An die Teilnehmer der Romfahrt [...] 1986, Januar 1987

Mir besonders nachgehende und in mir weiterwirkende Erkenntnisse

  1. Für mich spannt sich ein Bogen zwischen der Ur- und Frühgeschichte der genannten Kirchen San Lorenzo in Lucina, Santa Sabina und San Clemente und den Begegnungen mit den von Sant’Egidio aus gebildeten Zellen in den römischen Außenstadtbezirken. Lucina und Sabina – im Kontext von San Clemente verhält es sich wohl ähnlich waren aller Vermutung nach römische Matronen, römische Hausmütter, bei denen sich Christen in der Verfolgungszeit versammelten, und von diesen christlichen Hausgemeinden aus wuchsen dann die so geschichtsträchtigen Basiliken. Die offizielle Kirchen-Geschichte (im doppelten Wortsinn) setzt bei der Haus-Geschichte an. Das ist damals so wie heute. Es ging da nie (so wenig wie es bei Sant’Egidio darum geht) um „Zerbröselung“ der Kirchengemeinschaft, wohl aber darum, daß das Brot aus vielen Körnern gebacken und daß es geteilt wird, um den einen Leib zu formen.

  2. Zumal in San Clemente und unter der zuspitzenden Deutung von Professor Pfeiffer fiel auf, wie sehr die Wahrung und der Besitz der Ursprünge in einer Stadt wie Rom in einem problematischen Sinn zur „Machtgeschichte“ werden kann, und der Satz von Heinz Pfeiffer hat mir sehr zu denken gegeben: Um in Rom überleben zu können, bleibt kein anderer Weg, als ein Heiliger zu werden! Das ist nicht nur eine aparte Bemerkung, sondern zeigt ja auf die innere Logik der Geschichte, der wir in Rom begegnen: Die Wahrung der Ursprünge ist pervertierbar in eine Ideologisierung und [4] Sicherung eigener Machtinteressen, sie ist aber zugleich die Grundlage, um das einfältige und ursprüngliche Leben aus dem Ursprung anzustiften, und so ist es dem in römischen Katakomben und Basiliken und auch im Petrusdienst verwahrten Erbe des Ursprungs ja ergangen in allen Epochen der Kirchengeschichte vom Anfang bis heute. Leid tut mir, daß ich vergessen hatte, in San Clemente an den heiligen Servulus zu erinnern, einen Bettler, der in dieser Kirche an der Türe saß zur Zeit des heiligen Gregors des Großen und um etwas ganz Merkwürdiges bettelte: Er konnte nicht lesen und bat jeden, der eintrat und lesen konnte, ihm ein Wort aus der Bibel vorzulesen. Als er, da Gregor wiederkam, nicht mehr da war und man Gregor sagte, er sei gestorben, hat dieser ihn als einen Heiligen geehrt.

  3. Die sakralste aller Städte, zumindest im Umkreis abendländischer Kultur, Rom also, ist auch eine der säkularisiertesten Städte. Und die Säkularisierung hat in Rom wie überhaupt in romanischen Ländern noch andere Töne als dort, wo durch den Streit der Konfessionen eine gewisse gesellschaftliche Aktualität des Christentums, wenn auch unter problematischen Vorzeichen; erhalten bleibt. Wo in einer klerikalen Gesellschaft das hergebrachte Ordnungsgefüge der Bestimmung der Gesellschaft durch den Klerus abklingt, da bleibt nur die Antithese und wächst das Vergessen, ein oft militanteres Vergessen als bei weniger klerikal bestimmten und weniger von der durchgängigen Selbstverständlichkeit der einen Kirche geprägten Gesellschaften. Rom ist also nicht nur eine heilige, sondern auch eine überaus säkularisierte Stadt. Doch der eigentliche Erkenntnispunkt liegt für mich in etwas anderem und Unerwartetem: Waren noch zu Anfang und Mitte dieses Jahrhunderts Aufbrüche zu einer unmittelbaren und unkonventionellen Verlebendigung des Christlichen mehr in den Sprachräumen des Französischen und Deutschen zu suchen, so sind heute ganz wichtige Impulse und neue Bewegungen, Alternativen, wenn großenteils auch nicht antithetische Modelle des Christseins in der Kirche, ausgerechnet in Italien in beachtlichem Ausmaß anzutreffen. Die große Ermüdung und der Schlaf des Christlichen macht solche, die noch glauben, unruhig und empfänglich für neue Impulse und Charismen. Das Buchstabieren der Ursprünge mitten in unserer Zeit bedient sich just der Sprache, in welcher wir nur Kuriales zu vermuten gewohnt waren (mit einem freilich betrüblichen Begriff von Kurialität).

  4. [5] Eng damit zusammenhängend und doch davon abzuheben ist ein anderes, was mich beschäftigt: die Unbefangenheit, mit welcher wir, etwa bei den Kleinen Schwestern, aber nicht weniger überraschend bei den Schervierschwestern Glaubenszeugnissen, glaubwürdiger Mitteilung, geistlicher Erfahrung begegneten, und zwar ohne Aufdringlichkeit und Peinlichkeit. Ist das nur südländische Leichtigkeit? Bei den Kleinen Schwestern zumindest waren ja keineswegs nur Südländer zugegen. Sicher sind die Verbindungswege zwischen Kopf, Herz und Zunge bei den Südländern weniger systematisch in einen Geschäftsgang geordnet als bei uns, und Unterschiede sind nicht nur Defizit; sondern auch Gnade nach beiden Seiten eines Vergleichs hin. Dennoch hat mich hier mehr angerührt als Südländisches: Schaffen nicht wir Vorräte, während andere Quellen suchen? Vielleicht ist das schutzlosere Christentum, dem wir in Rom begegneten, auch leichter gewillt, zu den eigenen Quellen zurückzukehren und neue aufzuspüren. Ebenfalls bedenkenswert, daß diese Ursprünglichkeit sich mit einer kindlichen, aber durchaus verantworteten Treue zur Tradition verband. Ich erinnere an die auffallend intensive „Kirchlichkeit“ der Kleinen Schwestern (für Sant’Egidio gilt ganz Ähnliches). Das „urfranziskanische“ Prinzip von Kritik als Gehorsam. Gehorsam als Kritik, Erneuerung als Treue und Treue als Erneuerung gab mir in Rom, keineswegs vornehmlich unter kirchenpolitischen Aspekten, zu denken. Auch hier: Unmittelbarkeit, Unbefangenheit, die zugleich scharfsichtig ist.

  5. Für mich war sehr wichtig am Morgen bei Piero Coda der Gesprächsabschnitt über den Dialog. Zur Erinnerung: Er hatte uns berichtet, wie nach einer jahrhundertelangen Epoche der schier ausschließlich durch die päpstlichen Universitäten und Hochschulen in Rom bestimmten Weitergabe der Scholastik und ihrer Transformation in die Neuscholastik heute eigene italienische Akzente erwachen: Entdeckung der Kirche als Communio, auch vor Ort, auch in geistlichen Aufbrüchen, und zugleich Rezeption dessen, was in der Theologie der Welt geschehen war, in zum Teil recht eigenständigen Entwürfen, welche einen Communioansatz spekulativer Art (ausgehend zumal von der Trinität) mit einem heilsgeschichtlichen Ansatz (aus der biblischen Theologie genährt) verbinden. Dies führt zu einem Ausziehen des Ansatzes bei der Communio (und so entspricht es ja dem Zweiten Vatikanum) auch auf den Dialog mit moderner Kultur und mit jenen, die draußen stehen. Mehr als der ökumenische Dialog ist der Dialog mit der modernen Kultur und dem Atheismus in Italien brandaktuell. Hier aber führt [6] dieser Communioansatz dazu, nicht in These und Antithese zu verharren und allenfalls zu Synthesen zu kommen, sondern es geht um das hinhörende Entdecken der „Samenkörner des Wortes“ im anderen und um das Formulieren des Eigenen vom anderen her, ein Modell, das es nicht zu Synkretismus und Anpassung, wohl aber zu Ruf- und Reichweite zueinander kommen läßt, ohne daß dadurch bereits schnelle Harmonisierung geschehen wäre. Doch so wird zuallererst die Übersetzung der eigenen Tradition in die Welt von heute und in den Gedanken von heute ohne Aufgabe des eigenen Ursprungs möglich, die Nähe des Verstehens und des Zeugnisses wird aller erst erreicht. Ich frage mich: Ist bei uns in der Intensität, in welcher wir es dort erlebt haben, die Frage des Dialogs überhaupt angegangen? Sind wir auf die Begegnung mit einer auch bei uns anwachsenden Nichtchristlichlkeit hinreichend vorbereitet?