65] Aber es wäre, wie schon bemerkt, Unsinn zu fragen, ob ein notwendig Existierendes existieren könne, obgleich so gefragt worden ist. Denn wenn es erst existieren könnte, wäre es eben nicht das notwendig Existierende.“26
Aber: gehört nicht doch wiederum die Gewißheit des bloß Existierenden nur zu seinem Begriff, ist die Aufhebung der Differenz Begriff-Wirklichkeit im Falle der reinen Wirklichkeit nicht doch bloß Setzung des Denkens? Fällt der Gedanke nicht auch in dieser Stellung in das Ungenügen des ontologischen Argumentes hinein: das bloß Existierende existiert an sich selbst unzweifelhaft, aller Potenz voraus, wenn es existiert? Es scheint so, als führe der Gedanke der reinen Existenz nicht über den Raum des Denkens hinaus, das all sein Gedachtes in die eigene Potentialität hineinzieht. Gewiß denkt dieser Gedanke das Gegenteil des bloßen Gedankens, aber denkt er somit wirkliche Wirklichkeit, oder erweist er sich am Ende nicht gar selbst als Ungedanke?
Immerhin weiß das Denken, um seine Potentialität wissend, um die Differenz seiner selbst zur Wirklichkeit. Und die Frage, ob die Wirklichkeit als solche und überhaupt kraft der Ungewißheit des bloß Potentiellen, Entwerfenden, Vorgreifenden des Denkens das „Ungewisse“ sei oder ob umgekehrt die eigene Ungewißheit der Vernunft, ihr Im-Zweifel-Sein getragen sei von dem, woran aller Zweifel und also sie selbst nur anknüpfen kann, von Sein und Wirklichkeit, findet in der Auskunft: daß Potenz je Akt voraussetze, keine bloß formale Antwort. Indem die Vernunft selbst geschieht, indem sie ihr Denken denkt, setzt sie ihre Ermächtigung sich voraus, bezeugt sie ihr Woher. Die im Denken helle Differenz zwischen bloßem Denken und wirklicher Wirklichkeit kann nur an der Vorgabe von etwas wie „Wirklichkeit überhaupt“ aufbrechen, bestätigt also diese. Schelling enthüllt, wie wir bereits sahen, in der zwölften Vorlesung der Philosophie der Offenbarung den Rückverweis allen Zweifels, aller Frage auf darin vorausgesetztes Sein27.
Im Gang der achten Vorlesung geschieht indessen etwas Merkwürdiges. Schelling läßt zwar den naheliegenden Zweifel an der „Schlüssigkeit“ des Erweises der Gewißheit bloßer Existenz aus [66] ihrem eo ipso definierten Ausschluß vorgängiger Potenz unerörtert, aber er tut dies mit einer eigentümlichen Gebärde: Nun laß doch einmal dieses Fragen und denke einfach „reine Existenz“, sieh, wie alles, was sich an Denken dagegen erhebt, nur eines bezeugt: daß du im selben Augenblick „reine Existenz“ nicht mehr denkst, bzw. dass du sie überhaupt noch nicht gedacht hast!
Diese „Gebärde“ artikuliert sich einmal, negativ, darin, daß Schelling die Ungemäßheit der Frage herausstellt, ob solche Existenz sein „könne“ und „was für ein Wesen“ sie sei28, zum anderen, positiv, darin, daß er die eigentümliche Verwandlung namhaft macht, die dem Denken widerfährt, wenn es sich dem „Experiment“ des Gedankens reiner Existenz zuwendet: ihr Begriff ist derart, daß sich niemand ihm entziehen kann, sondern jeder sich ihm unterwerfen muß“29 ; Kant selbst wird für Schelling zum Zeugen für die Unausweichlichkeit dieses Begriffs30 ; das Denken, das ihn setzt und somit das Gegenteil seiner selbst tut, „die umgekehrte Idee“31 setzt, kehrt sich selbst um: „die Vernunft ist in diesem Setzen außer sich gesetzt, absolut ekstatisch.“32 „Das bloß – das nur Existierende ist gerade das, wodurch alles, was vom Denken herkommen möchte, niedergeschlagen wird, das, vor dem das Denken verstummt, vor dem die Vernunft selbst sich beugt; denn das Denken hat eben nur mit der Möglichkeit, mit der Potenz zu tun; wo also diese ausgeschlossen ist, hat das Denken keine Gewalt.“33 Die Vernunft „kann“ also nicht nur, was sie kann: sich selbst auslegen, ihren Inhalt, die Potenz allen Seins, ins (logische) Sein setzen und so ihre eigene Potentialität ausfalten, die darin gerade Potentialität bleibt. Sie „kann“ auch das genau Andere: Sie kann ihre eigene Ohnmacht, die Begrenztheit ihrer Potentialität „tun“ – nicht in und aus sich, sondern vor und gegenüber dem schlechthin Anderen ihrer selbst, das, indem es „gedacht“ wird, die Vernunft sich gibt, sich als das „Gebende“ der Vernunft erweist.
Die Vernunft ist nicht eigentlich sie selbst, solange sie sich nur in sich selbst wendet, sie entgeht sich in ihrer sie selbst thematisierenden Selbstreflexion. In dieser verbirgt sie als Ohnmacht sich selbst [67] in den Schein ihres Könnens. Vor das schlechthin Andere ihrer selbst kommend, sich ins Andere ihrer selbst lassend, wird sie, was sie ist: ohnmächtig aus sich, darin aber „wirkliche“ Auslegung dessen und mächtige Ohnmacht aus dem her, was ihr gibt, sie selbst zu sein, und sich ihr darin gibt als wirkliche Wirklichkeit.
Wie also hat Schelling die Frage beantwortet, woher die reine Existenz das dem Denken schlechthin Gewisse sei?
Er führt das Denken am Experiment, reine Existenz als das schlechthin Andere seiner zu denken, in die Offenheit seines Ergriffenseins von und seines Gegründetseins in diesem Anderen: dieses Andere schenkt dem Denken erst die Erfahrung seiner selbst als Denken, als Potentialität und trägt sie selbst. Nicht äußere Gründe stützen die Gewißheit des „bloß Existierenden“. Die Philosophie ist hier vielmehr „auf das gekommen, was gar keiner Begründung bedarf, ja, dessen Natur die Begründung ausschließt. Denn es wäre nicht das Existierende, das selbst absolutes Prius ist, wenn man zu ihm von irgendetwas aus gelangen könnte ; dann wäre ja dies Andere das Prius.“34 Was sich dem Denken gibt und was darin das Denken gibt, ist nicht nur der hypostasierte oder doch extrapolierte eigene Actus des Denkens, der als solcher seine Potentialität trägt, aber gerade nicht als Actus ihr Vollzogenes zu werden vermag35. Denn wäre er nur das Fragende der Frage des Denkens (das Setzende des im Denken und als Denkenden geschehenden Setzens – aber dieses Setzen ist eben, da „potentiell“, aber auf sich helle Weise potentiell, ein Fragen), so zöge er sich selbst notwendig in die Bewegung der Frage hinein: Was trüge ihn, warum wäre er und wäre nicht nicht? Die Anweisung Schellings, nichts anderes als bloß Existieren zu denken, die darin aufbrechende „absolute Ekstase“ der Vernunft sind radikal verstanden, das Denken denkt nicht sich sich voraus als Ek-sistenz, sondern einfach: Existenz, lauteres Da.
Es mag hier auffallen, daß das von Schelling so Entdeckte auf analoge Weise doch auch schon in der vorspinozistischen Tradition acht ist, im Hintergrund großer Gestalten sowohl des sog. on- [68] tologischen wie des sog. kosmologischen Argumentes, wenn auch nicht in deren formal gängiger und schulbildender Ausprägung.
Bonaventura etwa formalisiert einmal im Kontext des ontologischen Beweises (sofern bei ihm und in seinem Sinn von „Beweis“ Gottes überhaupt die Rede sein darf): „Etiam si dicas: Deus non est, sequitur: si Deus non est, Deus est.“36 Hier ist zwar nicht die bei Schelling entscheidende Differenz zwischen Gott und Sein im Blick, aber die sich aus sich selbst ins Denken erhebende, es richtende und gewährende Anfänglichkeit des „Seins“ tut sich auf.
Thomas von Aquin schließlich handelt, solchem wiederum entsprechend, in seiner Frühschrift „De ente et essentia“37 vom „esse tantum“ als vom Woher alles dessen, bei dem das „ist“, die Existenz vom Wesen differiert.
Schelling freilich entwickelt denselben Gedanken in ausdrücklicher Achtsamkeit auf die andere Grundweise des Denkens, das diesem lauteren Daß begegnet, gegenüber jenem Denken, das nur seine eigene Potentialität in die Was-Entwürfe des Seienden vollstreckt und so gerade vergißt.
Wie nun ist dieses andere Denken, diese Ekstase der Vernunft, dieser Stoß des Denkens ins Undenkliche gleichwohl Denken? Schelling sagt auf der einen Seite, der Begriff des bloß Existierenden, d. h. hier soviel wie es selbst, denn „das Existierende ist hier selbst der Begriff und selbst das Wesen“38, sei „gegeben“39.
Auf der anderen Seite spricht er davon, daß man sich „zum Begriff des bloß, des einfach Seienden entschlossen haben“ müsse40. Das entwerfende Setzen, in welchem die Vernunft sich expliziert, ist also in diesem Begriff auf doppelte, ja entgegengesetzte Weise über sich hinaus, ekstatisch: Ihr, die immer und ganz Ursprung ist, kommt etwas zu, ist etwas gegeben, sie ist „rezeptiv“, und zugleich ist ihre Ursprünglichkeit über das bloße Sich-Entfalten hinaus gesteigert zu dem ja noch viel „aktiveren“ Selbstvollzug des „Entschlusses“.
Um das Sich-Gegebensein und darin das Gegebensein des Absolutum zu erfahren, muß das Denken selbst abbrechen aus seinem [69] setzenden und das Gesetzte je wieder sich einbegreifenden Weitergang, es kommt vors absolute Prius nicht auf dem Weg, auf welchem alles und welcher selbst aus ihm kommt, sondern nur in der Entschlossenheit einer Umkehr dieses Weges ins Woher, in einer „Willentlichkeit“, die gerade nicht behauptet und verengt, sondern Freigabe ans schlechthin Widerfahrende bedeutet. Dieses schlechthin Widerfahrende, das reine Sein winkt ihm zwar aus dem unendlichen Ende seines Wohin-Weges, aus dem Begriff Gottes zu, er wird dem Denken deutlich als der Begriff dessen, was auf „absolute“ Weise ist, wenn es ist. Doch das absolute Ist, das so „Inhalt“ des Denkens ist, ist eben – gedacht, selbst potentiell. In ihm wird auf das Ist, das es ist, nur gewiesen als auf die unbedingte Voraussetzung, die dem Denken nicht mehr Inhalt ist, sondern „Gegenstand“ wird. Gegenstand“ wird sie aber – zunächst mindest – in einem der Weise der genannten „reziproken“ Willentlichkeit entsprechenden, dem gängigen Modell von Gegenständlichkeit gerade zuwiderlaufenden Sinn von Unfaßbarkeit des reinen Zuvor und Gegenüber: „Eine Wirklichkeit, die der Möglichkeit zuvorkommt, ist allerdings auch eine Wirklichkeit, die dem Denken zuvorkommt; aber eben darum ist sie das erste eigentliche Objekt des Denkens (quod se objicit).“41
Nur hier kann das Denken von sich freikommen, frei davon, nach einem, das wirklich ist, zu langen, und darin doch nur je wieder sich selbst, seine eigene Potentialität zu erlangen. „Solang die Vernunft sich selbst zum Objekt macht (und diese Richtung war ihr durch Kant gegeben und tief eingeprägt), kann sie als ihren unmittelbaren Inhalt nur die unendliche Potenz des Seins finden.“42 Dieses Aussein auf den eigenen Inhalt ist der Vernunft indessen „etwas Zufälliges, die Vernunft ist dabei nicht in ihrer reinen Substantialität und Wesentlichkeit. Ist sie aber in dieser (zieht sie sich also nicht auf sich selbst zurück, sucht sie nicht in sich selbst das Objekt), so kann ihr als unendlicher Potenz des Erkennens nur der unendliche Actus entsprechen“43.
Indem die Vernunft also einfach versucht, den Gedanken „reine Existenz“ zu denken, sich den Rückbezug zu sich auszulöschen, [70] weil sie gerade in diesem Abstoß von sich allein reine Existenz denkt, hat sie einen absoluten Anfang. Er trägt sich ihr zwar durch den gedachten Begriff Gottes zu denken auf44, steht an sich selbst aber unabhängig von diesem Ende negativer Philosophie in sich und ist in sich selbst vom Denken in seiner Umkehr zu ergreifen. „Das bloß Existierende löst sich daher von selbst ab von der Voraussetzung, die es nur zufälligerweise in der vorausgegangenen Philosophie hatte; mit diesem Prinzip, dem des bloß Existierenden, könnte sie“ (sc. die „neue“, die positive Philosophie) „für sich anfangen, anfangen, wenn auch keine rationale Philosophie vorausginge.“45 „Das unendlich Existierende ist also der unmittelbare Vernunftbegriff, zu dem die von sich selbst freie, d. h. nicht sich selbst Objekt seiende Vernunft – die unmittelbare Vernunft nicht nötig hat, erst durch den Schluß“ (von etwas, das ist, auf notwendige Existenz) „zu gelangen.“46
b) Mehrdeutigkeit des Weges
Das Ereignis des Denkens, das sich hier begibt, ist der Durchstoß des Idealismus (genetivus subjectivus et objectivus) als Reflexionsphilosophie zu einem „unmittelbaren“ Denken, von einem alles setzenden und damit wesenhaft alleinig-einsamen Denken in ein Denken, das Beziehung ist. Gewiß ist dieser Durchstoß nicht ei iuxtaponiertes Es-einmal-anders-Probieren neben dem Idealismus, sondern seine ihn vollendende Konsequenz, aber eben eine „freie“, nicht immanent ableitbare Konsequenz: sie setzt den „Entschluß“ zur Umkehr voraus.
Was widerfährt in dieser Umkehr, in dieser Gründung im unvordenklichen Daß dem an sich allein bloß potentiellen Denken, was tut ihm die Ergriffenheit von der vorgängigen Wirklichkeit an?
Es darf sich verlassen aufs unvordenkliche Daß, und das heißt: es darf sich verlassen auf sich selbst, darauf, kein leerer Umtrieb seiner selbst, kein Sich-Entlaufen ins Nichtige zu sein, sondern Medium der Auslegung des aus eigener Alleinigkeit ihm Undenklichen, mediale Ursprünglichkeit.
[71] In dieser Antwort – sie ist bewußt unter Umgehung von Schellings unmittelbarer Aussage formuliert – ruhen gegensätzliche Möglichkeiten der Auslegung.
Die eine: Das Denken kehrt aus seiner Ekstase in sich zurück, hat sich von seinem Prius her seiner Voraussetzung und damit seines Wirklichkeitscharakters versichert, sein – zuvor nur potentielles – Ausdenken wäre so geradlinig Denken der Wirklichkeit geworden, die Vernunft könnte sich, zwar nicht aus sich, aber aus ihrem Ursprung her, alles dessen, was ist, und also auch Gottes bemächtigen, sie hätte, aus ihrer zwar an sich unableitbaren Voraussetzung, Gott gleichwohl abgeleitet, indem sie sich in ihre Vollendung entfaltet. Die Umkehr des Denkens wäre nur der seine eigene Fraglichkeit ausschließende Moment der Vermittlung des Denkens in seine neue und dichter verschlossene, weil nunmehr fraglose Alleinigkeit hinein.
Die andere Auslegung medialer Ursprünglichkeit des in seine Umkehr geratenen Denkens: das Denken und was das Denken denkt, ist nun ermächtigt und gewährt von der Begegnung mit dem Unvordenklichen, ermächtigt ist es und gewährt ist ihm aber, Antwort zu sein auf den gründenden Zuspruch, Antwort, die diesen nie abgilt und ausschöpft, sondern ihm gerade nur als Verweis, nicht aber als umfassendes Begreifen entspricht. Denken vermöchte also die Wirklichkeit, aber es vermöchte sie in der Weise des Verdankens, es faßte, was ist, aber sein Fassen wäre nie Fassen des Ursprungs, es bliebe vielmehr in seiner Ergriffenheit, es bliebe in der Umkehr aus der selbstsetzenden Alleinigkeit in das je neu sich vernehmende und Wirklichkeit vernehmende und so Wirklichkeit vollbringende Gespräch.
Wie fällt Schellings Entscheidung in dieser extrem und verkürzt formulierten Alternative? Die Komplexität seiner Antwort, seine Deutung der medialen Ursprünglichkeit erschließt sich uns erst im nun fälligen Mitgang mit seinem Denken durch die drei Ebenen: reines Denken, negative Philosophie, positive Philosophie sowie in der neuerlichen Erhellung seines Verständnisses der Potentialität des Denkens im Verfolg seiner „Potenzenlehre“.
Ein orientierender Vorblick auf seine Antwort tut indessen hier bereits not, um in seinem bislang mitgedachten Weg zur medialen [72] Ursprünglichkeit eingefaltete Vorentscheide noch namhaft zu machen.
Denken bedeutet für Schelling einerseits nie die einsinnige Bemächtigung der Wirklichkeit aus sich selbst, Gott ist ihm nicht bloß die „seiende Vernunft“47. Es geht ihm vielmehr darum, aus der Umkehr des Denkens in seine mediale Ursprünglichkeit der unableitbaren Freiheit Gottes denkend gerecht zu werden – „Freiheit ist unser Höchstes, unsere Gottheit“48.
Gleichwohl ist die Vernunft nicht nur antwortend-verweisendes Andenken an die Anfänglichkeit, sondern Medium, in welchem der Anfang sich zu einer Freiheit über sich hinaus allererst vermittelt, Bereitstellung des Möglichen dieser Freiheit. Das vor dem Undenklichen sich mit der Was-Frage erhebende Denken49 führt zum „Triumphieren“50 seiner nunmehr ihr Wollen erfüllenden Potentialität; die Vernunft, die dem undenklichen Daß seinen Begriff verschafft, kehrt in sich selbst zurück51.
Das Verhältnis des potentiellen Denkens, seiner Ohnmacht aus sich selbst, zur unvordenklichen Wirklichkeit ist ein „magisches“: es bindet und zieht sie an sich, behauptet sich also gerade in seiner Freigabe ans uneinholbar Vorgängige52. Der Standort des Denkens bleibt so letztlich doch: es selbst; es ist, wenn eben auch nur vermittelt, die Begreiflichkeit und der Begriff seines ihm a priori nicht Begreiflichen53. Das Unableitbare der Freiheit verkürzt sich so zur Wahl zwischen dem Ergreifen oder Nichtergreifen ihr „gegebener“, im Selbstgeschehen der Vernunft beheimateter Möglichkeiten. Die Umkehr des Denkens vor dem Undenklichen scheint sich doch wieder in die Ausdenkbarkeit der göttlichen Möglichkeiten zurückzunehmen.
Wo mag der Grund für solch eigentümlichen Zwiespalt liegen?
Wir falteten Schellings Weg aus der Reflexivität der Vernunft, die sich auf ihren eigenen Inhalt richtet, zu ihrer medialen Ursprünglichkeit auseinander in den zweifachen Gang: entlang der Ergriffenheit des Denkens von seinem je Vorgängigen und entlang seiner Potentialität.
[73] Auf beiden Linien nimmt, bei genauerem Zusehen, das undenkliche Woher eine verschiedene Gestalt an. Gewiß sollte das Denken auf alle Gestalt verzichten, um das sein Denken gewährende Unausdenkliche „rein“ zu denken. Gleichwohl trägt sich noch in den Abstoß des Denkens von sich selbst, in seine Umkehr aus sich selbst heraus die Spur des so gerade Verlassenen und Auf gegebenen ein.
Die Auseinanderlegung des Weges zum Unvordenklichen in den Weg der anfänglichen Ergriffenheit des Denkens und in den Weg der sich im absoluten Actus verankernden Potentialität des Denkens geschah durch uns, nicht durch Schelling. Für ihn ist es ein Weg des Denkens. So haben die „zwei“ Wege, die ineinander verlaufen, auch aneinander Anteil: Der Weg der Ergriffenheit ließ sich in unserem Mitgehen mit Schelling nicht ablösen von Worten wie Daß und Wirklichkeit, Sein und Existierendes, die sichtbar mit dem Gegensatz zur Potentialität zusammenhängen, mit Worten wie Was, Möglichkeit, Wesen also. Umgekehrt ist der das Denken aus der Potentialität herausführende Weg zuletzt doch nichts anderes mehr als das Setzen jenes Begriffes, des „rein Existierenden“, dessen Gesetztes in seiner zuvorkommenden Mächtigkeit das setzende Denken umkehrt, umdeutet, als anfänglicher Anfang ergreift, in einem „niederschlägt“ und „wirklich“ macht.
Dennoch ist beidemal das Unvordenkliche, der reine Anfang, auf verschiedene Weise gegeben. Wo das Denken sich einfach dem unablösbaren Anspruch und Zuspruch überläßt, der es denken heißt und der ihm zu denken gewährt, wo es auf dem Boden seiner letzten Fraglichkeit sich ins Fragensollen und Fragendürfen gewiesen findet, da entdeckt es gewiß seine „zweite Stelle“ gegenüber dem Geheimnis, das sich ihm zudenkt und aufträgt. Aus ihm, nicht aus sich getraut es sich nun, Denken zu sein. Es werden ihm Sätze zuwachsen wie der: Ja, wahrlich, es ist, was immer ist und wie es immer ist! Und es wird sich selbst zum Zeugen dessen gerufen finden. Die Worte aber, die es in den gewährenden Abgrund der Anfänglichkeit hineinruft, werden nur wie Zurufe klingen, die hineinreichen in diesen Abgrund, die aber niemals ihn selbst ausloten und einfangen ins Gefüge des Denkens. Wirklichkeit, Existenz, Sein, Daß, solche Aussagen bezeugen mehr die eigene Gewißheit, die dem Denken widerfährt von seinem Anderen, Vorgängigen her, als dass [74] sie ihm, diesem Anderen, selbst gerecht würden. Indem das Denken in seiner Ergriffenheit vom Anfang auf seinen Boden gestellt wird, ist dieser eigene Boden ihm gerade das Andere des Abgrundes, der ihn gewährt. Das Denken bleibt in der Differenz des Zeugnisses. Daß, Sein, Wirklichkeit fixieren in dieser Stellung das Undenkliche nicht in eine zeitlose Gesichertheit hinein, sondern sind selbst „gezeitigt“ aus dem Aufgang des Undenklichen.
Anders das Denken, welches vom Undenklichen ergriffen wird, indem es die bloße Existenz als seine Voraussetzung setzt – setzt, um zu begreifen, nicht um nur zu bezeugen. Es siedelt sich in dieser Voraussetzung an, sie wird selbst der Boden des Denkens, sie ist dem Denken das, als was das Denken sie denkt, bietet sich dem Denken als Basis seiner eigenen Operation an. Verweist die Potentialität des Denkens auch auf Actus überhaupt und nicht nur auf seinen eigenen Akt, erkennt es auch, daß dieser Akt in der anderen Richtung zu ihm liegt als der Akt empirischen Seins54, so wird das Unvordenkliche doch mit dem Namen des Aktes, mit der Bestimmung der bloßen Existenz an sich selbst „bestimmt“. Es gerät ins funktionale Gefüge des sich vollbringenden Denkens, wird die „reine Vorstellung“ (im Sinne von Voraus-stellung), der das Denken das ihr entsprechende „Wesen“ zubringt. „Vorstellen und Denken verhalten sich demnach wie Existenz und Wesen; der Inhalt der reinen Vorstellung ist das Sein, der Inhalt des reinen Denkens das Wesen, aber dabei leuchtet sofort ein, daß beide in dieser Abstraktion und gegenseitigen Ausschließung nicht bestehen können, und das eine unmittelbar zu dem andern fortgeht. Das allem Denken zuvorkommende Sein ist insofern eben das absolut Vorgestellte. Aber gegen dieses nun, gegen das reine Daß erhebt sich unmittelbar das Denken, und fragt nach dem Was oder nach dem Begriff.“55
Schelling liegt es fern, „Vorstellung“ als nur Vorläufiges abtun zu wollen – er wendet sich gegen Hegels Verständnis einer Vorstellung, die im Begriff aufzuheben ist56. Es liegt ihm ebenso fern, aus der Vorstellung des reinen Daß und dem Begriff des reinen Denkens Gott einfach zu „komponieren“, er ist, als absolute Freiheit, die Vermittlung des absoluten Daß und des Begriffs.
[75] Dennoch fällt das von der Potentialität des Denkens sich vorgestellte, vorausgestellte Daß in jene verengende Festlegung des Denkens zurück, die ihm widerfährt, wenn es sich selbst als Potenz versteht. Potenz ist Möglichkeit eines Möglichen, Denken als Potenz Wesensentwurf von „etwas“, das, wenn es ist, eben diesen Wesensentwurf ausfüllt, Gegenstand (im Sinne der „Metaphysik“) wird. Indem das Denken vor dem absoluten Daß sich erhebt mit der Frage, was es sei57 bezieht es das Geheimnis auf ein Was, und das heißt: auf sich als Potenz. Wohl ist hier das Daß als dem Was vorausgehend gedacht, wohl ist hier das Was selbst als aller seiner Beschränkung enthobenes Was reiner Alleinigkeit58, totalen Selbstbesitzes entworfen, wohl sind hier Daß und Was in die Bewegung reiner Selbstvermittlung erhoben; und dennoch bleibt solche Weise der Überwindung bloß ausdenkenden, vergegenständlichenden Denkens selbst dem verpflichtet, was sie überwinden will. Der in seiner Freiheit unbegreifliche Gott bleibt gebunden an den nachträglich sein Wesen begreifenden Begriff des Denkens.
Das Denken erkennt seine mediale Ursprünglichkeit. Indem es aber diese als gegenstandsbezogene Potentialität versteht, versteht es seinen vorlaufend es gründenden Ursprung als seinen höchsten „Gegenstand“, bleibt es in seinem eigenen Begreifen befangen und wird nicht frei für den reinen Verweis.
Dies ist kein „Fehler“, der Schelling anzulasten wäre, sondern das Geschick, das ihn ereilt, indem er im Begriffe ist, es auf ein neues Denken hin zu durchbrechen. An manchen Stellen freilich scheint Schelling sich selbst in dieses neue Denken hinein zu überholen. Er weiß, daß die Gestalt des Begreifens unableitbarer Setzungen der Freiheit je nur menschlich-vorläufig, nie adäquat ausfällt59, er verweist auf die Notwendigkeit, innerhalb der positiven Philosophie in vielfältigem, weil notwendig nie erschöpfendem Ansatz vom selben zu denken und zu sprechen60. Der systematische Ductus des Ganzen bleibt indessen vom Gesetz der Potentialität [76] vorgezeichnet, die Andersheit des Denkens und Sprechens angesichts des Undenklichen wird vermerkt, und doch entrinnen Denken und Sprechen nicht dem Willen der Vernunft, ihr eigenes Ausdenken, ihre „negative Philosophie“, über das Undenkliche triumphieren zu lassen61.
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XIII 64. ↩︎
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XIII 63. ↩︎
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XIII 74. ↩︎
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XIII 62. ↩︎
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XIII 65. ↩︎
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XIII 65, vgl. II 376/77, 576. ↩︎
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XIII 57–60. ↩︎
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Vgl. XIII 128, 62. ↩︎
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XIII 62. ↩︎
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Ebd. ↩︎
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Ebd. ↩︎
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XIII 171. ↩︎
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Vgl. Philosophie der Offenbarung, 7. Vorlesung über den mystischen Empirismus, bes. XIII 115–129, vgl. auch X 165–192. ↩︎
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Vgl. XI 283 Anm., auch XIII 44/ 45; vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Ausgabe A 575–580, Ausgabe B 282–287. ↩︎
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Vgl. XI 282–287. ↩︎
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Vgl. z. B. XI 287–294, XIII 77–79. ↩︎
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Vgl. XIII 167. ↩︎
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Vgl. XIII 156–159. ↩︎
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XIII 167/68. ↩︎
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XII 160. ↩︎
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XIII 159 und ähnlich bis 167. ↩︎
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XIII 159. ↩︎
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XIII 163. ↩︎
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Ebd. ↩︎
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XIII 159. ↩︎
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XIII 166. ↩︎
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XIII 242f. ↩︎
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XIII 166/67. ↩︎
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XIII 166. ↩︎
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XIII 163. ↩︎
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XIII 162. ↩︎
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XIII 163. ↩︎
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XIII 161. ↩︎
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Ebd. ↩︎
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Vgl. auch XIV 23: Gott ist nicht nur „die seiende Vernunft“. ↩︎
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In Hexaemeron X 11 (Quaracchi-Ausgabe V 378). ↩︎
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Caput V. ↩︎
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XIII 167. ↩︎
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XIII 158. ↩︎
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XIII 168. ↩︎
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XIII 162. ↩︎
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XIII 165. ↩︎
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Ebd. ↩︎
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„...der berechtigte Schluß des ontologischen Argumentes“: XIII 160. ↩︎
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XIII 161. ↩︎
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XIII 165/66. ↩︎
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XIV 23. ↩︎
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XIII 256, vgl. auch 261, 269/70. ↩︎
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XIII 173. ↩︎
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XIII 153. ↩︎
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Vgl. XIII 163. ↩︎
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Vgl. hierzu XIII 231. ↩︎
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Vgl. XIII 165. ↩︎
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XIII 126/27. ↩︎
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XIII 173. ↩︎
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S. XIII 172/73 ↩︎
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Vgl. XIII 173, 170/71. ↩︎
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Vgl. XIII 260. ↩︎
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Vgl. in etwa XIV 24–28. ↩︎
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Vgl. XIV 344 f. ↩︎
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XIII 153. ↩︎