Wandern mit deinem Gott
Mi 6,8 als vollzogener „intellectus fidei“
Für die Theologie wurde wegweisend die Formel Anselms von Canterbury von der fides quaerens intellectum.1 Quelle des Glaubens und Sache des Glaubens gehen nicht auf in dem, was der menschlichen Vernunft aus ihr selber zugänglich ist. Und doch ersetzt das Offenbarungslicht und Glaubenslicht nicht das Denken und sein aus eigenem Vermögen her Gedachtes. Gerade im Denken und in seinem Gedachten gibt sich Gottes Offenbarung aus eigener Hoheit uns selbst und wird von uns angeeignet. Das durch den Glauben erleuchtete Denken setzt Denken voraus und schließt Denken ein. Glaube verwandelt, aber ersetzt nicht das Denken. Ist Theologie der ins Denken gebrachte, im Denken sich erfassende und durchsichtig machende Glaube, so ist es religionsphilosophische Aufgabe, jene Denkmöglichkeiten bereitzustellen, in denen Glaube sich [237] selbst zu erhellen und auszudrücken vermag. Diese Denkmöglichkeiten und Denkwege sind auf der einen Seite „Voraussetzung“ des Denkens, müssen schon dasein, um sich dem ergehenden Anspruch der Offenbarung, dem geschehenden Ereignis des Glaubens zu eröffnen und zur Verfügung zu stellen. Doch dieser Ansatz allein genügt nicht, um das Mehr des Glaubens ins Denken zu bringen und im Denken dieses Mehr denkend zu wahren. Glaube muß auf der anderen Seite sozusagen aus sich selbst seinen intellectus, seine Verstehensmöglichkeit entwerfen und entbinden, so freilich, daß sie, vom Glauben ausgehend, zugleich vom Denken ausgeht. Bloße Beanspruchung der Offenbarung und dem Glauben äußerer Begriffe unterböte sowohl Glaube und Offenbarung wie auch das Denken selbst. Bloß aus der Offenbarung als einem von außen auf den Menschen Zukommenden entstammende Begriffe erreichten nicht das Denken und transportierten so die offenbarende Bewegung Gottes nicht bis in dieses und somit nicht bis in den Menschen hinein. In der Begegnung zwischen dem Glauben und dem Denken muß der Glaube im Denken diesem eigene und zugleich diesem neue Möglichkeiten entbinden, um sich im Denken über das Denken hinaus zu erschließen.
Was hat diese Erwägung über die fides quaerens intellectum und somit über den intellectus fidei mit unserem Vers zu tun? Der Vers ist, theologisch gesprochen, Offenbarungsgut. Aber als Offenbarungsgut steht er nicht außerhalb menschlichen Denkens, sondern in ihm. Und wenn wir diesen Vers hineinstellen in den Gesamtkontext der voraufgehenden Verse (6,1–8), dann können wir sagen: In Vers 8 verfaßt sich der intellectus fidei, das gemäße Verstehen der Grundinhalte alttestamentlicher Offenbarung, es verdichtet sich zu einer intelligiblen Formel, die nicht nur verkürzende Wiederholung, sondern erhellende Synthese darstellt.
Um den Kontext kurz zu erinnern: Gott beklagt sich bei seinem Volk über dessen Untreue und führt seine die Existenz, den Bestand und die Zukunft des Volkes gründenden Heilstaten ins Feld. Darauf antwortet das Volk mit der Betroffenheit, die nach Wiedergutmachung fragt und bereit ist, auch größte Opfer, bis zur Hingabe der Erstgeborenen, sich zumuten zu lassen. Da aber setzt die Prophetenantwort im Namen Gottes ein, was allein gefordert ist. Der Erinnerung an die das Volk konstituierenden Großtaten Gottes entspricht hier die Erinnerung an das im Zusammenhang mit diesen Großtaten erlassene Bundesgesetz.
Natürlich ist diese Antwort eine vollmächtige, kein Resultat eines bloßen Nachdenkens. Der Vers als verbindliche Antwort wiegt mehr, gilt mehr und ist insofern mehr als der intellectus fidei des Bundesgesetzes, der Zehn Gebote. Doch die Weise, wie diese Antwort vermittelt und [238] gewonnen wird, ist geradezu ein Musterbeispiel für unser oben angedeutetes Verständnis von fides quaerens intellectum, von intellectus fidei. Dies läßt sich an fünf Beobachtungen erweisen.
Erste Beobachtung: Wort Gottes und sein Verstehen sind hier „situiert“. Es geht nicht um eine zeitlose und abstrakte Verhandlung über ein Wort Gottes an sich, sondern dieses Wort Gottes wird als ein ergehendes, Geschichte stiftendes, Geschichte richtendes erfahren. Dies mindert nicht seine Geltung, auch nicht seine über den Augenblick hinausgehende, bleibende, ja ewige Geltung, zeigt aber an, daß Gottes Wort als Aussage immer Zusage und Anspruch, immer Ausdruck und Stiftung von Beziehung ist. Fides quaerens intellectum heißt – dies geht gewiß über das bei Anselm Ausgeführte hinaus, hat aber auch dort seinen Rückhalt und seine Parallele –:2 Das zum Glauben angebotene und Glauben fordernde Wort sucht sein Verständnis, indem es den Hörer in jener Situation und Relation sucht, in denen das Wort ergeht und in die das Wort trifft. Diese Situation und Relation gehören zum Wort selbst und sind Bedingung seiner Erhellung, also Worthaftigkeit. Dies relativiert nicht die Bedeutsamkeit und Gültigkeit des Wortes, sondern macht den Ort sichtbar, an dem es sein unbedingtes und bleibendes Gelten hat.
Konkret: Vers 8 knüpft an bei der Heils- und Unheilsgeschichte des Volkes Gottes und rückt sie in den fundamentalen Zusammenhang des Bundes und des Bundesgesetzes. Nur wissend, wer wir vor Gott sind und wer Gott für uns ist, verstehen wir sein Wort, seine Forderung in ihrer Tragweite.
Zweite Beobachtung: Das Wort, das unser Verhältnis zu Gott und sich in unserem Verhältnis zu Gott situiert, situiert auch unser Verständnis dieser Situation und damit unser Selbstverständnis und schließlich unser Verständnis des Wortes selbst. Es beansprucht dieses Verständnis, bezieht sich auf es, bezieht es in sich selber ein. Fides quaerens intellectum heißt: Das Wort Gottes sucht unser vorgängiges Verstehen unserer eigenen Situation und somit unserer selbst vor Gott, damit es in unserem Verständnis sich selber verständlich zu machen vermag.
Konkret: Im Prozeß der Verse Mi 6,1–7 waren die Hörer sich bereits dessen bewußt geworden, daß sie gegen Gottes Bund sich vergangen hatten und der Umkehr bedürfen. Sie bringen das Verständnis mit: Er darf von uns fordern, was immer er will. Nur aus solchem Verstehen dessen, was Gott getan hat, was sie getan hatten, was sie zu tun bereit sein müssen, kann die Forderung Gottes „ankommen“. Diese Bereitschaft zu [239] allem mißt ihr „Alles“ aber – es wird später noch davon zu handeln sein – nicht an der Sicht Gottes und bedarf gerade deshalb eines neuen Rückgangs in den Ursprung des Bundes. So wird das Selbstverständnis, Situationsverständnis und Bundesverständnis des Volkes, das sich in den voraufgehenden Versen artikuliert, einerseits positiv beansprucht und andererseits von Gottes „anderer“ Antwort in die Krise geführt. Fides quaerens intellectum heißt: Das Verständnis, das Gottes Wort in uns sucht und zeugt, nimmt unser mitgebrachtes Verstehen in Anspruch, bedient sich seiner und führt es zugleich in Krise.
Dritte Beobachtung: Krise und Erneuerung, in welche das sein Verstehen suchende Wort Gottes uns führt, sind nicht nur Vorgang in unsere Situation, sondern zugleich Rückgang in seinen Ursprung, unsere Rückführung in seinen Ursprung. Das Wort ist: Erinnerung. Die Grundfrage des intellectus fidei heißt nicht: Was sagt uns Gottes Wort heute? Vielmehr lautet die entscheidende Frage: Was sagt uns heute Gottes Wort? Die Bewußtmachung des Heute, der Vorstoß in unser gegenwärtiges Bewußtsein, die im Ergehen des Wortes Gottes erfolgen, holen uns zugleich zurück in seinen Ursprung, erinnern ihn. „Es ist dir (bereits) gesagt …“ Der intellectus fidei, das Verstehen des Wortes ist nicht ein Zusatz zum Wort, sondern eine Neugewinnung des Wortes aus dem Ursprung. Ich muß mich selbst vergessen in den Ursprung hinein, mich selbst verlassen in ihn – nur so bringe ich mich und das Meine wahrhaft in ihn mit. Die Zeugung des Glaubensverstehens und seiner Kategorien erfolgt in einer Art von „Reformbewegung“, von Verwesentlichung, Neuansatz beim Ursprung, der Tradition nicht verleugnet, aber verankert und in solcher Verankerung zugleich überholt und neugewinnt.
Vierte Beobachtung: Zwar kann mit der Erinnerung, mit dem Rückgang in den Ursprung eine Erweiterung des bislang Gesagten, eine Erhellung neuer Kontexte erfolgen; wesentlich und grundlegend aber ist damit stets die Gegenbewegung verbunden: Verdichtung. Das neue Verstehen, das tiefere Verstehen findet die knappere Formel – oder zumindest das Schlüsselwort. Intellectus fidei heißt aufspüren von Schlüsselworten, in denen ebenso die Mitte des Geglaubten wie des Glaubenden erschlossen und füreinander zugänglich gemacht sind. Gerade solche Verdichtung ist die „Leistung“ von Mi 6,8 im Blick auf das Bundesgesetz und den Dekalog. Es handelt sich nicht um Wiederholung des Ursprungs im Sinn mechanischer Selbigkeit, sondern in der Einholung der ganzen Geschichte in den Ursprung erscheint dieser in seiner Ursprünglichkeit und wird in solcher Ursprünglichkeit hereingeholt, wieder-holt ins Jetzt.
Konkret: In der Situation, in welcher das Volk dem Ursprung enträt, ja [240] in welcher es sogar in seiner Umkehrwilligkeit sich nicht aus Eigenem in die zutreffende Mitte des Ursprungs zu begeben vermag, wird ihm in der verdichtenden Wiederholung das gesagt, worauf es im „Urtext“ ankommt; der Urtext wird neu lesbar, es ereignet sich in der Tat der intellectus fidei.
Fünfte Beobachtung: In der Verdichtung geschieht also: Steigerung. Die neue Formel ersetzt nicht die alte und macht sie nicht überflüssig. Mi 6,8 tritt nicht an die Stelle der Zehn Gebote. Und doch sind sie neu lesbar – aber nicht nur, weil sie hier so gut „zusammengefasst“ sind, sondern weil in ihrer verdichtenden Zusammenfassung eine Steigerung geschieht, hier: eine Steigerung in die Umkehrung hinein. Die Zehn Gebote werden wiederholt, aber spiegelbildlich; es hebt an mit dem, was zunächst nur als Konsequenz erscheint, mit dem Verhalten zum Nächsten; und erst im Licht der Nächstenliebe wird die Treue zu Gott in ihrer wahren Bedeutung sichtbar und verstehbar.
Diese Spitze der Aussage haben wir inhaltlich ausgespart, um die formale Kontur dessen schärfer hervortreten zu lassen, was sich als Struktur des intellectus fidei in Mi 6,8 abzeichnet und ein Programm für Religionsphilosophie überhaupt abzugeben verspricht. Wiederholen wir in solcher Formalität die Stichworte unserer fünf Beobachtungen: Situierung, Anknüpfung am Vorverständnis, Erinnerung des Ursprungs, Verdichtung, Steigerung. Bleibt nur nachzutragen, daß sich auch die umkehrende Steigerung, wie sich alsbald zeigen wird, auf die fundamentale Situierung des Wortes bezieht. Insgesamt wird eine Religionsphilosophie, die dem Programm von Mi 6,8 folgt, sich von dem, was klassisch Religionsphilosophie bedeutet, dadurch unterscheiden, daß sie einen intellektuellen Vorgang darstellt, der nicht neben Umkehr, Glaubenszustimmung und Tradierungsgeschehen erfolgt, sondern von innen her seine Funktion und seine Position in diesem Prozeß einnimmt.