Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie

Mediale Ursprünglichkeit des Denkens als figürliche Ursprünglichkeit

Die drei Ebenen der Spätphilosophie Schellings erhellten sich unserem Mitdenken im Vergleich mit entsprechenden Weisen des Denkens, die sich uns unmittelbar im Hinblick auf den vielfältigen Sinn und die vielfältige Anwendung von „Denken“ ergeben hatten. Der – in aller Verwandtschaft – grundlegend unterscheidende Zug bei Schelling ist die Orientierung am Seienden als an dem einen Inhalt des Denkens. Aus ihr schließen sich die mannigfachen Weisen von Denken zu dem Denken, seine diskontinuierlichen Ebenen zu einem einzigen Weg zusammen. Sein Verlauf und seine Übergänge, das Programm, welches sich dem Denken am inneren Ende seiner Unmittelbarkeit als reines Denken stellt, und die Stufen seiner Einlösung in der negativen und positiven Philosophie traten bereits in der vergleichenden Gewinnung der einzelnen Elemente hervor.

Sie nochmals zusammenzustellen ist nicht erforderlich. Wohl aber muß sich der Weg des Schellingschen Philosophierens durch die drei Ebenen als ein Weg des Denkens aus der einen Grundeinsicht in seine mediale Ursprünglichkeit, muß sich also die Konsequenz und Stimmigkeit der Spätphilosophie Schellings in sich selbst, unter Absehung von Nähe und Distanz zu den Möglichkeiten und Notwendigkeiten unseres eigenen Denkens, dartun.

Der Durchgang durch die Artikulationen und Ausfaltungen, welche der Gedanke der medialen Ursprünglichkeit des Denkens in [125] der Spätphilosophie Schellings erfährt und die ihrerseits diese Spätphilosophie sind, legt uns nahe, die mediale Ursprünglichkeit des Denkens als figürliche Ursprünglichkeit zu bezeichnen.

Es sei gestattet, dies auf selbst „figürliche“ Weise zu umreißen. Denken ist Hervorbringen einer Figur bzw. Sich-Hervorbringen in eine Figur, die nicht von irgendeinem Eindruck von außen und nicht aus einer forma formans über ihr herrührt, sondern rein und unableitbar sich selbst erbildet. Dies ihre Absolutheit und Ursprünglichkeit.

Reines Spiel, ist sie indessen keineswegs leeres Spiel. Sich selbst erbringend, bedeutet sie sich, aber bedeutet sie in sich, was ist. Sie übertrifft sich einmal in ihrer reinen Figürlichkeit auf das zu, was diese figuriert, was diese vor-spielt. Somit aber ist sie wesenhaft nachspielbar, Vorspiel eines unerschöpflichen Ihr-Nachspielens. Als solches Vorspiel freilich wird sie ambivalent: mächtiger als alles von ihr ja eröffnete, bestimmte, vorumgriffene Nachspiel, an sich selbst aber doch nur Vorspiel dazu, Vorspiel zum Nachspielen, ihm vorlaufend, aber auch vorläufig zu ihm, nur Einladung, nur Form und Hinblick. Auf was blickt dieser Hinblick?

Auf alles Mögliche, darin aber doch auf Eines: aufs Spiel, das den Vorblick, den Entwurf, das Vorspiel ausspielt. Das ganze Vorspiel ist der Entwurf einer einzigen, totalen und universalen und so es doch gerade nicht verzehrenden und verspielenden Rolle.

Spiel ihrer selbst als Vorspiel seines Nachspiels, ist die Figur, welche das Denken ist, so zugleich in der anderen Richtung: Auslegung. Indem sie der Inbegriff aller Spielbarkeit, das Vorspiel zu allem Sein ist, macht sie nicht nur Vorschläge fürs Spiel, sondern bestimmt es, grenzt es ein. Und dies wodurch? Sie sagt: So ist es. – in aller Sie zeichnet sich als das sich selbst nicht Beliebige, als Ursprünglichkeit – doch selbst schon Hinblick und Andenken. Ihr Maß ist verbindliches Maß, sie ist maßgebend, weil sie selbst gebunden ist, maßnehmend, Entsprechung, Bezeugung und Auslegung. Die Figur zeichnet, meint etwas, das sie „ist“, dem sie also selbst „nachspielt“, sie ist nicht nur Matrize, sondern Prädikat, das sein Subjekt voraussetzt, es darin aber gerade zu sich selbst bringt, es sich selbst deutet, ihm gehorsam, ohne eigenen Selbststand, ge- [126] rade darin aber auf eigentümliche Weise mächtig: Als die große „Rolle“ ist sie die Werbung um ihren Spieler, von ihm her und auf ihn zu sich konzipierend, ihn rufend, daß er sie anziehe und sei: Für dich bin ich, daß du ganz du seist und so mehr als bloß du, der Chorege, der Vorspieler, in welchem ich selbst meiner eigenen Ohnmacht, nur Vorspiel zu sein, enthoben, ermächtigt bin zu deinem Sein und allem Sein. Die Figur ist magische Identifikation ihrer selbst mit dem, was sie „meint“, als gemeint ebenso voraussetzt wie erbildend vollbringt wie ins Offene der Sichtbarkeit, Allgemeinheit, Wiederholbarkeit vorbringt, Ursprünglichkeit an sich, aber mediale Ursprünglichkeit, Ursprünglichkeit des Mediums des in diesem Medium selbst seienden, frei über sich hinausspringenden und so doch in sich gewahrten ursprünglichen Ursprungs.

In der Rückkehr von solch bildhafter Redeweise wird das Konzept verständlich, das hinter Schellings, einzeln und für sich genommen, auf andere Art figürlichen Denkelementen steht: Denken setzt das Seiende als seinen Inhalt, als die Möglichkeit seiner selbst, d. h. alles dessen, was sein kann. Es meint darin, d. h., es entwirft wesentlich und es bezeugt auf die Weise der Voraussetzung wirklich den reinen Akt, den unbedingten Ursprung, das unvordenkliche Daß; es ist — und das Seiende ist somit — unableitbar aus diesem Daß als solchem, in seiner Ursprünglichkeit das Andere dieses Daß, in seinem Voraussetzen dieses Daß dessen Folge, aber eben unableitbare Folge, Folge als συμβεβηκός, als Zu- und Einfall, in welchem dieses Daß indessen erhält, was es ist, was es lichtet, öffnet, allgemein macht und wodurch es und worin es frei von ihm und frei zu ihm und frei zu anderem Sein ist: Herr des Seins, Gott.

So zieht die Figur des Denkens das unvordenkliche Daß, das absolut Selbstseiende an sich, „die Anziehung aber, die das Seiende“ (und somit das Denken) „auf es ausübt, beruht auf dem gänzlichen Nichtselbstsein des letzteren (des Seienden)“1. Das Denken (das Seiende) ist als reines und bloßes Wesen gerade keine Konkurrenz zu seinem Anderen, zum reinen Daß, ist sein anderes nicht als etwas quantitativ Zusätzliches zu seiner reinen Wirklichkeit, das sie somit [127] einschränkte, sondern gerade ihr Hellwerden, ihr Sie-selbst-Werden, dies aber nicht im Sinne eines ontischen Werdens, das sie notwendig minderte, sondern als ihr unableitbar-zufälliger Lichtkreis, in dem sie nur wird, was sie schon ist2.

Umgekehrt ist das Seiende und somit das Denken durch seine Beziehung zum unbedingten Daß, in welcher es diesem sein eigenes Wesen und Einfall der Möglichkeit des Seins seines Anderen wird, zu sich selbst erhoben, letztlich erst mit sich selbst identisch, erst wahrhaft und wirklich geworden, was es ist und was es für sich allein, abstrakt genommen, als bloße Potenz, gerade nicht ist; es ist befreit von leerer Figürlichkeit, Wesentlichkeit, Möglichkeit, ist „Herr-lichkeit“ Gottes, seine Mächtigkeit, ist, was er ist und was alles ist, und ist es nicht als Einerleiheit von Gott und Welt, sondern als die freie Gottes Selbstsein und der Welt Selbstsein gewährende „Systematik“, als ihr Zusammenbestehen3, ihre Beziehung.

So vermögen, von der Figur der Figürlichkeit her, die Aussagen Schellings über das Denken nochmals schärfer in ihrer eigenen Systematik, in ihrer gegenseitigen Stimmigkeit ans Licht zu treten. Zugleich gibt die als figürlich verstandene mediale Ursprünglichkeit des Denkens den Blick auf ihre Auslegung und Durchführung in den drei Ebenen der Spätphilosophie frei.


  1. XI 365. ↩︎

  2. Vgl. zum Ganzen bes. XI 574–590. ↩︎

  3. Vgl. zum Ausdruck XI 213. ↩︎