Was heißt Glaubenssituation

Situation ist zwar je jetzige Situation. Das Jetzt erhält seine Relevanz aber gerade daher, daß es ein anderes Jetzt gegenüber dem Gewohnten und Hergebrachten darstellt. Situation ist eine je neue Konstellation der Bezüge, in denen Dasein sich findet, sich immer findet und daher auch zuvor schon fand. Gerade auch jene Komponenten, die in einer früheren Situation noch nicht gegeben waren, treten dadurch erst hervor, daß sie neu in das Geflecht vorgängiger Bezüge eintreten und es dadurch verändern. Situationsanalyse ist als solche nur möglich in der Gestalt einer Differentialanalyse zwischen dem jetzigen und dem überkommenen Befund. Hierbei spielt nicht nur die Faktizität des Gestern, sondern vor allem auch die Reproduktion des Gestern im heutigen Bewußtsein eine Rolle. Was gestern war, läßt sich freilich nicht auf denselben Wegen, wie sie fürs Heute möglich sind, empirisch sichern. Die Methoden der präzisen Erhebung des Faktischen wandeln sich ständig; was war, ist dann aber auch von der Methode her nicht auf dieselbe Weise zugänglich wie das, was ist. Das erschwert den Vergleich. Die Differentialanalyse zwischen der Situation und dem geschichtlichen Hintergrund muß ergänzt werden durch weitere Differentialanalysen, die indessen im Begriff der Situationsanalyse als solcher bereits programmatisch enthalten sind. ^[36] Wenn nämlich Glaube als situationsbedingt und situationsbedingend und wenn er als einbegriffen in die Gesamtsituation des einzelnen und der Gesellschaft zu verstehen ist, so ist darin jeweils die Differenz zwischen einer Wirklichkeit, die ohne den spezifischen Einfluß des Glaubens, und einer Wirklichkeit, die durch diesen geprägt ist, impliziert; die gegenseitige Wirkung und Abhängigkeit der anderen Faktoren und des Faktors Glaube kann nur durch eine fiktive Subtraktion des jeweils als wirkend verstandenen Faktors sichtbar gemacht werden, wenn diese Subtraktion freilich auch nie abstrakt und absolut durchgeführt, sondern nur in der Tendenz sichtbar gemacht werden kann.