Wandern mit deinem Gott

Mi 6,8 als Herausforderung der Religionsphilosophie

Es genügt nicht, die innere Konvenienz zwischen dem Text, den wir unserem Nachdenken zugrunde legen, einerseits und der Sache und Methode der Religionsphilosophie andererseits herauszustellen. In dieser Konvenienz waltet zugleich gegenseitige Herausforderung.

Es rührt nicht von mangelnder Tiefe des Nachdenkens und Verblendung über die Sache der Religion oder der Philosophie her, wenn die meisten Gedanken der großen Tradition philosophischer Annäherung an Gott zu ganz anderen Gestalten des Denkens vorstießen als jenen, die sich uns in unserem Zusehen auf das 6. Kapitel des Micha-Buches ergeben haben. Gerade Alfons Deissler hat immer wieder auf die Spannung zwischen dem Gott der Philosophen und dem Gott der Bibel aufmerksam gemacht, aber dabei nie übersehen, daß diese Spannung selbst eine theo- [243] logische und philosophische Herausforderung darstellt, die für Exegese wie Religionsphilosophie fruchtbar ist.1

Wo liegt die Wurzel der unterschiedlichen Richtungen zwischen biblischem Gottesbild und philosophischem Nachdenken über Gott?

Es wurde bereits der Hinweis darauf gegeben, daß Religionsphilosophie sich nicht im Erdenken Gottes aus ihren eigenen Prämissen erschöpfen kann, daß sie aber andererseits auch nicht darauf verzichten kann, das Gottesbild der Bibel, sofern sie sich mit ihm befaßt, mit ihrer immanenten Stimmigkeit und Schlüssigkeit zu konfrontieren. Demgegenüber ist der „klassische“ Ansatz denkender Nachfrage nach Gott jener nach dem, was das Höchste sei, welches alles trägt, nach dem, woran das Denken nicht vorbeikommen könne, um alles und sich selbst zu begreifen.

Es ist zweifellos problematisch, auf eine so generalisierende Formel die höchst unterschiedlichen Denkansätze etwa eines Anselm und eines Thomas, eines Descartes, eines Kant und der großen Systemdenker des Deutschen Idealismus zu bringen. Gemeinsam aber ist das Eine: Der Gedanke Gottes liegt auf der Linie des Nachdenkens des Denkens über das, was ist, und so über sich selbst. Im Grunde wird nicht die Situation eines Gegenüberseins und Gerufenseins thematisiert, auch dort nicht, wo sie deutlich genug den Hintergrund des Gedankens bietet. In seiner Ausdrücklichkeit steht am Anfang die Verwiesenheit des Gedankens an sich bzw. an das, was ihm vom Denken oder von der Sinnlichkeit her unmittelbar gegeben ist. Solche Blickrichtung führt aber gerade nicht zu dem Gott, den Mi 6,8 zeigt: zum Gott, der da als Gott des Weges mit dem geht, der mit ihm geht, zum Gott, der den Raum seiner Gegenwart im Leben mit dem anderen, dem Nächsten, vermittelt. Viel eher als der Weg erscheint die unbeweglich bewegende Macht des Ewigen, viel eher als die Nähe im Nächsten die Entzogenheit über dem Fernsten das Eigene und Eigentliche des „Gottes im Denken“ zu treffen. Damit soll keineswegs geleugnet werden, daß Spuren zwischen dem Gott der Metaphysik und dem Gott der Bibel hin und her führen, im Grunde aber bleibt der biblische Gott in jener Wucht und Direktheit, in welcher er allenthalben und zumal in Mi 6,1–8 begegnet, eine Herausforderung an das Denken. Diese Herausforderung besteht darin, daß es eben diesen anderen, lebendigen, wandernden, Geschichte mit sich und mit den Menschen stiftenden Gott „gibt“, will zunächst philosophisch sagen: daß er bezeugt ist und daß seine Eigenart und innere Stimmigkeit nicht dadurch zu zerstören sind, [244] daß man auf umwelthafte Motive und Bedingungen seines Vorkommens verweist.

Die Herausforderung an das Denken wird nur umso schärfer, als offenbar wird: Als Gott des Weges, als geschichtsmächtiger und in die Geschichte sich einlassender Gott ist er der zugleich ganz und gar Entzogene, im strengsten Sinn Transzendente; als der in die Horizontale verweisende und in der Horizontale aufgehende Gott, als der Gott, dessen Ernstfall der Mitmensch und die Gemeinschaft sind, ist er der Erhabene, der Heilige, der in sich selbst Personale. Wir sprachen bereits davon, daß dem Denken, das die Ordnung des Heiligen, des Glaubens als solche ernstnimmt, sich die innere Logik und Transparenz des Gottes- und Menschenbildes erschließt, das in Mi 6,8 begegnet. Die entscheidende Frage ist so: Wie den Sprung in die andere Ordnung selbst im Denken rechtfertigen? Wäre hier nicht ein Sprung, so wäre gerade die Ordnung nivelliert, Gott, der göttliche Gott würde zum Produkt des Denkens oder zur bloßen immanenten Voraussetzung. Er ist der göttliche Gott nur im Gegenüber. Der Weg ist: Denken selbst, mit seiner konstruierenden und sich vermittelnden Kraft, wird als ganzes Gedenken, geht sich auf als Gedenken – es wird aus solchem Gedenken Vernehmen – es entdeckt sich in der Verantwortung.

Kann dem Denken nicht genau dies widerfahren, wenn es sich im Licht des biblischen Gottesphänomens, wie es sich in Mi 6,8 verdichtet, als es selbst in sich selbst bedenkt?

Denken ist fundamentales Gedenken: Es ist sich gegeben, indem es sich selber vollzieht, und diese Gegebenheit ist nicht die einer ihm äußeren Struktur, sondern einer Zugewiesenheit, die sich selber erhellt. Denken ist sich zugeeignet und in solcher Zueignung verwiesen auf das, was ihm aufgeht. Und indem es selbst sich aufgeht, geht ihm Beziehung auf zu dem, was sich ihm zueignet, zu einem Zueignen, das vor, über und in allem Zugeeigneten waltet und ruft. Solches Zueignen wohnt im Denken als das ihm Voraufgehende, Entzogene und weist das Denken doch in die je neue Achtsamkeit, in das je neue Mitgehen. Vor solchem Geheimnis der Zueignung und mit ihm wird das Denken, je neu vernehmend, selber weghaft, selber ein „wanderndes Denken“. Denken als Gedenken wird zum Denken als Mitgehen und unabschließbarem Vernehmen.

Indem das Denken in solchem Vernehmen sich von dem es Rufenden und Gewährenden zukommt, kommt es sich zu als Sprache, die wesenhaft Antwort und Wort ist, Hören auf den gründenden Zuspruch im Hören aufeinander. Sprechen ist immer Mitsprechen, Denken immer Mitdenken, und nur in der Lauterkeit der Verantwortung meines Wortes [245] und meiner Antwort im Angesicht des Wortes und der Antwort des Anderen öffnet sich der Raum, in welchem die unbedingte Verantwortung vor dem unbedingten Zuspruch aufgeht.

Zwischen der Begegnung mit der „aeterna veritas“ des Augustinus2 und der Botschaft von Mi 6,8 waltet also in aller Unterschiedenheit doch Entsprechung. Die beiden Strukturen lassen sich nicht ineinander hinein nivellieren, aber sie sind Zugeeignetes aus der Einheit eines Ursprungs, der sich nicht verfügen läßt, sondern der eben spricht und ins Mitgehen ruft. Die Ausdrücklichkeit der Verschränkung zwischen dem Weg mit dem rufenden unbedingten Geheimnis und der Gemeinschaft mit dem Anderen bezeichnet indessen einen „philosophischen Überschuß“ im Prophetentext.

Rufen wir nochmals die zentralen Punkte unserer allzu knappen Skizze ins Gedächtnis: Der Gott der Propheten, wie er in Mi 6,8 aufgeht, ist der andere gegenüber dem Gott des sich selber erdenkenden und vermittelnden Denkens. Dieser im Gefüge des Mitseins aufgehende und in ihm als der je neu rufende, mitgehende Gott läßt es aber vom inneren Rang seiner „Phänomenalität“ nicht zu, diese in vom Denken erstellte oder vorgefundene Momente aufzulösen. Er wird so zur Herausforderung des in seiner unbedingten Verantwortung sich zugewiesenen Denkens. Diese Zuweisung in unbedingte Verantwortung aber läßt das Denken selber zum Gedenken, zum vernehmenden Antworten und somit zur geschehenden Beziehung werden, und dies gerade in der konstitutiven Sprachlichkeit des Denkens, die Beziehung von Wort und Antwort zwischen Mensch und Mitmensch ist. Hier zeitigt sich dem Denken das ihm vorenthaltene und sich zugleich ihm gewährende Geheimnis.

Das Ethos des Denkens öffnet sich dem Ethos des prophetischen Textes. Denken wird selber in seiner Andersheit zum „intellectus fidei“, will hier sagen zur erhellenden Erinnerung an das je größere Geheimnis, und so wächst ihm die Möglichkeit zu, sich selber ins Bedenken von Gott und Offenbarung einzubringen, aber eben auf die Weise verantworteten Gedächtnisses. Von hier aus erschließt sich, wieso der erinnernde, verdichtende, steigernde Gang des sich in Mi 6,8 verfassenden Gedankens den Gang von Religionsphilosophie zeichnen und wieso Religionsphilosophie eine kritische Funktion in Sachen Wesen und Unwesen von Religion wahrnehmen kann, ohne sich damit zur Richterin über das Eigene und Andere des Glaubens aufzuschwingen.


  1. Deissler, Alfons: Die Grundbotschaft des Alten Testamentes, 11–14; 31f. ↩︎

  2. Augustinus, Confessiones, VII,18. ↩︎